Engel (nicht esoterisch) und Wünsche an das Universum

Mein Vater lebte jetzt seit gut drei Wochen auf der Palliativstation und es war kein Ende irgendeiner Art in Sicht. Sein gesundheitlicher Zustand war, abgesehen von den beiden offenen Füßen, stabil, sein Befinden, abgesehen von seiner immer schwerer zu kontrollierenden Unruhe, eigentlich ganz gut. Und in den beiden Hospizen, bei denen er auf der Warteliste stand, wollte offenbar keiner sterben. Oder es gab noch dringendere Fälle als meinen Vater.

Ein Ende in Sicht war allerdings bei meinem Urlaub, ebenso wie bei meinem Bruder. Wir beide arbeiten in Jobs, in denen wir unsere Urlaubszeiten nicht frei wählen können, bei meinem Bruder richtet sich alles nach dem Schuljahr und bei mir nach der Theaterspielzeit. Und für uns beide war der Stichtag, an dem wir wieder ans Werk mussten, der letzte Donnerstag im August. Am Montag dieser letzten, nicht mehr ganz vollständigen Urlaubswoche setzte auch bei mir langsam Nervosität ein.

Wie sollten wir das alles gewuppt kriegen, wenn wir wieder anfingen zu arbeiten und mein Vater noch immer in diesem hübschen Krankenhaus am Stadtrand lag und die Reisezeit aus der Innenstadt ungefähr eine Stunde betrug? Niemand wusste, wie lange mein Vater noch leben würde und wie sein Sterben, wenn es dann wirklich daran ging, sich genau gestalten würde. Die Möglichkeit, dass alles noch zeitintensiver und anstrengender würde, bestand ja durchaus. Wir wollten ihm und meiner Mutter und uns gegenseitig natürlich beistehen, so gut es ging, aber wir hatten beide auch sonst ein erfülltes und vor allem beschäftigtes Leben. Und nicht gerade die optimale Urlaubserholung hinter uns.

Immerhin, und das war eine Riesenerleichterung, hatte das Team der Palliativstation, das meinen Vater und uns sehr ins Herz geschlossen hatte, sich mittlerweile zu der verbindlichen Zusage hinreißen lassen, dass mein Vater so lange bleiben dürfe, bis ein Platz im Hospiz frei würde. Die Palliativ-Fachleute hatten sich nun offiziell darauf verständigt, dass die Ängste und Unruhezustände meines Vaters als Grund für einen weiteren Verbleib auf der Station ausreichten. Und das ohne obere Grenzverweildauer. Zum Glück. Wo hätte er denn sonst hingehen sollen? Zu Hause hätte es keine zehn Minuten bis zum ersten Unfall gedauert und in einer Kurzzeitpflegeeinrichtung hätte man sicher vor allem versucht, ihn irgendwie in seinem Zimmer oder gar in seinem Bett zu halten. Ich hatte ihn schon vor meinem geistigen Auge gesehen, wie er, das Bett, an das man ihn gefesselt hatte, hinter sich herziehend, mit dem Rollator durch die Gänge schob.

Trotzdem saßen wir an meinem letzten Urlaubsmontag etwas besorgt beieinander, mein Vater und ich. Es hatte gerade Mittagessen gegeben, d. h. der Vormittag war auch schon so gut wie rum und noch immer hatte kein Telefon geklingelt, um von einem endlich freigewordenen Hospizplatz zu künden. Mein Vater wusste, dass mein Bruder und ich uns Sorgen darüber machten, wie wir es ab Ende der Woche hinkriegen sollten, meinen Vater mehr oder weniger täglich zu besuchen, und so machte auch er sich Sorgen. Schließlich waren unsere Besuche ihm lieb und teuer.

„Was sollen wir denn nun machen?“ fragte mein Vater ein bisschen verzweifelt. „Ich will ja niemandem im Hospiz wünschen, dass er bald stirbt. Jedenfalls nicht, wenn er das noch nicht will. Aber vielleicht gibt es ja auch jemanden, der schon längst dazu bereit ist und dem man das wünschen darf?“

„Ich weiß nicht“, erwiderte ich. „Das fühlt sich auf jeden Fall komisch an, oder? Aber vielleicht ist jetzt der Moment für etwas Esoterik gekommen!“

„Wie bitte?“ Mein Vater hatte ungefähr so viel Sinn für Esoterik wie der Stuhl, auf dem ich saß. Oder wie ich.

„Lass uns einen Wunsch an das Universum schicken!“ schlug ich vor. „Wir wissen doch von Mama, wie das geht. Und dass es manchmal funktioniert.“

„Hm“, meinte mein Vater, „warum nicht. Kann ja wohl nicht schaden.“

Wir traten ans Fenster und schauten in den Himmel. Der Himmel tat so, als seien wir gar nicht da. Aber Himmel und Universum sind ja auch nicht ganz dasselbe.

„Liebes Universum“, fing ich an, „bitte bring uns so schnell wie möglich einen Hospizplatz für Papilein beziehungsweise die Nachricht, dass ein Platz für ihn freigeworden ist!“

„Genau, liebes Universum“, fuhr mein Vater fort, „ich möchte wirklich sehr bald ins Hospiz umziehen. Bitte sorg doch dafür, dass das möglich wird!“

„Ausgezeichnet!“ lobte ich. „Und jetzt müssen wir dran glauben. Ganz fest. Los.“

Wir starrten beide weiter in den Himmel und die Landschaft und auf das grauweiße Kaninchen, das sich vor dem Fenster auf dem Rasen sonnte. Und wünschten und glaubten und wünschten und glaubten. Dann nickten wir uns bedeutungsschwanger zu und setzten uns wieder hin.

Ein paar Minuten später, mein Vater nestelte gerade an seinem feuchten Fußverband herum und ich kämpfte gegen die Müdigkeit, hörte durch die offene Tür Stimmen im Gang, vermutlich vor dem Schwesternzimmer.

„Ja, im Helenenstift. Erste Wahl wäre zwar das Leuchtfeuer, aber wenn in der Helene eher was frei ist…“

Helenenstift! Leuchtfeuer! Das waren die beiden Hospize, bei denen mein Vater auf der Warteliste stand!

Ich sah zu meinem Vater herüber. Der war mit seinen Füßen beschäftigt und hatte nichts mitgekriegt. Ich warf vom Sessel aus einen Blick in den Himmel, bekräftigte noch einmal unseren Wunsch und hielt die Luft an.

Zum Glück kam schon kurz darauf, ich war auch erst ein bisschen blau im Gesicht, die Stationsschwester ins Zimmer, um uns die frohe Nachricht zu überbringen, dass das Hamburger Hospiz im Helenenstift meinem Vater in der Tat einen Platz, frei ab morgen, angeboten hatte.

Mein Vater und ich warfen uns leicht überraschte, gleichwohl begeisterte Blicke zu und fingen an zu lachen. Möglicherweise wurde auch die eine oder andere Siegesfaust ins Universum gereckt. Die Schwester freute sich sehr, dass wir uns freuten, und erklärte uns dann, dass wir uns um nichts kümmern mussten und einfach am nächsten Tag um 15 Uhr reisefertig sein sollten.

Es war unglaublich schön und anrührend, wie schnell sich die lang erhoffte gute Nachricht auf der Station herumsprach. Während ich noch meine Mutter, meinen Bruder und meinen Freund über die neuen Entwicklungen informierte und besprach, wer am nächsten Tag wann wo sein sollte, kamen Ärzte, Schwestern, Psychologinnen und eventuell auch noch das Kaninchen vorbei, um meinem Vater zu sagen, dass sie sich für ihn freuten. Und um anzukündigen, dass sie sich natürlich am nächsten Tag noch richtig von ihm verabschieden würden! Er solle ja nicht vorher gehen.

Ich blieb an diesem Nachmittag nicht sehr lange, denn ich hatte von meinem Vater noch den Auftrag erhalten, am nächsten Vormittag für das Palliativteam nicht nur massenweise Süßigkeiten, sondern auch noch eine seiner Grafiken, den „Duz-Engel“, mitzubringen. Den hatte ich mir zum Glück schon bei meinem letzten Besuch im Haus meiner Eltern ausgedruckt, aber nun musste ich auch noch einen Rahmen besorgen. Und eben mehrere Kilo Schokolade. Auf der Rückfahrt war mir fast ein bisschen wehmütig zumute. Ich freute mich zwar sehr über den Umzug ins Hospiz, aber nach vier Wochen fast täglicher Besuche im Krankenhaus war eben auch die Palliativstation eine Art Heimat geworden. Und am nächsten Tag würde ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln nur noch dort hinfahren, für die Fahrt zurück in die Stadt hatten wir ja einen Krankentransport bestellt.

Am nächsten Morgen, es war Dienstag, der 25. August 2015, war das Wetter unbeständig und die Temperatur nicht gerade sommerlich. Worüber ich angesichts der drei Kilo Schokolade in meinem Gepäck ganz froh war. Mein Vater war natürlich schon ganz ungeduldig, als ich bei ihm ankam, zum Glück war es schon fast Mittagessenszeit. Wir schrieben zusammen die Dankeskarte an das Stationsteam und beschlossen, unsere Geschenke um 14 Uhr, wenn die Früh- und die Spätschicht sich trafen und ihre Übergabe machten, im Schwesternzimmer vorbeizubringen. Unser Plan, vorher noch eine große Abschiedsrunde über das Krankenhausgelände zu drehen, ließ sich bei dem Wetter leider nicht verwirklichen, jedes Mal, wenn wir im Freien waren, trieb uns ein leichter Schauer wieder zurück nach drinnen.

Beim Mittagessen in der Wohnküche verabschiedete sich mein Vater von den anderen Bewohnern der Station, während ich eine jungen Frau, die ich zum ersten Mal sah und die offenbar so starke Medikamente bekam, dass sie kaum ihre Gabel halten konnte, mit Königsberger Klopsen fütterte. Das hatte sich einfach so ergeben und kam mir zu meiner eigenen Überraschung ganz normal vor. Ich blieb sogar noch sitzen, um der langsam mümmelnden Frau ihre Klopse in Ruhe anzureichen, während mein Vater schon mit dem Essen fertig war und wieder seiner Unruhe nachgab. In diesem Moment, in dem ich mich von allen „Oh Gott, die Frau ist jünger als du, was mag sie wohl haben und stirbt sie vielleicht bald?“-Gedanken ganz leicht freimachen konnte und mich nur fragte: „Kann ich ihr helfen? Ja, kann ich!“ blitzte in mir übrigens zum ersten Mal der Gedanke auf, dass ich mir vielleicht ganz gut eine ehrenamtliche Tätigkeit in diesem Bereich vorstellen könnte.

duzengel klein

Die Mitarbeiter der Station freuten sich sehr über unser Abschiedsgeschenk. Über die Schokolade natürlich sowieso, aber auch über das hübsch gerahmte Bild des „Duz-Engels“. Der aber auch wirklich – und ich mag ganz bestimmt nicht alle Grafiken meines Vaters – einen ganz speziellen Charme hat*. Mit ziemlicher Verspätung und sehr vielen guten Wünschen im Gepäck verließen wir dann später, natürlich bei strömendem Regen, die Palliativstation des Rissener Krankenhauses und nahmen Kurs auf die nächste und für meinen Vater letzte Station, das Hamburger Hospiz im Helenenstift.

 

* Der „Duz-Engel“ entstammt einer losen Serie von Grafiken, die ihr Unwesen im Wesentlichen mit Sprichwörtern und Redewendungen betreiben. Nun ist ein „Erzengel“ (von dem der Duzengel abgeleitet ist) natürlich weder das eine noch das andere, aber aus einem solchen gestrengen Himmelsboten ganz familiär einen weitaus weniger furchteinflößenden und greifbaren Duzengel zu machen, ist absolut typisch für die Sprach- und Bildbehandlung meines Vaters. Er bekommt übrigens im Herbst eine kleine Ausstellung in der Volkshochschule seines Wohnortes Halstenbek (bei Hamburg) und wir tun gerade unser möglichstes, um das Wort „Wortspielhölle“ im Titel durchzusetzen. Denn selten wurde es dringender gebraucht…

 

 

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