Schon ganz zu Beginn der Zeit auf der Palliativstation hatte ich ein Gespräch über alles mögliche mit einer der Schwestern. Sie erzählte mir, dass manche Patienten fast unüberwindliche Schwierigkeiten hatten, das Leben loszulassen, egal wie schlecht es ihnen ging, so dass sie schließlich irgendeinen äußeren Anlass brauchten, um endlich den Weg auf die andere Seite antreten zu können. Das könne ein positives Erlebnis sein wie z. B. der Besuch einer bestimmten Person, die Auflösung eines Konflikts, die Fertigstellung eines Projekts oder auch, nicht ganz so positiv, ein Umzug oder eine Verlegung. Oder auch ein Unfall. Ich fand das sehr interessant, dachte aber – naiv, wie ich damals noch war! – das das Loslassen sicher nicht das Problem meines Vaters sein würde. Tja.
Viele Besuche hatte mein Vater ja gehabt, natürlich nur von besonderen Personen. Alle Konflikte und Projekte waren auch erledigt. Umgezogen, ins Hospiz, war er auch. Nur beruhigt hatte er sich noch immer nicht. Blieb also der Unfall. Und genau der brachte es auch.
Bevor ich aber darüber schreibe, möchte ich gerne noch kurz aus meinem Leben berichten: Diese Woche war ich nämlich beim Gastroenterologen zur Darmspiegelung. Ich bin zwar noch keine fünfundfünzig, aber bei familiärer Vorbelastung übernimmt die Krankenkasse die Kosten für diese Vorsorge-/Früherkennungsmaßnahme auch schon in jüngeren Jahren. Und durch meinen Vater bin ich ja nun hinlänglich familiär vorbelastet.
Die Untersuchung fand ich – auch ohne die angebotene kleine Narkose – gar nicht schlimm. Das Beste ist aber, dass mein Darm (und ich habe ihn, weil ich während der Untersuchung ja nicht schlief, selbst live und in Farbe auf dem Monitor gesehen) wunderwunderschön ist – und frei von allem, was auf einen drohenden oder gar sich entwickelnden Darmkrebs schließen ließ. Puh. Nicht, dass ich ernsthaft in Sorge gewesen wäre, aber ein bisschen Gedanken machen sich rund um so eine Krebsfrüherkennungsmaßnahme wohl die meisten Menschen. So auch ich:
Darmkrebs braucht im Durchschnitt wohl so 10 bis 15 Jahre zur Entwicklung, also von einer chronischen Entzündung oder einem kleinen Polypen bis zum bösartigen Tumor. Die Vorstufen dieser Phase lassen sich im Allgemeinen gut und schonend behandeln, Polypen zum Beispiel können gleich während der Darmspiegelung schmerzlos entfernt werden. Werden sie nicht entfernt, heißt das nicht automatisch, dass sie sich in einen bösartigen Tumor verwandeln. Falls sie das aber tun und nicht bei einer Früherkennungsmaßnahme entdeckt werden, lebt man damit möglicherweise eine ganze Weile, bevor man durch auffällige Symptome zum Arzt getrieben wird.
Mein Vater hat in seinem Leben nur selten Ärzte gebraucht und zur Vorsorge oder zum Check-up zu gehen, wäre ihm wohl nie in den Sinn gekommen. Er war ja eigentlich immer ein kerngesunder Mensch gewesen und alle Beschwerden der letzten Jahre schob er, ohne groß darüber zu reden, auf das Alter an sich oder eine zu spät behandelte Borreliose. Als sein Darmkrebs endlich entdeckt wurde, war er schon in einem sehr fortgeschrittenen Stadium, hatte metastasiert und meinen Vater unübersehbar krank (schlapp, gelbgesichtig und kurzatmig) gemacht.
Möglicherweise hat mein Vater vorher schön jahrelang mit seinem unentdeckten Tumor gelebt. Nur mal angenommen, es wären fünf Jahre gewesen (bei alten Menschen wachsen die Zellen, egal ob gut- oder bösartig, ja angeblich nicht mehr so schnell). Dann wäre mein Vater etwa sechzig gewesen, als die ersten Vorstufen im Darm sichtbar wurden. Ich bin jetzt zweiundfünfzig und darf aufgrund meiner familiären Disposition in fünf Jahren wieder zur Darmspiegelung. Die hoffentlich wieder nichts ergeben wird. Die ich aber ganz sicher wahrnehmen werde. Die keine Garantie für irgendwas ist, aber nach allem, was ich bei meinem Vater miterlebt habe, käme ich mir einfach blöd, feige und weltfremd vor, wenn ich von meinem Anspruch auf Früherkennungsmaßnahmen keinen Gebrauch machen würde.
Ob mein Vater es jemals bereut hat, nicht früher zum Arzt gegangen zu sein, weiß ich nicht. Gesprochen, gejammert oder gehadert hat er darüber jedenfalls nie. Er hat auf seine Weise mit seiner Krankheit gelebt – vor allem indem er sie so lange wie möglich ignoriert hat. Eine andere Art, mit ihr umzugehen, kam für ihn mit seiner Persönlichkeitsstruktur nicht in Frage. Ich kann das akzeptieren und bei ihm lassen, auch wenn ich selbst anders mit mir, meinem Körper und möglichen Krankheiten umgehen möchte.
In den letzten Tagen seines Lebens jammerte mein Vater durchaus. Nicht über die Dinge an sich, aber über die Beschwerlichkeit dessen, was von seinem Alltag übriggeblieben war. Er war unfassbar erschöpft und kam doch nicht zur Ruhe. Er fühlte sich nicht mehr zugehörig zu dieser Welt, aber der Sog des Jenseitigen, den er durchaus spürte, war auch noch nicht so stark, dass er sich endgültig vom Diesseits hätte befreien können. Er freute sich nach wie vor über die Besuche von Familienmitgliedern und engen Freunden, wusste aber eigentlich nichts mehr mit uns anzufangen. Allein mochte er aber auch nicht sein.
Ich bewunderte die Kraft und die Bereitschaft der verschiedenen Besucher, meinen Vater auch in dieser Phase seines Lebens nicht zu verlassen. Niemand, der sich in seinen Kalender eingetragen hatte, machte einen Rückzieher, auch wenn die Wahrscheinlichkeit groß war und weiterhin zunahm, meinen Vater in einem überreizten und unleidlichen Zustand anzutreffen. Jeder fand irgendwie für sich einen Weg, sich den ständig wechselnden Anforderungen zu stellen und für meinen Vater da zu sein, so gut es eben ging.
Nach einigen sehr schwierigen Tagen passierte dann unweigerlich das, was wir schon die ganze Zeit befürchtet und erwartet hatten: Mein Vater fiel nachts beim Aufstehen und Rumgeistern hin und verletzte sich an der Hüfte. Er war vorher natürlich schon unzählige Male gestürzt, bisher aber immer ohne größere Folgen. Nun tat ihm die Hüfte weh, er konnte den Schmerz aber nicht genau beschreiben. Als ich abends zu ihm kam, ließ wohl gerade die Wirkung der Schmerztablette, die er bekommen hatte, nach. Wie ich nur nach und nach begriff, konnte er sich nicht schmerzfrei bewegen, trotzdem war es ihm nach wie vor nicht möglich, ruhig zu sitzen oder zu liegen. Er stemmte sich ständig aus seinem Sessel oder dem Rollstuhl oder vom Bett hoch, richtete sich mühsam auf, stand dann eine Weile planlos herum und setzte sich schließlich frustriert wieder hin.
Mein Freund und ich versuchten herauszufinden, was mein Vater wollte und wie es ihm wirklich ging. Nur nach und nach konnte er uns sagen, dass er Schmerzen an der Hüfte hatte. Frau K., die an diesem Abend Spätdienst hatte, wusste das natürlich schon und berichtete uns überhaupt erst von dem Sturz meines Vaters. Der sich nicht hatte verhindern lassen, obwohl sie ihm extra Matratzen vor sein Bett gelegt hatte. Sie half meinem Vater, eine weitere Schmerztablette einzunehmen, und kündigte an, dass am nächsten Tag die Ärztin zu ihm kommen würde. Dann mühten wir uns zu dritt nach Kräften damit ab, ihn auf seinen Wunsch hin auf die Toilette und zurück zu bringen. Ein hysterischer Oktopus ist nichts gegen einen alten, kranken, schwachen Mann mit langen Armen, langen Beinen und einer schmerzenden Hüfte, das versichere ich Ihnen.
Ich blieb an diesem Donnerstagabend lange bei meinem Vater, einfach so aus dem Bauchgefühl heraus. Was ich beim Gehen aber natürlich nicht wusste, war, dass dies sein letzter Abend bei mehr oder weniger vollem Bewusstsein war.
Am nächsten Vormittag rief mich meine Mutter vom Hospiz aus an. Die Schmerzen meines Vaters waren nicht über Nacht verschwunden. Die Ärztin war jetzt da, hatte ihn untersucht und – logisch, sonst hätte das Pflegepersonal ja vorher schon was sehen können – keine äußere Verletzung feststellen können. Was sie feststellen konnte, war, dass mein Vater zwar noch nicht im Sterben lag, dass aber doch alles darauf hindeutete, dass er sich am Übergang in die wirklich allerletzte Phase befand. Er saß oder lief also quasi im Sterben – so formulierte ich es im Stillen für mich.
Die Ärztin stellte meinem Vater (und uns) zwei Optionen zur Wahl: Entweder müsse er zum Röntgen ins Krankenhaus od… (Und mein Vater so: „Nein! Nicht ins Krankenhaus!“)… oder er könne darauf verzichten, seine Verletzung genauer untersuchen zu lassen, dafür aber sediert werden, also an einen Tropf mit regelmäßiger Gabe von Beruhigungs- und Schmerzmitteln gehängt werden. Was er gerne und ohne große Überlegung tat. Meine Mutter unterstützte diesen Plan natürlich; der Gedanke, meinen Vater dem Stress eines Transports in Krankenhaus und zurück auszusetzen, war ihr unerträglich.
Was meine Mutter in diesem Moment der Entscheidung wohl nicht realisierte, war, dass mein Vater aufgrund seines stark geschwächten Zustandes schon bei einer niedrigen Dosierung der Medikamente, die eigentlich eine „flache Sedierung“ (also mit begrenzt noch vorhandener Ansprechbarkeit und „Rückrufbarkeit“) hätte bedeuten sollen, in ein tiefes Koma glitt. (Ich erklärte mir das später so, dass er im Grunde genommen – und auf welchem Bewusstseinslevel auch immer – nur darauf gewartet hatte, dass er seiner Unruhe und Rastlosigkeit irgendwie entkommen konnte. Auch wenn dies bedeutete, dass er quasi zwangsberuhigt werden musste.) Meine Mutter, selbst ja hochgradig erschöpft und nicht mehr unbedingt logisch denkend, merkte erst, als es schon passierte, dass ihr Mann von einem Moment auf den nächsten in einen anderen Zustand wechselte und für sie nicht mehr erreichbar schien. Die Möglichkeit zu einem gemeinsamen aktiven Abschied voneinander war plötzlich verstrichen… und sie hatte das gar nicht richtig wahrgenommen. Das macht ihr übrigens heute noch zu schaffen.
Ich war bei der Sedierung nicht dabei, sondern kam erst am Nachmittag wieder ins Hospiz, als mein Vater schon am Tropf hing und nicht mehr ansprechbar war. Endlich lag er mal ruhig im Bett. Wobei ruhig keineswegs bewegungslos bedeutete. Er ruderte lebhaft mit den Armen und auch seine Mimik war noch sehr bewegt. Etwas unheimlich war ein unregelmäßiges lautes Stöhnen – man versicherte uns aber, dass das nichts Ungewöhnliches sei und keineswegs bedeuten müsse, dass mein Vater Schmerzen habe. (Wir lernten dann auch schnell, seine Lautäußerungen und Reaktionen zu deuten; wenn man ihm, z. B. beim Umbetten, weh tat oder wenn ihm irgendeine Maßnahme, z. B. das Einreiben seiner Brust mit Rosenöl, nicht gefiel, verzog er die Stirn und machte abwehrende Bewegungen.)
Meine Mutter, unterstützt von einer ihrer Schwestern, wuselte recht geschäftsmäßig herum und erklärte mir, wie wir meinen Vater jetzt, wo er ja keine Flüssigkeit mehr zu sich nehmen konnte, mit Mundpflege unterstützen konnten. Dafür gab es eine kleine Wasserflasche mit Zerstäuber, mit der man ihm winzige Tröpfchen in den Mund sprühen konnte, und Mundpflegestäbchen, die man in Wasser eintauchte und ihm dann in den Mund steckte. (An diesem Nachmittag war es meinem Vater immerhin noch möglich, auf „Kommando“ sanft auf dieses Stäbchen zu beißen und das Wasser so in seinen Mund zu holen. Am nächsten Tag war er dafür schon zu weit weg.)
Und dann saß ich plötzlich alleine am Bett meines auf einmal so stillen und im Vergleich zu den vergangenen Wochen unbeweglichen Vaters. Es dauerte ein bisschen, bis ich mich in diese Situation hineinfinden konnte und das Gefühl hatte, wieder eine Verbindung zu ihm zu haben, auch wenn unsere Kommunikationsmöglichkeiten nun sehr eingeschränkt waren. Ich musste ja erst lernen, seine Reaktionen auf meine Fragen und Angebote und Berührungen zu deuten. Und vielleicht musste auch mein Vater sich auf mich und meine Art, mit ihm Kontakt zu halten, einstellen. Schließlich machten wir das ja beide zum ersten Mal.
Danke für die Berichte. (Meinem Vater ist anscheinend viel erspart geblieben. Unnötig zu sagen, dass auch ich brav alle vorgesehenen Vorsorgeuntersuchungen wahrnehmen werde.