Der alte Wecker auf meinem Nachttisch ist stehengeblieben. Geklingelt hat er schon lange nicht mehr; die Weckzeit ließ sich an ihm nie ganz exakt einstellen und so habe ich die verantwortungsvolle Aufgabe, mich morgens aus dem Schlaf zu reißen, schon vor längerer Zeit an mein Smartphone übertragen. Trotzdem stand der Wecker da und zeigte, halbwegs genau, die Zeit in meinem Schlafzimmer an. Das fand ich eigentlich ganz nützlich und so durfte er stehen bleiben, bis er jetzt stehengeblieben ist (und ich finde, dafür dass es noch ziemlich früh am Morgen ist, ist das eine recht geistreiche Formulierung).
Der Wecker gab nicht einfach so ohne Vorankündigung den Geist auf. Nein, es gab Zeichen, die auf zunehmende Schwäche und drohende Dienstunfähigkeit hindeuteten. Er wurde jeden Tag etwas langsamer und hinkte der Zeit erst fünf, dann zehn und dann fünfzehn Minuten hinterher. Und dann, nach einem letzten müden Tick, blieb irgendwann der kleine Zeiger stehen. Irgendwo zwischen sechs und sieben. Der große Zeiger zuckte noch eine Weile und richtete sich dann zwischen der sieben und der acht häuslich ein. Kein Ticken ist mehr zu hören, er steht da. Ganz still.
Ich könnte ja einfach eine neue Batterie in den Wecker stecken, sagen Sie? Quasi als Wiederbelebungsmaßnahme. Ja, natürlich, das könnte ich. Ich habe Batterien im Haus und möglicherweise weiß ich sogar, wo die sind. Doch andererseits… irgendwie gehe ich jeden Abend ins Bett, sehe, dass ich wieder vergessen habe, eine frische Batterie mitzubringen, und kann mich nicht noch einmal aufraffen. Dann ist es vielleicht auch nicht so wichtig, sagen Sie? Das könnte sein. Sehr gut sogar.
Schließlich habe ich auch eine Küchenuhr und die steht schon so lange, dass sie schon ein paar Winter- und Sommerzeitwechsel mitgemacht hat. Im Winter steht sie auf viertel vor fünf und im Sommer auf viertel vor sechs. Auch sie bräuchte nur eine neue Batterie… und vielleicht ein Staubtuch. Aber ich habe mich irgendwie daran gewöhnt, dass die Uhr immer dieselbe Zeit anzeigt und im Grunde habe ich das Gefühl, dass meine innere Uhr dadurch, dass sie in der Außenwelt weniger Hilfestellung bekommt, sehr viel präziser geworden ist.
Will sagen: Im Grunde brauche ich meistens keine Uhr, um zu wissen, dass ich zu spät dran bin. Das bin ich nämlich fast immer, egal wobei oder wofür. Die Zeit vergeht, das weiß ja jeder, der regelmäßig älter wird, von Jahr zu Jahr schneller und man muss sich echt ranhalten, um nicht irgendwann den Anschluss zu verlieren. Oder man stellt fest, dass man den Anschluss möglicherweise schon verloren hat, und beschließt – um nicht den Verstand zu verlieren – dass der Anschluss im Grunde gar nicht so wichtig war. Dann entspannt man sich vorübergehend, um bei der nächsten Gelegenheit von der Wucht der Zeit, die bekanntlich auf niemanden wartet, erdrückt zu werden. Das Allerschlimmste ist ja, dass die Zeit sich auch in meine Seele und mein Nervensystem eingeschlichen hat und mich nun quasi von innen heraus angreifen kann.
Hugo von Hofmannsthal hat das vor über hundert Jahren sehr viel besser ausgedrückt, als ich es in ungefähr hundert Jahren könnte:
Die Zeit, die ist ein sonderbar‘ Ding.
Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts.
Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie.
Sie ist um uns herum, sie ist auch in uns drinnen.
Er legte diesen Text einer Dame mittleren Alters in den Mund, die angesichts der Vorahnung, dass sie ihren jugendlichen Liebhaber nicht auf die Dauer wird halten können, ein wenig philosophiert: Über die Zeit, das Älterwerden und das Leben an sich. Über das eigenartige Gefühl, dass Damen mittleren Alters gerne mal befällt: Dass das zwar alles seine Ordnung hat mit dem Älterwerden und dass man selbstverständlich auch reifer wird, tiefer und bewusster. Dass einem dieser ganze Prozess der eigenen Entwicklungsgeschichte mitunter aber auch ein verdammt mulmiges Bauchgefühl bescheren kann. Und so nimmt sie, einem Impuls folgend, manchmal einfach die Batterien aus ihren Uhren:
Manchmal steh‘ ich auf mitten in der Nacht
und lass die Uhren alle, alle steh’n.
Und lauscht dann wahrscheinlich der Stille, die sich, sobald das Ticken der Uhren aufhört, in ihr und um sie herum ausbreitet. Puh, endlich Ruhe und endlich Schluss mit Eile und Hetze. Wenn die Uhren nicht mehr ticken und die Zeit stehenbleibt, dann verlieren vielleicht die Sorgen und mulmigen Gedanken, die uns eben noch so beschäftigt haben, ihren Zugriff auf uns. Wir befinden uns in irgendeinem Paralleluniversum, in dem die Zeit als vierte Dimension nicht so physikalisch daherkommt und uns an unseren fortschreitenden Verfall und die ganzen unerledigten Dinge in unserem Leben erinnert.
Das stellt auch die Dame mittleren Alters fest und im ersten Moment fühlt sie sich befreit. Etwas später jedoch realisiert sie, dass es in dem ticktacklosen Paralleluniversum auch etwas langweilig ist. Sie spürt keinen Drang, keine Notwendigkeit und auch kein Verlangen. Und merkt, dass das auch nicht das ist, was sie wollte. Im Gegenteil. Und so nimmt sie ihre Uhren, eine nach der anderen, wieder in Betrieb. Schüttelt die Melancholie, die sie in letzter Zeit so häufig beschleicht, ab und versichert sich selbst, dass es keinen Grund gibt, Angst vor sich selbst und dem, was das Leben mit ihr macht, zu haben. Es ist schon alles gut so, sagt sie sich, und wem hat es jemals etwas geholfen, mit sich selbst allzu sehr zu hadern?
Ich bin ja auch eine Dame mittleren Alters. Und der Zahn der Zeit nagt durchaus an mir, egal ob die Uhren in meinem Haushalt ihren Job machen oder auch nicht. Vielleicht sind der Wecker und die Küchenuhr ja auch nur abgelöst worden von meiner Fitnessuhr und dem Smartphone, die beide noch viel mehr können als die Zeit anzuzeigen. Die mich noch viel nachdrücklicher und detailreicher nicht nur darauf hinweisen, dass die Zeit auf niemanden wartet, sondern auch darauf, dass ich noch einige Schritte gehen, E-Mails beantworten, das Wetter von Profis vorhersagen lassen, bei Twitter reinschauen, eventuelle Geldeingänge überprüfen und bei Candy Crush meinen täglichen Lutscherhammer abholen muss. Und das alles, bevor ich zur Arbeit gehe.
Und wie gesagt: Tagsüber, also in diesem sogenannten „Wachzustand“ weiß ich sowieso immer ziemlich genau, was es geschlagen hat, ganz ohne äußere Uhr. Nur nachts, da klappt das nicht. Wenn ich aufwache, entweder weil mir der Rücken wehtut oder weil eine Katze sich in meinen Haaren ein Nest baut, dann verschätze ich mich oft um mehrere Stunden. Aber das macht eigentlich auch nichts. Die Katzen nutzen meine Orientierungslosigkeit für ihre eigenen Zwecke (sie nennen es „Snack“, „kleine Mahlzeit“, „Betthupferl“ oder „Sonntagsfrühstück für zwei“) aus und wenn es Zeit zum Aufstehen ist, spielt ja ohnehin mein treues Smartphone eine Cellosuite von Bach für mich.
Über das Dahinfließen oder auch Verrinnen der Zeit und das damit verbundene Älterwerden mache ich mir natürlich auch so meine Gedanken, wie wir Damen Personen mittleren Alters es eben von Zeit zu Zeit tun. Im Großen und Ganzen macht es mir aber keine übermäßige Angst. Schließlich lebe ich auch schon ganz schön lange und ziemlich gerne. Ich kann mich an viele Dinge, die ich erlebt und erfahren habe, noch erinnern. Es gibt noch viele Dinge, die ich erleben und erfahren will. Dass mir die Zeit davonlaufen könnte, glaube ich eigentlich nicht… aber selbst wenn, dann kann ich hoffentlich sagen, dass ich meine Zeit genutzt habe. Und mir Zeit genommen habe für die Dinge, die mir wichtig sind. Und dass ich nicht zu viel Zeit verschwendet habe mit unnötigen Erledigungen, zumindest nicht mit dem Heraussuchen von neuen Batterien für einen alten Wecker, den ohnehin niemand braucht.
Die Zeit, die ist ein sonderbar‘ Ding.
Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts.
Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie.
Sie ist um uns herum, sie ist auch in uns drinnen.
In den Gesichtern rieselt sie,
im Spiegel da rieselt sie,
in meinen Schläfen fließt sie.
Und zwischen mir und dir da fließt sie wieder,
lautlos, wie eine Sanduhr.
Oh, Quinquin! Manchmal hör‘ ich sie fließen – unaufhaltsam.
Manchmal steh‘ ich auf mitten in der Nacht
und lass die Uhren alle, alle steh’n.
Allein man muss sich auch vor ihr nicht fürchten.
Auch sie ist ein Geschöpf des Vaters, der uns alle erschaffen hat.
(Hugo von Hofmannsthal: Der Zeitmonolog der Marschallin. Aus dem Libretto der Oper „Der Rosenkavalier“, uraufgeführt 1911)