Wie lange ich eigentlich schon Vegetarier bin, kann ich ohne Nachrechnen nur schwer beantworten, aber ich weiß noch genau, wann ich das letzte Mal (absichtlich) Fleisch gegessen habe – und warum das das letzte Mal war.
Es muss 1993 gewesen sein. Oder 1992 oder 1994. Egal, ist schon lange her. Es war der Geburtstag meines Vaters und er hatte uns, meine Mutter, meinen Bruder und mich zu einem der besseren Italiener Hamburgs eingeladen. Also, einem der keine Pizza auf der Karte hatte und bei dem Nudelgerichte als Vorspeisen vorgesehen waren. Ich fand das spannend, fand aber auf der Karte dann komischerweise nichts, was mein Herz jetzt wirklich hätte höher schlagen lassen, und bestellte mehr aus Neugier ein gebratenes Perlhuhn.
Das Perlhuhn wurde serviert, sah hübsch aus und ich machte mich daran, es einigermaßen unfallfrei mit Messer und Gabel zu essen. Das war gar nicht so einfach. Zum Glück war die Beleuchtung eher schummrig, so dass zumindest an den Nachbartischen niemand zu genau sah, wie ich mit meinem Essen kämpfte. Das schummrige Licht sorgte aber auch dafür, dass ich erst nach und nach merkte, dass der Vogel vielleicht noch etwas länger im Ofen hätte bleiben sollen. Je tiefer ins Innere ich vordrang, desto rosiger und roher war das Fleisch.
Statt nun empört mein Besteck auf den Tisch zu werfen und „Cameriere!“ zu brüllen, kämpfte ich meinen Würgereiz nieder und überlegte fieberhaft: Hatte ich vielleicht nur nicht mitgekriegt, dass man Geflügel jetzt auch in den Abstufungen „blutig – medium – durchgebraten“ servieren konnte? Outete ich mich möglicherweise als spießiges Landei, wenn „blutig“ für mich nicht in Frage kam? Oder stimmte die alte Hausregel, dass wegen der Salmonellengefahr alle Geflügelprodukte immer gut durcherhitzt werden müssen, noch? Ergab eine Reklamation jetzt, wo ich das halbe Perlhuhn schon im Magen hatte, noch irgendeinen Sinn?
Ich sagte nicht viel und aß nur noch sehr wenig an diesem Abend. Möglicherweise trank ich dafür etwas mehr als gewöhnlich. Aber wie es mit Verdrängung so ist: Meistens klappt sie nicht so besonders gut und so hatte ich in derselben Nacht einen wirklich fiesen Alptraum: Ich briet mir ein ganzes Huhn in der Bratpfanne und dieses saß da, gerupft und rosa… aber der Kopf gehörte zu meinem Kater Otello… und der lebte und schrie mich an.
Schweißgebadet erwachte ich und verbrachte die restliche Nacht damit, Otello auf dem Schoß zu halten und ihm kleine Zöpfe ins Fell zu flechten (was nicht ging, denn er war kurzhaarig). Zum Glück nahm er mir den Traum nicht übel und er gehörte zu dieser wunderbaren Sorte Katze, der man wirklich alle Sorgen anvertrauen und notfalls auch den Pelz nassheulen kann. Mir aber war im Nachhinein von dem halbrohen Perlhuhn noch tagelang so übel, dass ich beim Gedanken daran einen Brechreiz nur schwer unterdrücken konnte.
Derselbe Brechreiz befiel mich hinfort bei dem Gedanken, Fleisch zu essen. Irgendein Fleisch, rot, weiß, fischig – egal. Alles stellte ich mir glitschig, halbroh und blutig vor und verlor spontan den Appetit darauf. Na gut, dachte ich, dann esse ich eben kein Fleisch mehr, bis ich wieder Lust darauf bekomme.
Auf diesen Moment warte ich heute, etwa dreiundzwanzig Jahre später, noch immer. Nicht mehr ganz so dringend allerdings und auch nicht mehr in der Erwartung, dass er noch eintreten wird. Ich rechne nicht mehr damit, jemals wieder Lust auf Fleisch oder Fisch zu haben, und das ist auch in Ordnung so.
Wenn Sie viel jünger sind als ich, können Sie sich wahrscheinlich nicht vorstellen, wie es ist, Vegetarier zu sein und ständig Probleme mit der Nahrungsbeschaffung zu haben. Heute bekommen Sie ja selbst in der übelsten Restauration irgendwas ohne Fleisch und im Supermarkt wird die Auswahl an vegetarischen Convenience-Produkten täglich größer, so dass man als Fleischesser muss man manchmal schon echt aufpassen muss, um nicht versehentlich ein Veggie-Produkt zu erwischen. Selbst als Veganer haben Sie verhältnismäßig gute Aussichten aufs Überleben, selbst wenn sie nicht auf einer Gemüseplantage wohnen.
Convenience-Food war damals noch nicht erfunden. Es gab Fertiggerichte in der Dose und Fertig-Tiefkühlkost. Punkt. Alles andere, was im Lebensmittelhandel angeboten wurde, waren Bausätze einzelne Zutaten, aus denen man mit der Hilfe von überlieferten und eingeübten Abläufen oder eines Kochbuchs selbst eine Mahlzeit fabrizierte. Dazu brauchte man eine Küche mit Herd, fließendem Wasser, Kühlschrank und ungefähr vier Kubikmeter weiteres Zubehör wie Schaumlöffel, Schneebesen, Käsehobel, Knoblauchpresse, Eierschneider, Sparschäler, Schälchen, Fläschchen, Brettchen und ein mindestens zweiundzwanzig Teile umfassendes Messerset. Als Vegetarier ebenso wie als Fleischesser.
An fleischlose Tiefkühlkost, abgesehen von Pizza Funghi von diesem ominösen Doktor aus Bielefeld, kann ich mich nicht erinnern. In der Dose gab es immerhin Tomatensuppe, Bohnen in Tomatensoße und Spargelcremesuppe. Alles andere enthielt Fleisch, wenn auch manchmal nur in Spurenelementen. Ach ja, und Mirácoli. Das mochte ich zwar nicht besonders, aber immerhin, es enthielt kein Fleisch – war aber auch nur ein „Halbfertiggericht“, denn es enthielt drei Komponenten und man brauchte zwei Kochtöpfe dafür.
Ich kochte zu der Zeit noch ganz gerne und fand es völlig normal, jeden Tag einkaufen zu gehen, eine Tüte voller Gemüse nach Hause zu tragen, zwei Stunden zu kochen, zwanzig Minuten zu essen und dann eine Tüte voller Gemüseabfälle zur Mülltonne zu tragen. Meine einfachsten Gerichte waren Pellkartoffeln mit Quark und Salat, Nudeln mit Champignons und/oder selbstgekochter Tomatensoße (die ich portionsweise eingefroren hatte) und Käsebrot.
Außer Haus zu essen war damals nicht so einfach. Es gab in Hamburg meines Wissens genau zwei vegetarische Restaurants: Mitten in schönster Innenstadtlage residierte die „Vegetarische Gaststätte“, in der es drölfzig verschiedene salzarme und lauwarme Gemüsegerichte gab, die alle gleich schmeckten. Die andere Möglichkeit war der „Golden Temple“, ein indisch inspiriertes Tagesrestaurant, das zwar sehr „alternativ“ daherkam, aber vor allem mit Nachdruck vermittelte, dass Vegetarismus und Genuss keine Gegensätze sein müssen. Ansonsten gab es in den meisten italienischen Restaurants Pizza und im Steakrestaurant gebackene Kartoffeln und ein Salatbüffet. Alles andere war schwierig. Selbst in chinesischen Restaurants gab es, wenn überhaupt, nur die Fastenspeise „Monk’s Food“, auf der Speisekarte meist zwischen Kinder- und Seniorengerichten versteckt.
Am schlimmsten fand ich gutbürgerliche Restaurants mit deutscher Küche. In denen konnte es passieren, dass mir jemand einen Teller hinstellte, auf dem zwar Speck im Gemüse war, aber ja „nur ganz wenig“ und: „Das können Sie ja wohl rauspulen!“
Privat auswärts essen war auch nicht viel besser. Viele Freunde und Verwandte waren schlicht überfordert von der Idee, ohne Fleisch kochen zu sollen. „Aber das schmeckt dann doch nach nichts, Kind, und wovon willst du denn satt werden?“
Sie glauben, das läge alles schon lange zurück? Weit gefehlt. Vor zwanzig Jahren war es noch völlig normal, dass es in der Kantine der Staatsoper (in der jeden Tag eine Menge Mitarbeiter verköstigt werden) kein vegetarisches Mittagsangebot gab und auch keine einfache Möglichkeit, eins der angebotenen Gerichte vegetarisch abzuwandeln. Noch vor zehn Jahren passierte es mir regelmäßig, dass ich mit meinen Kollegen in einem der Restaurants rundherum mittags ein Gericht von der Abendkarte bestellen (und bezahlen) musste, weil es zwar acht verschiedene Gerichte auf der günstigen Mittagskarte gab, aber keins ohne Fleisch.
Ich bin sehr, sehr glücklich über die Entwicklungen der letzten Jahre: Ich mag Streetfood, ich mag Sandwiches und ich mag Salat. Ich mag alles, was den arroganten und unflexiblen Gastronomen, die mich jahrelang belächelt haben, das Wasser abgräbt. Ich mag einfallsreiche und undogmatische Unternehmer, die auch das traditionell Undenkbare einfach mal ausprobieren. Als ich vor ein paar Jahren meine erste vegetarische Currywurst aß, hätte ich vor Freude fast geweint.
Ich finde es großartig, dass ich im Supermarkt Tofu kaufen kann und kleine Klopse, die statt Fleisch Getreide und Gemüse enthalten. Seitanwürstchen kaufe ich zwar selten, weil ich nicht so häufig zu Grillabenden eingeladen werde (zu denen ich mir grundsätzlich mein Essen selbst mitbringe), aber ich schaue im Supermarkt oft nach, ob sie noch im Sortiment sind. Und freue mich darüber. Jede neue Sorte vegetarischer Aufschnitt entlockt mir Jubelschreie – auch wenn keine davon auch nur halbwegs so gut schmeckt wie ein mittelguter Käse.
In Restaurants gehe ich nur noch, wenn sie mindestens ein vegetarisches Gericht auf der Karte haben. Ich lehne es ab, grundsätzlich mit der Küche darüber verhandeln zu müssen, ob man mir, auch wenn nichts Fleischloses auf der Karte steht, vielleicht doch etwas „zaubern“ kann. Restaurants mit zwei und mehr vegetarischen Alternativen haben gute Chancen, von mir häufiger heimgesucht zu werden. Vor ein paar Tagen war ich in einem Burgerladen, der nicht nur eine Rubrik „Vegetarisch und Vegan“ auf der Karte hatte, sondern auch noch „alle Klassiker wahlweise mit Seitan oder Black-Bean-Pattie“ anbot. Dort hätte ich am liebsten eingeheiratet.
Kochen mag ich nicht mehr so gerne; mir fehlt einfach die Zeit dazu und ich bin zu faul geworden. Wenn ich mich mal aufraffe, gibt es meist Pellkartoffeln mit Salat und Pesto oder Nudeln mit Artischocken, Roten Rüben oder getrockneten Tomaten. Oder Käsebrot. Und ich hasse es mehr denn je, Tüten vom Supermarkt nach Hause und später zum Müll zu schleppen.
Ich esse gerne, sehr gerne, nur eben kein Fleisch. Über alles andere lasse ich mit mir reden. Es gibt schlechtere Themen als Essen, finde ich. Und, wenn ich jetzt abschließend darüber nachdenke: Dass jetzt gerade, in dieser ansonsten so schwierigen und explosiven Zeit, so viele Gedanken und Gespräche über das Essen und alles, was damit zu tun hat, möglich sind (und dass es Menschen gibt, die Gedanken und Gesprächen auch Taten folgen lassen), lässt mich annehmen, dass ich vielleicht doch gerade zur richtigen Zeit lebe! Und das ist ein sehr guter Gedanke.
Ja wahrlich in den 80igern und 90iger war es ein hartes und mottenverseuchtes Brot Veganer oder Vegetarier zu sein :))
In Restaurants gab es eigentlich nur den gemischten Salat und wenn ich so versuche mich zu erinnern, waren die geschmacklosen Algenstreifen beim Fondue wenigstens Gesprächsthema und man tunkte die Champignons versehentlich in den Crème Fraiche Dip, frittierte sie und dann landeten die verbrannten Pilzklumpen im Bierteig, den man für den Dip hielt. War eben alles noch etwas farbloser.
Aber glaubt einem ja auch keiner, dass seinerzeit ein profanes Gemüse wie Brokkoli nicht unbedingt bekannt (80iger) und die Auswahl im Vergleich zu heute bescheiden war. Auch hatte ich Bekannte, die ihren Reis und Getreide gerne großsackweise kauften und die Motten gleich mit, aber das hat sie nie gestört, denn das gehörte zum fundamentalen Öko dazu.
Und stimmt, heute wird einem vegetarisches Convenience fast schon nachgeworfen und manches schmeckt sogar 🙂