Mein Freund macht ja im Moment viele schöne Sachen. Zum Beispiel Gassigehen. Also, mit Hunden Gassi gehen. Mit Hunden aus dem Tierheim.
Ich finde das eine ganz tolle und unterstützenswerte Idee und wenn ich nicht so ein fauler Schlaffi wäre, mir als von Katzen sozialisierter Mensch von Hunden nicht immer auf der Nase rumtanzen ließe und insgesamt etwas über etwas mehr freie Zeit verfügen würde, dann hätte ich mich vielleicht auch zu der Schulung im Tierheim angemeldet. Die allerdings ohnehin zu einem Zeitpunkt stattfand, an dem ich noch im Büro sein musste.
Mein Freund aber, der als Kind schon mal einen Hund besaß und zeitlich sehr viel flexibler ist als ich, nahm erfolgreich an einer zweistündigen Einweisung in die Kunst des Gassigehens teil und darf nun, so oft er Lust hat, zu festgelegten Gassi-Zeiten am Tierheim einen Hund abholen und diesen anderthalb Stunden lang spazieren führen.
Das tat er dann erstmalig, und zwar in meiner Begleitung, am vorletzten Wochenende. Es war ein heißer Sonntag und vermutlich hätten wir, wenn wir nicht den schönen Plan gefasst hätten, mit einem Hund durch die Gegend zu laufen, einfach nur den ganzen Tag faul in der Gegend herumgelegen. So aber fuhren wir zum Tierheim und bekundeten unsere Bereitschaft. Da dies der erste Einsatz meines Freundes als Gassigeher war, bekam er einen sogenannten „Anfängerhund“ ausgehändigt: Einen etwa 60 cm hohen, schwarzbraunen Wuschelhund mit freundlichem Gesicht, der beim Vorführen einen völlig entspannten Eindruck machte und nicht, wie einige seiner Kollegen, laut kläffend seinen Gassigeher vom Hof zerrte. Was absolut nicht ins Bild passte, war allerdings der Maulkorb, den der „Anfängerhund“ trug.
Dieser, so wurde uns kurz, freundlich und entschieden erklärt, müsse auf jeden Fall draufbleiben. Der Hund sei lieb und freundlich zu Mensch und Tier – nur kleine flauschige Hunde sehe er manchmal als Beute an und da kleine flauschige Hunde hier in der Gegend gerne mal ohne Leine unterwegs seien, sei es ohne Maulkorb unmöglich, für ihre Sicherheit zu garantieren. Mein Freund solle bitte aufpassen, denn das Wuscheltier sei ausgebufft und werde unterwegs bestimmt versuchen, sich den Maulkorb abzustreifen. Ansonsten sei er völlig unkompliziert, er könne mit dem Maulkorb hecheln und auch trinken und mein Freund solle ihn ruhig im Wasser des kleinen Flüssleins baden lassen, an wir dem auf unserem Spaziergang gleich vorbeikommen würden.
Das Flüsslein war ein guter Tipp. Nicht nur konnten wir so unter Bäumen gemütlich im Schatten flanieren, sondern der Wuschelhund wurde tatsächlich vom Wasser magisch angezogen, marschierte – meinen Freund, der natürlich die Weisung, den Hund nicht abzuleinen, befolgte, hinter sich herziehend – unbeirrt über den Wanderweg hinweg, den kleinen Trampelpfad hinunter und direkt ins Wasser. Wo er sich dann – plumps! – einfach fallen ließ und sich dann offensichtlich genussvoll rechts und links von Wasser umspülen ließ.
Irgendwann hatte er sich dann genug abgekühlt, kam zurück ans Ufer und drehte völlig entspannt eine kleine Runde mit uns. Er zog nicht an der Leine, bellte keine Kollegen an, störte sich nicht an quietschenden Kindern oder Radfahrern und war überhaupt sehr cool (wir trafen unterwegs mehrere andere Gassigänger mit Tierheimhunden, die meisten hatten mit ihren Vierbeinern etwas mehr zu tun als mein Freund). Das einzige, worauf wir wirklich ständig aufpassen mussten, war, dass der Hund sich nicht den Maulkorb abstreift – das versuchte er mit Hilfe von menschlichen Beinen, parkenden Autos, Bäumen, Büschen, Gräsern und natürlich seinen Pfoten. Solange wir ihn aber in Bewegung hielten, war auch das völlig unproblematisch.
Als wir unseren Wuschelhund nach knapp anderthalb Stunden wieder im Tierheim abgaben, kamen wir ein bisschen mit der Gassi-Betreuerin ins Gespräch. Sie erzählte uns, dass der „Anfängerhund“, so hübsch und lieb wie er ist, mittlerweile als Notfall gilt, weil viele Interessenten wegen des Maulkorbs (und natürlich der diesen notwendig machenden Problematik) dann doch einen Rückzieher machten. Traurig, aber auch nachvollziehbar, denn es hat einen Vorfall gegeben, bei dem der freundliche Wuschelhund einen kleinen flauschigen Hund mitten im Spiel plötzlich gepackt und fast totgebissen hat. Offenbar hatte er sich – wie man es manchmal von Kampfhunden hört – festgebissen und wollte und wollte nicht loslassen. Nur dem mutigen Einsatz seines ehrenamtlichen Gassigängers ist es zu verdanken, dass der kleine Hund die Attacke schwer verletzt überlebt hat.
Seit diesem Vorfall – und ich bin sicher, dass die Hundemenschen im Tierheim sich gründlich mit dem Problem beschäftigt haben, um zu klären, ob es sich wirklich um eine grundsätzliche Problematik handelt oder vielleicht doch nur eine situationsbedingte Überreaktion auf irgendeinen Reiz stattgefunden hat – muss der arme Wuschelhund bei seinen Spaziergängen einen Maulkorb tragen. Um kleine flauschige Hunde und ihre Halter nicht in Gefahr zu bringen. Die Fachleute im Tierheim gehen davon aus, dass es sich um eine grundsätzliche Problematik handelt, die auch von fachkundigen Hundemenschen, die sich Unterstützung durch Hundetrainer und -psychologen holen, möglicherweise nicht aufgelöst werden kann. Vermittelt werden kann der Hund also nur an Menschen, die bereit sind, diese Verantwortung auf sich zu nehmen und gegebenenfalls eben lebenslänglich mit Maulkorb spazieren zu gehen.
Mein Freund und ich verließen das Tierheim etwas aufgewühlt und mit sehr gemischten Gefühlen. So ein netter Hund… aber eben doch ein wuscheliger Killer? Wer hätte das für möglich gehalten? Was macht man mit diesem Hund? Wer hat das Herz und die Nerven, so einen Hund zu adoptieren und sich der Situation, komme was wolle, zu stellen? Müsste es nicht doch möglich sein, den Hund „umzuprogrammieren“, so dass er kleinere Artgenossen in Ruhe lässt? Was ist mit Katzen? Mit kleinen flauschigen Kindern? Kann irgendjemand es wirklich ertragen, seinen Hund ein ganzes Hundeleben lang nur mit Maulkorb auszuführen?
Auf der Website des Tierheims wünscht man sich für den Problemwuschelhund „hundeerfahrene Menschen mit einem ebenerdigen Zuhause und optimalerweise einem großen eingezäunten Garten“. Möglicherweise, so denke ich, ist Hamburg dafür nicht das ideale Pflaster; hier werden doch mehr „Stadthunde“ vermittelt, und große eingezäunte Gärten sind eher rar. Aber vielleicht gibt es ja doch die richtigen Menschen für diesen Hund und wenn es sie denn gibt, dann werden sie hoffentlich die richtigen Lösungen für ihr Zusammenleben mit dem Wuschelhund finden. Das würde ich mir für alle Beteiligten sehr wünschen.
Meinen Freund hat diese erste Gassi-Erfahrung noch mehr aufgewühlt als mich und hat ein paar Tage gebraucht, bis er Lust auf eine Wiederholung hatte. Gestern Morgen aber, als ich gerade angefangen hatte, diesen Blogpost zu schreiben, kündigte er einen weiteren Gassigang an. Etwas später, ich ging gerade zum Sport, schickte er dann Fotos von einem kleinen schwarzen Hund. Als ich dann nach dem Sport mein Smartphone wieder in Betrieb nahm, teilte er mir allerdings mit, er sei jetzt in einem „Pfötchencafé“ gelandet und warte auf jemandem, der ihm Katzen zeigen könne! Katzen? Katzen? Mir schwante Fürchterliches – natürlich wünscht mein Freund sich wieder eigene Katzen, ich verstehe das gut, aber seine Lebenssituation zwischen zwei Städten lässt das im Moment eigentlich nicht zu.
Ich war sehr erleichtert, als mein Freund dann eine Weile später ohne frischadoptierte Haustiere, welcher Art auch immer, bei mir aufschlug. Heute wollen wir nun wieder zusammen einen Hund ausführen. Das geht sonntags, auch wenn das Tierheim ansonsten geschlossen hat. Was vielleicht ganz gut ist, weil man dann nicht spontan eine Katze mitnehmen kann. Hoffe ich wenigstens. Halten Sie uns die Daumen!
Ganz bewusst habe ich jetzt keinen Link zum Vermittlungsprofil des Wuschelhundes angegeben. Ich fürchte, dass in diesem Fall ein großflächiges Teilen und Verbreiten sich als eher kontraproduktiv erweisen könnte. Falls Sie aber jemanden kennen, der jemanden kennt, der vielleicht einen großen, sicheren Garten, ein noch größeres Herz und keine Nachbarn mit kleinen Hunden hat, dann leite ich natürlich gerne alle Daten an Sie weiter.
Traurig. Das erinnert mich an einen inzwischen verstorbenen Nachbarn, einen erfahrenen Hundehalter, der die Verantwortung auf sich nahm, einen durch Misshandlung bissig gewordenen Hund zu „resozialisieren“, als letzten Versuch, bevor dieser eingeschläfert werden sollte. Der Hund sei draußen grundsätzlich aggressiv und gefährlich gewesen, im Haus jedoch zeitweise lieb und verschmust. Irgendwann jedoch griff er meinen Nachbarn an und verletzte ihn schwer. Der Nachbar, aber auch das Tierheim, sahen die Situation als auf Dauer zu riskant an.