Fritte im Kleiderschrank

„Fritte? Wo bist du? Komm doch mal her!“

Nur zu gerne folgte Fritoslav Frittikowski dem Ruf der dicken freundlichen Frau aus dem Wohnzimmer. „Hier bin ich. Gibt es Essen?“

Grinsend schüttelte die dicke freundliche Frau den Kopf und zeigte auf das Display des Smartphones, das an ihrer Hand angewachsen war. „Neunzehn Uhr siebzehn. Dein Abendessen beziehungsweise der Beginn deines Abendessens liegt gerade mal eine Stunde und siebzehn Minuten zurück. Bis zum Frühstück dauert es noch. Ich wollte nur sehen, ob es dir gut geht. Leo und ich gucken jetzt einen Film. Möchtest du mitgucken?“

Fritte musterte die dicke freundliche Frau und Leo, die eng aneinandergekuschelt auf dem Sofa saßen, vor sich eine Schüssel ohne Popcorn (aus Diätgründen und weil beide kein Popcorn mochten), und auf den Fernseher glotzten. Dieser zeigte irgendwas in Rot-Grün-Weiß als Standbild. Fritte schüttelte sich angeekelt. Ein Weihnachtsfilm offensichtlich. Definitiv was für Mädchen, nichts für Kerle wie ihn.

„Nein, vielen Dank“, sagte er höflich. „Ich lese lieber im Schlafzimmer meinen blutigen Psychothriller weiter. Will euch ja nicht stören. Ruft ruhig, wenn euch der Film zu gruselig wird.“

Leo und die dicke freundliche Frau kicherten und Leo startete den Film. Heitere Musik erklang.

Fritte drehte sich auf dem Absatz um und marschierte zurück ins Schlafzimmer. Dort öffnete er geräuschlos die Tür des Kleiderschranks und wurde zunächst unter einer unangekündigten T-Shirt-Lawine, die ihm entgegendrängte, fast verschüttet. Kurz überlegte er, ob es in diesem Haushalt vielleicht irgendwo einen Schutzhelm in Katergröße gab, verwarf den Gedanken aber wieder. Vorsichtshalber griff er in seine Bauchtasche, um sich zu vergewissern, dass er seine Taschenlampe dabeihatte. Dann betrat er vorsichtig den Schrank und zog die Tür von innen hinter sich zu.

Es war dunkel. Verdammt dunkel. Und eng und stickig. Schon nach wenigen Momenten kam es Fritte vor, als würde der Sauerstoff knapp. Außerdem hatte er keine Ahnung, wonach er suchte, was er in diesem bestimmten Moment gerade als unschön empfand. Mutig zog er die Taschenlampe hervor und schaltete sie ein. Ein etwas müder Lichtkegel, der von tausend schwarzen Klamotten fast vollständig absorbiert wurde, zeigte ihm, dass vor ihm vielleicht – vielleicht! – ein verfallener Trampelpfad existierte. Wohin dieser führte? Fritte wusste es nicht. Aber das war vielleicht auch egal, denn er wusste ja schließlich ohnehin nicht, was er suchte.

Vorsichtig bahnte er sich seinen Weg durch lieblos in Hohlräume gestopfte Klamotten aller Art. Er wohnte ja nun schon seit einigen Monaten mit der dicken freundlichen Frau zusammen und war sich darüber im Klaren, dass ihre Vorstellung von Ordnung nicht ganz mit dem übereinstimmte, was normalerweise mit dem Begriff Ordnung assoziiert wurde. Der Kleiderschrank allerdings war schon heftig, sehr heftig. Kein Wunder, dass die dicke freundliche Frau vor allem die Kleidungsstücke trug, die sie direkt vom Wäscheständer pflücken konnte, ohne eine Schranktür zu öffnen.

Furchtlos bahnte sich Fritte seinen Weg. Ganz schön anstrengend, aber nichts, was einen entschlossenen Kater von Welt entmutigen könnte. Wobei … jetzt gemütlich auf dem Sofa sitzen und einen Weihnachtsfilm gucken, wäre natürlich auch verlockend. Aber das dachte Fritte nur ganz leise. Und: „Wenn ich nur wüsste, wonach ich eigentlich suche!“

Auch seine Stimme wurde von der Unmenge Textilien, die ihn umgaben, sofort verschluckt, so wie das Licht der Taschenlampe. Es roch nach der dicken freundlichen Frau, ein bisschen nach früheren Katzen und ein ganz bisschen nach Sandelholz-Seife, von der einige Stückchen ebenfalls auch in diesem Schrank wohnten. Und noch irgendwas, dachte Fritte, während er konzentriert schnupperte, aber nur ein Hauch und was zum Geier war das?

Schritt für Schritt arbeitete er sich vor. Wie tief war dieser Schrank eigentlich? Es kam Fritte vor, als sei er schon seit Stunden unterwegs. Sollte er nicht langsam an eine Schrank-Rückwand stoßen? Oder hatte er sich verlaufen? Ging er womöglich im Kreis und kam immer wieder an denselben alten Hosen vorbei? Würde er es vor dem Frühstück schaffen, den Schrank wieder zu verlassen?

Fritte packte ein auf einem Bügel hängendes und auf dem Schrankboden schleifendes flauschiges Ungetüm, um es aus seinem Weg zu schieben, als er plötzlich einen Luftzug spürte. Halluzinierte er etwa schon vor Hunger? Mühsam quetschte er sich an dem Ungetüm vorbei, machte zwei mutige Schritte nach vorne und stand plötzlich im Freien. Völlig verwirrt sah er sich um? War das Narnia? Die Vorhölle? Eine Ausgeburt seiner Imagination? Oder wo war er jetzt wieder gelandet?

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