In meiner Erinnerung beginnt nach dem Geburtstag meines Vaters eine Zeit der Entspannung. Sein Befinden verbesserte sich deutlich, er entwickelte wieder ein bisschen Lebensfreude, Selbständigkeit und auch Tatendrang. Er las Bücher, hörte Musik und hoffte, bald wieder an den Proben und vielleicht sogar Konzerten seiner verschiedenen Chöre teilnehmen zu können. Auch seine Sozialkontakte, die er im letzten halben Jahr kaum hatte zulassen können, lebten wieder auf. Er traf häufig Freunde und Exkollegen, ging spazieren und bekam so sogar wieder ein bisschen Kondition.
Für meine Mutter und den Rest der Familie bedeutete dies ein bisschen die Rückkehr zur Normalität. Natürlich auf Zeit, das war uns allen klar, aber immerhin: Wir konnten uns mal wieder ohne schlechtes Gewissen mit anderen Dingen beschäftigen und uns um unseren eigenen Kram kümmern.
Ich merkte, je dunkler die Jahreszeit wurde, immer deutlicher, dass mir die Erholung im Sommerurlaub fehlte. Ich arbeite an einem Opernhaus, im sogenannten Künstlerischen Betrieb. Das ist zum größten Teil ein Bürojob, hat aber die unangenehme Begleiterscheinung, dass ich meinen gesamten Jahresurlaub in den Betriebsferien, die bei uns Sommerpause heißen, nehmen muss. Das heißt auch, dass ich null Gelegenheit habe, zwischen Ende August und Mitte Juli auch nur eine einzelne Woche freizubekommen. Wenn ich also meinen Sommerurlaub für etwas anderes als Erholung verwende, dann dauert es verdammt lange, bis ich wieder eine Gelegenheit habe. Ich fühlte mich auch wirklich ziemlich erschöpft nach den letzten Monaten, musste aber nun das Beste daraus machen.
Zum Glück fand mein Vater es völlig in Ordnung, dass wir uns nun auch mal wieder mit anderen Angelegenheiten befassen wollten als mit seiner Gesundheit. Es war ihm sogar sehr lieb. Trotzdem versuchten wir natürlich, ihn aus dem Augenwinkel immer im Blick zu behalten und einzuschätzen, ob es ihm wirklich so einigermaßen gut ging, wie er sagte. Mein Freund, der regelmäßig auch ohne mich zu meinen Eltern fuhr, um z. B. im Garten zu helfen, erzählte mir immer, dass es schwer war, meinen Vater davon abzuhalten, körperlich anstrengende und gefährliche Sachen selbst machen zu wollen. Und obwohl mein Freund stets bereit war, zu kommen und mit anzufassen, konnte mein Vater seine langjährige Do-it-yourself-Vergangenheit nicht abschütteln und übernahm sich regelmäßig bei Tätigkeiten rund um Haus und Garten.
Weil er es nicht schaffte, so viel zu essen, dass er an Gewicht hätte zulegen können, blieb mein Vater extrem dünn. Mit seinem knochigen Hintern konnte er nie lange auf demselben Stuhl oder Sessel sitzen und wanderte zwischen verschiedenen Sitzmöbeln hin und her. Auch nachts wechselte er mehrmals zwischen seinem Bett und einem in alle Richtungen verstellbaren, sauteuren Ledersessel, den er selbst gekauft und nach Hause geschleppt hatte (seitdem hatte er natürlich Rücken).
Wir hatten erst ziemlich viel Angst, dass er sich bei einem seiner kleinen Stürze ernsthaft wehtun oder total überanstrengen würde. Vor allem meine Mutter hatte es schwer und es dauerte eine Weile, bis sie, wenn mein Vater nicht zu Hause war, nicht mehr bei jedem Telefonklingeln befürchtete, dass da gerade ein Krankenhaus anrief, um ihr mitzuteilen, dass er nach einem Sturz eingeliefert oder soeben aus Erschöpfung verstorben sei. Uns wurde aber ziemlich schnell klar, dass mein Vater dieses Risiko halbwegs bewusst einging. Er wollte leben und Dinge erledigen und Spaß haben – ob er sich damit nun etwas schneller zugrunde richtete als unbedingt nötig, war ihm vollkommen egal.
Die chemofreie Zeit, die gegen Weihnachten 2014 begann, verlieh ihm weiteren Auftrieb. Von den Ärzten, die ihm nach einer weiteren großen Untersuchung mitteilten, auch seine Leber habe sich durch die Chemo soweit erholt, dass man über eine Operation nachdenken könnte, wollte er gar nichts wissen. Der Gedanke, sich wieder ins Krankenhaus zu begeben, sich auf eine OP mit ungewissem Ausgang einzulassen und hinterher energiemäßig vielleicht wieder viel schlechter dran zu sein als jetzt gerade, wirkte so gar nicht verlockend auf ihn. Meine Mutter und ich waren da ganz seiner Meinung und konnten mit seiner dankenden Ablehnung gut leben. Mein Bruder, der mehr von der Schulmedizin überzeugt ist als der Rest der Familie, tat sich da etwas schwerer. Er musste sich dann aber damit abfinden, in diesem Punkt bei meinem Vater auf Granit zu beißen.
Die Wochen vergingen schnell. Irgendwann überzeugten die Onkologen meinen Vater davon, die Chemotherapie wieder aufzunehmen… seine Werte verschlechterten sich nämlich langsam und beständig und die Untersuchungen ergaben erneutes Wachstum von… tja, ich habe keine Ahnung. Metastasen, vermutlich. Wo auch immer. Mein Vater mochte das nicht so dezidiert erzählen und meine Mutter, die ihn nach wie vor zu allein Untersuchungen begleitete, mochte entweder auch nicht oder konnte sich schon wenige Stunden an einem Arztgespräch nicht mehr so genau erinnern, was da eigentlich genau besprochen worden war. Oftmals hatte sie auch wieder den Kampf gegen ihre Hörgeräte verloren und deshalb genau den wesentlichen Teil einer Diagnose verpasst.
Ich bin eigentlich sicher, dass mein Vater mir auch die Details erzählt hätte, wenn ich ihn konkret danach gefragt hätte. Ich tat es aber nicht. Weniger aus Unsicherheit und Angst (die natürlich auch da waren, aber nicht dominierten) als aus dem Gefühl heraus, dass es ihm nicht half und er es nicht brauchte, mehr als nötig über die Entwicklung seines Krebses bzw. der Metastasen zu sprechen. Sie waren eben da, sie würden ihn auf Dauer umbringen, er versuchte, aus seinem Leben das Beste zu machen. Bums, fertig. Ich merkte, dass ich damit leben konnte und nicht für mein Seelenheil jede Einzelheit über den Verlauf der Krankheit wissen musste. Also fragte ich ihn, wann immer wir uns sahen, nach seinem Befinden und dem Stand der Behandlung, hörte mir seine Antworten an, reagierte nach Möglichkeit nicht zu emotional darauf und ließ ihn bestimmen, wann wir uns einem anderen Thema zuwandten.
Was ich auf keinen Fall wollte, war, meinen Vater in die Situation zu bringen, mich trösten zu müssen, weil es ihm schlecht ging. Mein Plan war: Wenn er sich irgendwann entscheiden sollte, Ängste, Unsicherheiten und Schmerz mit mir zu teilen, würde es um ihn gehen und nicht um das, was seine Krankheit in mir auslöste. Er hatte sein Leben lang mit meiner Emotionalität nicht viel anfangen können, mein Denken und Handeln selten verstanden und sich – nach langen und für uns beide schwierigen Jahren und Jahrzehnten – irgendwann entschlossen, mich trotzdem ohne Einschränkung zu lieben. Auch wenn er oft keine Ahnung hatte, was mich bewegte und worum es mir bei einer Auseinandersetzung möglicherweise ging. In den letzten Jahren hatten wir es ganz gut hingekriegt, freundlich und liebevoll miteinander umzugehen, ohne uns gegenseitig emotional allzu sehr zu fordern, und mein gesunder Menschenverstand sagte mir, dass das jetzt nicht unbedingt die Situation war, in der ich wieder damit anfangen sollte, ihn mit heftigen Gefühlsausbrüchen zu konfrontieren. Ich war gesund, ich war erwachsen, mir ging es gut. Es ging hier nicht um mich.
Meiner Mutter gegenüber öffnete mein Vater sich natürlich in anderer Weise. Erstens ist sie seine Frau und zweitens ausgebildete Therapeutin. Die beiden lebten ja miteinander in ihrem sich nun täglich verändernden Mikrokosmos einer fünfzigjährigen Ehe und mein Vater wusste die Gesprächsangebote meiner Mutter, die ihm früher oft auf die Nerven gegangen waren, auch zunehmend zu schätzen. Trotzdem blieb auch zwischen den beiden einiges ungesagt, wie ich oft den Gesprächen mit meiner Mutter entnahm.
Meine Mutter hatte sich zum Beispiel vorgenommen, meinen Vater nach Möglichkeit zu Hause sterben zu lassen. Wann und wie das genau vonstattengehen würde, wusste ja noch niemand, aber irgendwo zwischen Bewusstsein und darunterliegenden Schichten hatte sich als Handlungsanweisung bei ihr festgesetzt, meinem Vater unbedingt weitere Krankenhausaufenthalte zu ersparen. Dass sich da auch viel ihrer eigenen Furcht und Abneigung einen Weg an die Oberfläche bahnte, war ihr möglicherweise gar nicht so klar. Natürlich hasste mein Vater Krankenhäuser – wie wohl die meisten von uns. Wir wollen lieber gesund sein als krank – und wenn wir schon krank sein müssen, dann wollen wir in Ruhe gelassen werden und nicht irgendeine Krankenhausroutine mitmachen müssen. Das heißt aber nicht, dass wir es nicht möglicherweise genauso oder noch mehr hassen, an einem anderen Ort schwerkrank und pflegebedürftig zu sein… und von überforderten Angehörigen versorgt zu werden… Ich war mir keineswegs sicher, dass es wirklich der Wunsch meines Vaters sein würde, einfach so lange röchelnd zu Hause rumzuliegen, bis der Sensenmann dann irgendwann wirklich in der Tür stand.
Meine Mutter machte sich, je weiter sich der Zustand meines Vaters wieder verschlechterte, natürlich Gedanken darüber, wie es weitergehen und irgendwann enden würde… und was sie tun sollte oder auch nicht. Ich sagte: „Folge deinem Gefühl. Und wenn du dich überfordert fühlst oder nicht weißt, was da eigentlich passiert, dann holst du Hilfe. Ruf die 112 an und dann mich. Jederzeit, egal wie spät. Du bist nicht allein!“
So gingen die Tage ins Land. Mein Vater lebte mit aller Kraft, die ihm noch zur Verfügung stand. Das wurde täglich beschwerlicher und gefährlicher. Er benutzte zwar einen Gehstock, wollte aber keinen Rollator. Ab und zu stürzte er, zu Hause oder unterwegs, kam aber immer ohne ernsthafte Verletzungen davon. Gelegentlich musste er sich übergeben, wo er ging und stand, und manchmal erreichte er Höchstgeschwindigkeiten, um die nächstgelegene Toilette zu erreichen (und nicht immer reichte die Höchstgeschwindigkeit aus). Und immer häufiger gab es Tage, an denen er zu Hause blieb, weil er einfach zu erschöpft war, um sich auf irgendwelche Unternehmungen einzulassen.
Am 12. Juli hatte mein Freund Geburtstag und meine Eltern kamen ihn und mich in der „neuen“ Wohnung, die mein Freund nun auch schon seit einem Jahr bewohnte, besuchen. Die hatte mein Vater nämlich noch gar nicht gesehen. Ich hatte Kuchen gebacken und mein Freund holte meine Eltern mit dem Auto von der S-Bahn ab, damit mein Vater nicht so weit laufen musste. Ein sehr netter Nachmittag und der letzte größere Ausflug meines Vaters. Zwei Wochen später ereignete sich dann das, was meine Mutter noch heute als den „Super-Gau“ bezeichnet.
.
So ähnlich war es auch, als mein Vater sich aufs Sterben vorbereitete.