An der Uhr drehen. Oder am Rad.

„Und der große Zeiger? Was ist mit dem großen Zeiger? Der kleine Zeiger braucht eine Stunde für fünf Minuten, aber wie lange braucht der große Zeiger?“

„Äh. Fünf Minuten, Mama. Also, aus der Sicht des großen Zeigers.“

„Ach. Und wie sehe ich das hier? Ich kann das hier nicht sehen? Welcher ist denn überhaupt der große und welcher der kleine Zeiger.“

„Hm. Hast du vielleicht noch eine andere Uhr, Mama? Eine, bei der die Zeiger unterschiedlich lang sind?“

Ich durchsuche die Wohnung nach einer anderen Uhr, möglichst einer mit Ziffern im Zifferblatt und unterschiedlich langen Zeigern. Und werde fündig. Zum Glück. Meine Mutter ist mit Uhren ziemlich gut ausgestattet, nicht ganz so gut wie in mit Taschenlampen (von denen ich alleine vier in ihrer Handtasche gefunden habe, als ich neulich nach ihrer Versicherungskarte suchte), aber immerhin. Ich stelle einen Wecker mit recht klassischer Ausstattung vor ihr hin.

Wecker mit Zifferblatt
Großer und kleiner Zeiger sind okay. Aber wer braucht einen Sekundenzeiger und einen Weckzeitanzeiger?

„Guck mal, Mama, hier kannst du besser sehen, welcher Zeiger der große ist, oder?“

Meine Mutter starrt misstrauisch den Wecker an, kommt aber tatsächlich zu dem Eindruck, dass die beiden Zeiger unterschiedlich lang sind.

„Sehr gut, Mama. Wie spät ist es denn auf diesem Wecker?“

„Also: Der kleine Zeiger steht da oben, so ein bisschen rechts von der Mitte.“

„Zwischen welchen Zeiten, äh Zahlen, steht er denn?“

„Zwischen der Zwölf und der Eins.“

„Genau. Wie spät ist es also?“

„Zwischen zwölf und eins?“

„Sehr gut. Und wo steht der große Zeiger?“

„Auf kurz nach vier?“

„Ja. Wie spät ist es also?“

„Vier nach zwölf?“

„Fast, Mama. Noch mal zurück. Wenn der große Zeiger auf der vier steht, dann sind wie viele Minuten seit der vollen Stunde vergangen?“

„Welcher vollen Stunde?“

„Na, dem Moment, in dem er auf der Zwölf stand. Da war es genau wieviel Uhr?“

„Zwölf?“

„Richtig. Und wo stand er fünf Minuten später.“

„Auf der Eins?“

„Genau. Und zehn Minuten später?“

„Auf der Zwei?“

„Genau. Und zwanzig Minuten später?“

„Auf der Vier.“

„Richtig. Also: Wie spät ist es? Beziehungsweise, wie spät war es, als wir mit dieser Unterhaltung angefangen haben?“

Leicht erschöpft wische ich mir den Schweiß von der Stirn und starre meine Mutter an, die ihren Wecker anstarrt. Wahrscheinlich fallen die Zeiger demnächst vor Schreck oder wegen der ganzen Hin- und Her- und Schüttelbewegung ab. Aber da bin ich hoffentlich schon wieder weg. Was mir auf die Dauer auch nicht hilft, denn meine Mutter wird mich anrufen und fragen, was denn nun schon wieder mit dem großen Zeiger los ist und wieso es siebzehn vor irgendwas sein soll, wenn er doch auf kurz nach acht steht.

Ich danke im Geiste noch einmal kurz der Freundin, die meine Mutter auf den Uhrentest hingewiesen hat. Den Uhrentest, der zu den Standardkurztests in der Diagnostik von Demenzerkrankungen benutzt wird. Was die Freundin meiner Mutter leider nicht vermittelt hat: Dass man sich auf diese Tests eigentlich nicht vorbereiten muss/kann/soll. Dass bei dieser Art Test die Frage nach dem Bestehen oder nicht Bestehen sich auf sehr vielen Ebenen stellt und nur auf einer kleinen Ebene davon die Tatsache, dass man sich vorbereitet hat oder vorbereiten wollte, einen Unterschied ausmacht.

Seit ungefähr zwanzig Minuten beschäftigt sich meine Mutter damit, eine Uhr auf ein Stück Papier zu zeichnen und eine Zeit wie „Viertel vor drei“ darauf einzutragen. Also, theoretisch. Praktisch beschwert sie sich seit zwanzig Minuten hauptsächlich darüber, dass die Uhr, die vor ihr auf dem Tisch steht, nur widerwillig ein Vorbild für die zu zeichnende Uhr abgibt und es ihr so schwer macht. Seit ungefähr zwanzig Minuten sinniere ich darüber, was für ein geniales Wunderwerk die Uhr ist und warum sie wohl immer komplizierter wird, je mehr man darüber nachdenkt. Ob ich mich auch so doof angestellt habe, als sie mir vor knapp fünfzig Jahren die Uhr erklärt hat. Und ob das, was wir hier machen, irgendeinen Sinn hat.

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„Mach dir doch deine Zeit selber!“

Wir haben einen Termin beim Neurologen. In fünf Tagen. Meine Mutter ist fest entschlossen, diese fünf Tage zu nutzen, um bei dem Termin einen möglichst guten Eindruck zu machen.

Mein Argument, dass es um einen guten Eindruck nicht geht und dass der Neurologe, wenn er gut ist, zu denselben Ergebnissen kommen wird, egal ob sie einen guten oder einen nicht so guten Tag hat, lässt sie nicht gelten.

„Du solltest dich entspannen und ausruhen“, lege ich ihr ans Herz. „Viel wichtiger als der Uhrentest ist doch, dass du dich mit dem Arzt unterhalten kannst, ihm sagen kannst wie es dir geht, und seine Fragen beantworten.“

„Das stimmt“, sagt meine Mutter.

„Wenn du dich vorbereiten willst, dann darauf, ein Gespräch zu führen und dich darauf zu konzentrieren. Du kannst dir vorher überlegen, was du ihm erzählen möchtest – warum du glaubst, dass du vielleicht dement sein könntest.“

„Okay“, sagt meine Mutter. Und nach einer kurzen Pause: „Und wenn der große Zeiger auf der Sieben steht?“

„Dann muss ich gleich los“, sage ich. „Aber du kannst ja noch ein bisschen für dich weiterüben. Nicht zu viel. Wenn die Uhr anfängt dich zu ärgern, dann hör bitte auf. Stress ist kontraproduktiv.“

„Kann ich dich anrufen, wenn ich unsicher bin?“

„Natürlich“, sage ich. „Ruf mich ruhig an. Ich gehe jetzt aber erstmal zum Sport, da ist mein Telefon aus. Ich kann es ja schließlich nicht mit in den Swimming-Pool nehmen. Danach gehe ich noch einkaufen und dann bin ich wieder zu erreichen.“

„Wann denn?“

„So gegen vier, vielleicht etwas später.“

„Dann steht der kleine Zeiger auf der Vier.“

„Richtig. Und der große Zeiger?“

„Auf der Zwölf. Aber das kann ich auf dieser Uhr immer nicht sehen.“

„Okay. Wenn der kleine Zeiger auf der Vier steht und du den großen Zeiger nicht siehst, dann rufst du mich an, okay?“

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Auswertung des Uhrentests (nach Shulman) in sechs Stufen.

Auch wenn Sie es nicht glauben wollen und/oder wenn Sie wissen, dass ich durchaus zu Übertreibungen neige: Diese Unterhaltung hat wirklich so stattgefunden. Letzten Samstag. Ich habe eher noch Dialogteile ausgelassen anstatt welche hinzuzuerfinden.

Meine Mutter rief mich nicht erst um vier an, sondern noch bevor ich den S-Bahnhof in ihrem Kaff erreicht hatte.

Der Termin beim Neurologen war vorgestern. Er hat noch keine Tests gemacht, sondern sich nur meiner Mutter, meinem Bruder und mir unterhalten. Dann ein MRT, ein EEG und eine Blutuntersuchung angeordnet. Danach kommen erst die typischen Demenz-Tests; der Termin ist in drei Wochen. Drei Wochen, in denen meine Mutter die Uhr übt. Mein Bruder und ich, unsere Tanten, die Haushaltshilfe, verschiedene Freunde und vermutlich unbeteiligte Passanten, Verkäuferinnen und Pizzaboten sind vor Freude und Vorfreude ganz aus dem Häuschen.

Falls Sie also im Westen Hamburgs eine kleine, harmlos aussehende, blau gewandete, ältere Dame mit vielen Taschen und Tüten sehen UND NICHT DIE UHR ERKLÄREN MÖCHTEN, winken Sie meiner Mutter vielleicht lieber nicht zu.

 

 

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