Frauen, die auf Giraffen starren

Starren Sie auch seit Wochen auf eine Giraffe, die nicht kalbt? Eine Giraffe am anderen Ende der Welt, die nicht kalbt? (Wieso „kalben“ Giraffen eigentlich und „giraffen“ nicht?). Nein, vermutlich tun Sie das nicht. Sie haben Besseres zu tun.

Ich hätte auch Besseres zu tun, keine Frage. Trotzdem schaue ich jeden Tag mehrmals bei „April the Giraffe“ rein. Also in ihren Webcam-Livestream bei Youtube. April selbst steht in einem Zoo, dem Animal Adventure Park, im Bundesstaat New York vor ihrer Kamera – und Menschen in Büros und Wohnzimmern auf der ganzen Welt glotzen ihr dabei zu. So wie ich.

april the giraffe
Manchmal bin ich sicher: April weiß, dass ich sie beobachte.

April the Giraffe ist fünfzehn Jahre alt und erwartet bereits ihr viertes Kalb. In dem Punkt gibt es Gewissheit. Was man nicht ganz so sicher weiß, ist, wann April the Giraffe trächtig geworden ist. 14 bis 15 Monate dauert es bei Giraffen von der Empfängnis bis zur Geburt, sagt Wikipedia. Wann genau der jugendliche Heißsporn Oliver (5 Jahre) aber seine Giraffen-Milf schwanger gemacht hat, sagt Wikipedia hingegen nicht.

Die Fachleute im Zoo einschließlich Tierarzt sind nun schon seit etwa fünf Wochen der Meinung, dass die Geburt des Giraffenkalbs mehr oder weniger unmittelbar bevorsteht. Seitdem steht der Livestream, die Giraffe hat eine eigene Website und der kleine Giftshop des Animal Adventure Parks hat große Mühe, den plötzlichen Tsunami von Bestellungen auch nur annähernd zu bewältigen. Bestimmt hatte sich der Zoo etwas Publicity davon versprochen, eine Webcam in den Stall zu stellen; ganz sicher hatte aber niemand damit gerechnet, so sehr in den Focus der Öffentlichkeit zu geraten, und die Beteiligten mussten erst – extrem eilig allerdings – lernen, wie sie diese Öffentlichkeit am besten nutzen. Das haben sie und für meine Begriffe auf sehr sympathische Weise.

Seit ein paar Tagen mehren sich nun noch mehr Anzeichen für eine sehr unmittelbar bevorstehende Giraffengeburt und noch mehr Menschen glotzen auf den Livestream. So wie ich. Die meiste Zeit sieht man einen gefleckten Hintern, aber manchmal auch ein wunderhübsches Giraffengesicht mit großen, dunklen Augen und samtigen Lippen. Hinter denen sich eine armlange, haarige Zunge verbirgt! Zwischen Gesicht und Hintern verbirgt sich ein inzwischen wirklich runder Babybauch, ebenfalls gefleckt natürlich.

Giraffen sind Nestflüchter und gebären normalerweise im Stehen. Was, wenn man gesehen hat, wie viel Mühe April hat, wenn sie sich mit ihrem dicken Bauch und ihren endlos langen Beinen gemütlich hinlegen will, vielleicht gar nicht so schlimm ist wie es sich im ersten Moment anhört. Nestflüchter heißt: Mutter und auch Kind sind so konzipiert, dass sie während der Geburt kein großes Theater machen, um am besten gar nicht erst irgendwelche hungrigen Raubtiere anzulocken. Außerdem sind sie schon kurz nach der Geburt bereit, die Flucht anzutreten, falls doch eine Gefahr drohen sollte. Das beinhaltet natürlich, dass Giraffenbabys – im Gegensatz zum Beispiel zu Katzen- und Hundebabys –  fix und fertig auf die Welt kommen: Sie fallen aus zwei bis drei Metern Höhe auf den Boden, werden kurz von ihrer Mutter abgeleckt und stehen dann zügig auf, um zum ersten Mal die mütterliche Milchbar aufzusuchen. Und danach sind sie im Prinzip bereit für den ersten Ausflug.

Ich würde die Geburt von Aprils Baby wirklich gerne sehen. Live und nicht nur als Aufzeichnung, die es hinterher mit Sicherheit auch geben wird. Nachdem ich der Giraffe fünf Wochen lang beim Nichtkalben zugesehen habe, ist der Wunsch doch wohl verständlich, oder?

In meiner Jugend wollte ich jahrelang unbedingt einmal sehen, wie ein Pferd sein Fohlen zur Welt bringt. Damals gab es ja noch keine Webcams, aber natürlich in jedem Stall einen fachkundigen Menschen, der die Anzeichen für eine baldige Geburt erkennen konnte. Der sagte dann: Heute kommt das Fohlen, aber ihr werdet die Geburt nicht sehen, denn die Stute verarscht euch! Und so war es auch. Immer. Ich habe mehrere Nächte im Stall verbracht oder neben dem Stall gezeltet oder zu Hause offiziell geschlafen, während ich in Wirklichkeit heimlich rausschlich, um noch mal kurz mit dem Rad zum Stall zu fahren. Immer fand ich eine völlig entspannte Stute mit Heu im Maul vor, die sich über meine Aufregung wunderte. Und beim nächsten Besuch zwei Stunden später stand oder lag dann ein allerliebstes und flauschiges Fohlen neben ihr im Stall, das in irgendeiner Schaltminute, in der niemand geguckt hatte, rausgeflutscht war. Die Stute grinste möglicherweise ein bisschen, aber das konnte man ihr natürlich weder beweisen noch übelnehmen.

Was ich gesehen habe und wobei ich sogar mitwirken „durfte“, war die Geburt von vier Kätzchen, zur Welt gebracht von meiner Katze Katzi. Ich war zwölf oder dreizehn und alles, was ich über Katzengeburten wusste, stammte aus einem Buch über Haustierkrankheiten, das ich auf irgendeinem Grabbeltisch gefunden hatte. Ich vermute, dass Katzi noch weniger über die Angelegenheit wusste, sie hatte ja auch ihre Schwangerschaft bis zuletzt geleugnet. Manchmal bedeutet „Miau!“ eben auch: „Ich kann gar nicht schwanger sein. Fritz hat gesagt, er passt auf und zieht ihn vorher raus!“

Fritz war Katzis offizieller Freund, ein wunderschöner Tigerkater, der ein paar Häuser weiter wohnte. Katzi war der typische hormongetriebene Teenager, dem man eigentlich noch gar keine Geschlechtsreife zutraute und der vermutlich beim ersten Mal schwanger geworden war, bevor irgendjemand die Chance gehabt hatte, sie richtig aufzuklären. Und nun saß sie da mit einem dicken Bauch und prallen Zitzen und hatte keine Ahnung, was los war.

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„Ich kann gar nicht schwanger sein. Mein Freund hat gesagt, er passt auf und zieht ihn rechtzeitig raus.“

Die Kätzchen wurden an einem Montagnachmittag geboren. Meine Eltern waren beide nicht da, ich hatte zunächst Besuch von zwei Schulfreundinnen und später kam mein Mathe-Nachhilfelehrer. Keiner der Anwesenden hatte jemals Geburtshilfe bei einer Katze geleistet und so guckten wir alle etwas blöd, als Katzi plötzlich jammernd vor mir stand und mir zeigte, dass unter ihrem Schwanz ein Stück Kätzchen aus der zuständigen Öffnung hing. Leider nicht das richtige Stück Kätzchen – auch diese werden idealerweise mit dem Kopf zuerst geboren – denn das Stück war deutlich ein kleiner Schwanz. Aus meinem Grabbeltischbuch wusste ich, dass ein Kätzchen in Steißlage ein Problem war und dass die Katze vermutlich Hilfe brauchen würde.

Ich rief in der Tierarztpraxis an, erreichte aber leider nur den alten versoffenen Tierarzt, der Kleintiere im Grunde nicht leiden konnte. Er hatte zwar den Doktortitel, die Praxis betrieb aber seine weitaus vernünftigere Ehefrau. Der alte versoffene Tierarzt nahm mich offensichtlich nicht für voll und sagte: „Lass die Katze in Ruhe, die schafft das alleine!“

Ich starrte Katzi an und Katzi starrte mich an. Panisch, mit schreck- und schmerzgeweiteten Augen. Wenn ich jemals eine Katze gesehen hatte, die nichts alleine schaffte, dann diese. „Hilf mir“, sagte ihr Blick. „Ich brauche dich.“

Ich konsultierte noch einmal mein Grabbeltischbuch, ließ mir von den ansonsten nutzlosen Freundinnen und dem Nachhilfelehrer Handtücher, heißes Wasser und eine Schere bringen und… rief noch einmal beim Tierarzt an. Der war weiterhin unfreundlich und abweisend. Das Kätzchen hing jetzt seit über einer Stunde fest und Katzi war, so kam es mir vor, ziemlich erschöpft.

„Bei der nächsten Wehe ziehe ich“, erklärte ich dem Tierarzt und meinen staunenden Zuschauern. „So geht es doch nicht weiter.“

Katzi, die sich normalerweise nur sehr ungern fest anfassen ließ, leistete keinerlei Widerstand, als ich bei ihrer nächsten Wehe das Schwänzchen unter ihrem Schwanz ergriff und sanft daran zog. Ich bin noch heute fest davon überzeugt, dass sie heilfroh war, dass endlich jemand aktiv wurde.

Erstaunlicherweise ließ sich das Kätzchen ohne große Mühe bei der nächsten Wehe rausziehen. Zum Glück sind Katzenbabys ja kleine Würstchen mit winzigkleinen Extremitäten. Bei einer Giraffe oder einem Pferd wäre so eine Aktion völlig unmöglich, da muss man bei einer Steißlage das Baby im Mutterleib umdrehen, sonst passt es nicht durch den Geburtskanal.

Katzi war offenbar zufrieden mit meiner Leistung, sie leckte meine Hand und das frischgeborene Kätzchen gleichermaßen ab. Dann wartete ich darauf, dass sie, wie in meinem Buch angekündigt, die Nabelschnur durchbiss. Ich las ihr die entsprechende Stelle sogar vor. Nichts. Sie war erledigt und hatte gleichzeitig wohl schon so eine dumpfe Ahnung, dass da, wo das Kätzchen eben hergekommen war, noch mehr Kätzchen darauf warteten, das Licht der Welt zu erblicken. Soweit man bei einem Kätzchen, dass ja die Augen erst etwa zwei Wochen nach der Geburt öffnet, diesen Ausdruck gebrauchen darf.

Ich schnitt die Nabelschnur mit der Schere durch, die ich vorsichtshalber ja schon hatte bereitlegen lassen. Und noch drei weitere. Die dazugehörigen Kätzchen lagen gottseidank richtigrum in der Gebärmutter und ließen sich von Katzi vorschriftsmäßig rauspressen. Zwischendurch noch vier Nachgeburten. Katzi wollte nichts davon wissen, diese zu essen.

Als gerade das zweite Kätzchen geschlüpft war, kam mein Vater nach Hause. Er warf nur einen Blick auf das Geschehen, murmelte „Ich muss weg!“ und verschwand ins Schlafzimmer. Vermutlich stand er kurz vor einem Ohnmachtsanfall. Da ich dafür nun wirklich nicht auch noch Zeit hatte, versuchte ich gar nicht erst, ihn aufzuhalten. Meine Mutter kam erst, als alle vier Kätzchen sauber geputzt, getränkt und zufrieden mit ihrer völlig erschöpften Mami im Körbchen lagen. Ich war ebenfalls völlig erschöpft und hätte mich am liebsten danebengelegt. Aber ich war auch sehr stolz auf Katzi und mich, die Teenagermutter und die Teenagertante.

So war das damals. Heute lebe ich mit zwei kastrierten Katzendamen zusammen, die noch dazu keine Gelegenheit haben, mit einem Liebhaber umstrittene völlig hirnrissige Verhütungsmethoden zu praktizieren. Ich komme nur noch selten in Pferdeställe und eine Giraffe habe ich schon seit Jahren nicht mehr leibhaftig gesehen. Aber: Ich steige noch immer ein auf solche Geschichten („Was mit Tieren“), wenn sie mir begegnen – und wenn ich einmal am Haken bin, lasse ich auch nicht wieder los. Ich werde auch weiterhin ständig auf mein Display glotzen, Tag und Nacht, bis April ihre kleine Babygiraffe zur Welt gebracht hat.

Wenn Sie also auf der Straße eine Frau sehen, deren grauer Ansatz mittlerweile fast alle anderen Haarfarben in die Flucht geschlagen hat und die, auf ihr Smartphone glotzend und „Los, April, press, du kannst es!“ murmelnd, gegen Laternen und geparkte Autos läuft, dann winken Sie mir doch einfach. Oder, wenn ich das, weil ich ja aufs Display glotze, nicht sehe, machen Sie ein Foto und twittern dies später. Deal? Deal.

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3 Kommentare

  1. Danke für diesen schönen Beitrag. Sie haben mich durch die April Tweets übrigens angesteckt und ich bin erstaunt, dass mir vorher nie aufgefallen ist, was für unglaublich weiche Nasen (Schnauzen? Nüstern?) Giraffen haben. Einen schönen Sonntag noch!

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