Der Super-Gau. Es war ein Freitagabend, der zweite in meinen endlich erreichten Sommerferien. Die Woche war anstrengend gewesen. Ich versuchte, meine Eltern so gut wie möglich zu unterstützen und gleichzeitig auch ein bisschen was für mich zu tun. Wieder etwas dünner und etwas fitter zu werden – und zur Ruhe zu kommen. Das klappte so mittelgut. Meinem Vater, der gerade eine kurze Pause zwischen zwei Chemozyklen hatte, ging es mies, meine Mutter war extrem nervös und ich aß alles, was nicht bei drei auf dem Baum war. Zwar ging ich fast täglich schwimmen, aber was kann eine halbe Stunde Schwimmen schon gegen eine Tüte Chips und zwei Tafeln Schokolade ausrichten? An diesem Freitagabend nun war ich bei meinem Freund gewesen, hatte ein, zwei Bier getrunken und war einigermaßen entspannt auf dem Weg nach Hause. Gerade bog ich in die Straße ein, in der ich wohne, da klingelte das Telefon. Meine Mutter. Am Freitagabend um elf – mir war sofort klar, dass die Kacke am Dampfen sein musste (und wie recht ich damit hatte).
„Bettina“, sagte sie atemlos, „gut, dass ich dich erreiche. Du musst nicht kommen, aber…“
Ich winkte instinktiv ein vorbeifahrendes Taxi heran.
„… ich muss mit dir reden, sonst werde ich verrückt!“
Ich stieg ins Taxi ein und gab dem Fahrer ungeachtet des Redeschwalls meiner Mutter die Adresse meiner Eltern.
„… nicht rechtzeitig geschafft, alles eingesaut. Als ich ihm helfen wollte, sind wir beide umgefallen. Und als ich dann gesagt habe, ich muss das erst saubermachen, ist er aufs Gästeklo gegangen und hat da auch…“
Okay, dachte ich. Say no more. Wir haben einen Eindruck. Sagte: „Alles klar, ich bin im Taxi und gleich da. Warte auf mich, zusammen kriegen wir das ruckzuck wieder hin. Ist Papa wieder heil im Bett?“
„Ja, ihm scheint es wieder besser zu gehen“, sagte meine Mutter. „Aber es sieht hier überall aus, als könnte es einfacher sein, das Haus einfach abzureißen als es sauberzumachen.“
So war es dann auch. Wir verbrachten in dieser Nacht mehrere Stunden damit, das Badezimmer in der ersten Etage und das Gästeklo im Erdgeschoss wieder begehbar zu machen. Meine Mutter, ebenso wie ich nicht zimperlich, putzte tapfer mit mir, stand aber eigentlich unter Schock, wie ich bald feststellte.
Mein Vater war allein ins Badezimmer gegangen, wie ich erfuhr, aber eben leider nicht rechtzeitig. Erst nachdem er dafür reichlich Beweismaterial verbreitet hatte, rief er meine Mutter zu Hilfe. Im gemeinsamen Bestreben, sauber aus der Sache herauszukommen, waren sie dann gestürzt. Meine Mutter hatte keine Chance, meinen Vater zu halten, als er das Gleichgewicht verlor. Obwohl er so dünn geworden war, war er immer noch einen Viertelmeter größer als sie und bestand in diesem Moment vermutlich gefühlt nur noch aus zappelnden Gliedmaßen. Und wie so oft im Leben trat er in dieser unangenehmen Situation die Flucht nach vorn an und lehnte es ab, sich vernünftig helfen zu lassen.
Meine Mutter saß also da mit zwei vollgekackten Nasszellen und hatte das Gefühl, komplett die Kontrolle über ihr Leben verloren zu haben. Ihr Zuhause, das ihre Zuflucht und Rückzugsmöglichkeit darstellte, stand plötzlich scheinbar auf Treibsand und versank langsam im Boden. Sie hatte meinem Vater schon vor längerer Zeit versprochen, ihn nicht gegen seinen Willen ins Krankenhaus zu bringen. An dieses Versprechen fühlte sie sich gebunden – aber plötzlich bekam sie einen unmittelbaren Vorgeschmack davon, wie unromantisch und erbarmungslos so ein Sterben zu Hause auch sein könnte. Mit einem trotzigen Sterbenden nämlich, der gar nicht daran denkt, ruhig und still in seinem Bett zu liegen und bedächtig seinen letzten Atem auszuhauchen, sondern der seine Selbstbestimmung nicht aufgeben will und durchs Haus geistert, wie es ihm gerade in den Sinn kommt. Der trotz hundertmaliger Ermahnung, sich doch ins Badezimmer helfen zu lassen, eben erst um Hilfe ruft, wenn klar ist, dass er alleine wirklich nicht zurechtkommt.
Nachdem meine Mutter sich ein bisschen wieder beruhigt hatte, ging ich meinen Vater in seinem Zimmer besuchen. Er saß wieder friedlich in seinem Sessel, offenbar ging es ihm weitaus besser als vor seinem Ausflug. Was genau passiert war, wollte er mir nicht erzählen, aber aus dem wenigen, was er sagte, schloss ich, dass er und meine Mutter eigentlich schon tagelang auf diesen Moment hingearbeitet hatten. Er hatte wegen seiner zunehmend zickigen Verdauung schon mehrfach Probleme gehabt, rechtzeitig ins Badezimmer zu kommen. Deswegen hatte er, ohne dies aber als Beschluss zu verkünden, das Essen in den letzten Tagen mehr oder weniger eingestellt, angetrieben von der Hoffnung, damit unangenehme Situationen vermeiden zu können. Auch getrunken hatte er kaum etwas. Entsprechend schlapp, klein, gelb und dünn hing er in seinem Sessel, völlig geschafft natürlich auch er.
Bevor ich irgendwann spät in der Nacht wieder nach Hause fuhr, versprach ich meiner Mutter, am nächsten Vormittag wiederzukommen und dann noch einmal in Ruhe alle Optionen zu besprechen. Danach wollte meine Mutter dann auch entscheiden, ob sie meinen Bruder, der gerade Urlaub in St. Petersburg machte, zurückholen wollte.
Auf der Rückfahrt überlegte ich dann: Was für Optionen hatten wir eigentlich? Meinem Vater ging es schlecht und vermutlich waren die Therapie- und Behandlungsmöglichkeiten ausgereizt, das konnte jeder sehen, aber hieß das wirklich, dass er bereits kurz vorm Sterben war? Wenn er seit Tagen nichts gegessen und kaum getrunken hatte, war es definitiv kein Wunder, dass er sich zunehmend schwächer fühlte, blasser und schmaler wurde – aber hatte ich das Gefühl, dass er sich zu Tode hungern wollte? Nein, eigentlich überhaupt nicht. Er machte auf mich nicht den Eindruck eines Menschen, der mit dem Leben abgeschlossen hat. Er war verzweifelt, verängstigt und unglücklich mit der Situation, in der er sich befand – aber eine echte Lebensmüdigkeit konnte ich nicht feststellen. Und so vermochte ich nicht die vage Hoffnung meiner Mutter zu teilen, dass er vielleicht einfach nur schwächer und schwächer werden würde, bis sein Körper dann irgendwann einfach alle Lebensfunktionen einstellte.
Vor dem Schlafengehen fasste ich einen Beschluss: Ich würde zumindest versuchen, meinen Vater dazu zu bringen, dass er sich mal mit einem Arzt unterhielt. Dass dieser ihn direkt nötigen würde, ins Krankenhaus zu gehen, war ja gar nicht gesagt. Und selbst wenn: Niemand konnte meinen Vater zwingen. Es war sein Leben und seine Entscheidung, wie er es beenden wollte. Aber ihm sagen, dass er sich Hilfe holen könnte, ohne alle Entscheidungen aus der Hand zu geben, das wollte ich unbedingt.
Trotz emotionaler Aufgewühltheit und Übermüdung googelte ich am Morgen nach Palliativeinrichtungen in Hamburg und erfuhr, dass es außer den Palliativstationen in verschiedenen Krankenhäusern auch palliativ ausgerichtete ambulante Pflegedienste gab. Aus irgendeinem Grund hatte ich, sonst eine schlechte, eher uninteressierte und vergessliche Zeitungsleserin, im Laufe der Jahre verschiedene Berichte über verschiedene Palliativstationen in Hamburger Krankenhäusern gelesen und das dort Gelesene sogar behalten. Außerdem war mein Onkel, der jüngere Bruder meines Vaters, schon 1998 in einer der ersten Palliativstationen Hamburgs gestorben. In einem Portal, das alle Einrichtungen in und um Hamburg zusammenfasste, verschaffte ich mir einen Überblick. Nur so für alle Fälle, dachte ich.
Im Haus meiner Eltern war an diesem Morgen auf den ersten Blick alles ruhig. Meine Mutter war froh, dass ich kam, weil sie gerne mal rausgehen, meinen Vater aber nicht allein lassen wollte. Mein Vater saß – noch oder wieder – in seinem Sessel und hatte Schluckauf. Das kam häufiger vor, dauerte meist lange und quälte ihn ziemlich. Ich setzte mich zu ihm und kam nach kurzem Hin und Her gleich zur Sache.
„Du weißt schon, dass du Mama mit Aktionen wie gestern Abend in den Wahnsinn treibst, oder?“
Mein Vater sah mich traurig an. „Ja, natürlich. Aber was soll ich denn machen? Ins Krankenhaus will ich noch nicht.“
„Noch nicht!“ Das klang doch schon ganz anders als „auf keinen Fall niemals nicht!“
„Aber vielleicht könnte man dir im Krankenhaus helfen. Oder ein Arzt, der hierherkommt. Ein bisschen was gegen die Übelkeit tun… und gegen den Schluckauf! Dann müsstest du dich nicht so rumquälen.“
„Aber nicht heute“, sagte mein Vater. Ein bisschen flehend, wie mir schien.
„Heute ist ja Samstag“, sagte ich. „Da könntest du nur über die Notaufnahme ins Krankenhaus, das ist sicher nervig. Aber am Montag könnte ja euer Hausarzt mal kommen und uns vielleicht einen Tipp geben, was es so für Möglichkeiten gibt.“
„Gut“, sagte mein Vater. „Aber erst am Montag.“
„Am Montag“, sagte ich.
Damit war das Thema fürs Wochenende erledigt. Meine Mutter konnte es kaum glauben, als ich ihr von dem Gespräch erzählte. Sie hielt es angesichts der Schwäche meines Vaters allerdings durchaus für möglich, dass er den Montag gar nicht mehr erleben würde. Sie hatte dies auch meinem Bruder inzwischen einigermaßen ungeschönt mitgeteilt und er hatte sich sofort einen Flug zurück nach Hamburg gebucht.
Das restliche Wochenende verging nervenaufreibend langsam, aber unspektakulär. Wir saßen im Haus meiner Eltern herum, mein Freund und ich, später auch mein Bruder. Mal oben bei meinem Vater, der wirklich sehr schwach und traurig war. Mal unten bei meiner Mutter, die immer noch nicht sicher war, ob es richtig war, was wir taten, Sicher war nur, dass es so wie bisher nicht weitergehen konnte. Weder für meinen Vater noch für meine Mutter.
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