Vorgestern waren wir beim Notar, um das Haus meiner Mutter zu verkaufen. Das Haus, in dem sie mit meinem Vater 45 Jahre lang gelebt hat. Das Haus, in dem ich fast von der Einschulung bis nach dem Abitur gewohnt habe und mein Bruder noch zehn Jahre länger.
Ein Endreihenhaus im Speckgürtel von Hamburg, einen Katzensprung von der „Grenze“ zu Hamburg entfernt. Gebaut in einer Zeit, in der Reihenhäuser zwar im Verbund, aber noch nicht quasi aufeinander gebaut wurden. Gerade am Ende einer Reihe sieht und hört man also nicht allzu viel von den Nachbarn – obwohl die natürlich immer gegenwärtig sind und man viele im Laufe der Jahre auch besser kennenlernt, als einem lieb ist.
Damals, vor vielen hundert Jahren, als ich ein Kind war, lebte es sich in diesem Endreihenhaus sehr angenehm. Der Garten, der das Haus auf drei Seiten umgab, war schön, wäre aber nicht unbedingt notwendig gewesen – direkt vor der Häuserreihe liegt ein Spielplatz, der damals der offizielle Treffpunkt für sämtliche Kinder aus der ganzen Straße war. Meine Mutter hat mal gezählt: Es gab dort ungefähr 60 Kinder, die im Alter zu mir und/oder meinem zwei Jahre jüngeren Bruder passten. Die durften so gut wie alle unbegleitet aus dem Haus, sobald sie auf ihren eigenen Beinen laufen konnten. Von ihren größeren Geschwistern bzw. der Gesamtheit der Kinder beaufsichtigt – damals ging das noch.
Die Grundschule lag im Ortskern, zu Fuß ungefähr sieben Minuten entfernt. In meiner Erinnerung wurde uns der Schulweg einmal gezeigt, am ersten Schultag, und danach kamen wir alleine zurecht. An den – zu der Zeit nicht übermäßig befahrenen -Straßen, die wir kreuzten, schauten wir nach links und rechts, nach links und rechts, nach links und rechts… und spätestens dann standen alle Autos im Umkreis von etwa hundert Metern und warteten geduldig, bis wir auf der anderen Seite angekommen waren.
Ich kann mich nicht erinnern, dass es in dieser Zeit jemals zu einem Unfall oder irgendwelchen anderen Problemen gekommen wäre, die heute so manche Kindheit überschatten und besorgte Eltern in familiäre Taxiunternehmen verwandeln.
Das Haus und der Garten waren mir relativ egal. Der Spielplatz und die vielen Kinder, mit denen man zwanglos ins Gespräch kam, auch wenn man – wie ich als Kind – unfassbar schüchtern war, gefielen mir allerdings auch. Noch besser fand ich allerdings, dass es in der Nähe auch Pferde gab: Der Spielplatz war durch eine große Buchenhecke von einem Baumschulfeld getrennt, auf dem ein alter unfreundlicher Baumschüler mit zwei Kaltblutpferden, Max und Lotte, die je nach Jahreszeit einen Pflug, eine Egge oder einen Wagen hinter sich herzogen, unterwegs war. Die Hecke hatte ein kindergroßes Loch, aber der Baumschüler hasste uns und jagte uns immer sofort weg, wenn wir sichtbar wurden. Ich habe Max und Lotte in all den Jahren nicht einmal streicheln dürfen.
Zum Glück gab es noch ein paar Meter weiter einen richtigen Bauernhof mit zwei großen Weiden mitten im Ort, zwischen Kirche und Bahnhof. Auf diesen Weiden grasten nicht nur braunweiß gefleckte Kühe, sondern auch Holsteiner Pferde. Eine uralte Stute, Fanny, die es nach Aussage der Nachbarn schon immer gegeben hatte und die im Laufe meiner Jugend ungefähr 112 Jahre alt geworden sein muss. Dazu erst eine jüngere Zuchtstute, dann noch eine, jedes Jahr wunderschöne Fohlen und später dann Reitpferde aus eigener Zucht. Freundliche Pferde, die sich zum Zaun locken und streicheln ließen. Und ein netter Bauer: Auf der alten Fanny (übrigens dachte ich sehr lange, sie hieße Pfanni; niemand soll sagen, Werbefernsehen hätte keinen Einfluss auf Kinder) durfte ich sogar mal reiten. Und zur Reitschule, die am Ende des Ortes lag, durfte ich schon sehr bald alleine mit dem Fahrrad fahren.
Das Allerbeste an dem Endreihenhaus war für mich, dass uns Katzen zuliefen. Eigentlich hatte ich mir einen Hund gewünscht, mein Onkel hatte einen und ich hätte so gerne auch einen gehabt. Katzen kannte ich noch nicht; niemand, den ich kannte, besaß eine Katze. Aber plötzlich saß die erste vor der Tür und wollte ins Warme und an den Kühlschrank. Meine Eltern waren hin- und hergerissen. Sie hatten keine Erfahrung mit Haustieren und ließen sich die Katze nach kurzer Zeit von den Nachbarn und ihrer Angst, nicht angepasst genug sein, wieder ausreden.
Die zweite Katze kam erst, als ich schon zwölf Jahre alt war und mich nicht mehr so leicht überstimmen ließ. Sie saß auf plötzlich auf der Terrasse und sah bedürftig und so unfassbar niedlich aus (erst später wurde mir klar, dass die Außerirdischen, die sie dort abgesetzt hatten, uns wahrscheinlich vorher schon eine ganze Weile beobachtet hatten, um sicherzustellen, dass sie hier das richtige Umfeld für den kleinen Alien gefunden hatte, der nach der Weltherrschaft strebte!). Der kleine graugetigerte Alien hieß Katzi, in den ersten Jahren „Knäulchen“ genannt – bis ich merkte, dass ich den Namen nachts und angetrunken einfach nicht aussprechen konnte. Fortan hieß das Tier Katzi, was ihr, so denke ich, auch lieber war – schließlich ist es nicht gut für die kätzische Reputation, wenn alle Katzen des Ortes hören, wie man nachts gerufen wird: „Knäulllen! Käuchen! Näulichen! Dings! Miez! Komm nach Hause, wir gehen ins Bett! Gnäulellen!“
Katzi war extrem schüchtern (wahrscheinlich passte sie deswegen so gut zu mir) und, obwohl sie die Annehmlichkeiten eines gemütlichen Körbchens an der Heizung und regelmäßige Mahlzeiten bald zu schätzen wusste, mit dem Zusammenleben auf engem Raum noch nicht vertraut. Zumal es sich um ein Zusammenleben mit Menschen handelte, die ihr wirklich sehr suspekt waren. Menschen, die zu 50 % als männlich und damit hochgefährlich anzusehen waren. Und schwererziehbar. Dass man Katzen mehrmals am Tag, vermeintlich völlig ohne Grund, Türen öffnen muss, wollte den Menschen, vor allem den männlichen Menschen nur schwer in den Kopf. Und Katzi wollte wirklich oft rein und raus. Und selbst wenn sie mal nicht rein oder raus wollte, musste sie in regelmäßigen Abständen überprüfen, ob ihre Befehle noch ohne Widerstand befolgt wurden.
Kurzum, mein Vater durchschaute das mit dem kätzischen Streben nach der Weltherrschaft möglicherweise schneller als ich … und er hatte nicht die Absicht, sich instrumentalisieren zu lassen. Gleichwohl konnte er der jammernden Katze nicht widerstehen, so dass er nach anderen Lösungen suchte, um nicht alle fünf Minuten eine Tür öffnen zu müssen. Es dauerte nicht lange, bis er die Haustür, unsere teure einbrechersichere Endreihenhaushaustür, ausbaute und mit der Stichsäge unten eine Öffnung aussägte, durch die eine mittelgroße Katze, nicht aber ein mittelgroßer Einbrecher passte.
Katzi war begeistert von ihrer eigenen Haustür und ging fortan ein und aus, wie es ihr gefiel. Mit ihr ihr fester Freund Fritz aus der Nummer 4 und gelegentlich auch mal andere Kater (sie war schon ein flotter Feger, die Katzi!). Auch quer im Schnäuzchen getragene Mäuse und andere Beutetiere passten bequem durch die Katzentür, so dass wir jahrelang auch mit lebenden, halbtoten und halben Mäusen zusammenlebten.
Katzi wurde ziemlich alt, 19 Jahre, sie lebte noch viele Jahre bei meinen Eltern, als ich schon ausgezogen war. Mit zunehmendem Alter wurde sie häuslicher, kürzere Ausflüge in den Garten genügten ihr meistens. Und so klebte mein Vater eines Tages das ausgesägte Stück mit Holzleim wieder in die Haustür. Das hielt sehr gut, trotzdem sah und sieht man noch die Umrisse der Katzentür von damals.
Mich hielt es, als ich endlich mit der Schule fertig war, nicht länger im Speckgürtel-Vorort; ich wollte in die Stadt und am liebsten im Theater wohnen. Oder eben ganz dicht dran. Das klappte dann ja auch und in meiner heutigen Wohnung wohne ich nun schon 18 Jahre – das ist viel länger als die Zeit, die ich in dem Endreihenhaus gewohnt habe!
Meine Eltern hingegen haben in diesem Endreihenhaus den größten Teil ihres erwachsenen und selbstbestimmten Lebens verbracht. Es war Teil ihrer Selbstverwirklichung und ihres Selbstverständnisses, ihrer Lebens- und Finanzplanung. Sie haben eingerichtet, ausgebaut, umgebaut, renoviert, gegärtnert, umdekoriert, repariert, umverteilt und ausgehalten. Gelebt. Zwei Kinder großgezogen. Freunde gefunden und verloren. Tennisclubs, Chöre und Frauengruppen gegründet. Eben einfach ihren Lebensmittelpunkt bestimmt und gestaltet.
Nach dem Tod meines Vaters war meine Mutter zunächst sehr unentschlossen, ob sie in dem Endreihenhaus bleiben oder umziehen soll. Klar, das Haus ist über die Jahre nicht neuwertiger geworden und sie körperlich nicht stärker. Eigentlich braucht sie schon Hilfe zum Öffnen ihrer Marmeladengläser, vom Öffnen der leicht verzogenen Fenster reden wir lieber gar nicht. Aber es war ihr Haus, voll mit ihren Dingen, tausend Erinnerungen und einfach ein Fels in der Brandung. Und außerdem weiß sie, wo es steht, das heißt, sie findet zu hundert Prozent und von überall zurück nach Hause. Da meine Mutter einen legendär schlechten Orientierungssinn hat, ist das ein Gesichtspunkt, den man nicht außer Acht lassen darf.
Dann wurde meiner Mutter eine Wohnung angeboten. In einem kleinen Mehrfamilienblock auf der anderen Seite des Spielplatzes. Drei Zimmer, erste Etage, sonnig, ruhig und bezahlbar. Sie überlegte gründlich, ungefähr vierzehn Minuten lang, und schlug dann zu. Ab Juli zieht sie nun um, von Nummer 10 in Nummer 8. Der hastig hinzugezogene Makler gab eine recht ermutigende Schätzung des Hauswertes ab… und war trotzdem selbst überrascht, als bereits nach einer Woche ein Käufer ein Gebot für das Endreihenhaus abgab, das all unsere Erwartungen bei Weitem übertraf. Und quasi sofort einen Termin beim Notar machte, um den Kaufvertrag abzuschließen.
Nun verkauft meine Mutter also das Endreihenhaus mit all seinen Macken und hochindividuellen Einbauten, der erst vor zwei Jahren angeschafften Markise, tausend Erinnerungen und den Umrissen einer Katzentür in der Haustür. Durch diesen Kauf wird sie steinreich und damit natürlich quasi Heiratsmaterial, also eine gute Partie. Ich muss mal sehen, wann ich sie darauf noch mal explizit hinweise. Vielleicht direkt, nachdem ich dem Käufer verraten habe, an welcher Stelle im Garten der Katzenfriedhof liegt. Nicht, dass der nach dem ersten Versuch, irgendwas im Garten umzugestalten, vor Schreck über geheimnisvolle Knochenfunde Kriminalpolizei und Spurensicherung alarmiert.
Eine Fanny kannte ich als Kind auch. Sie war das „Mühlenpferd“ und ich habe mich bis heute nie gefragt, wozu eine Mühle um 1970 herum ein Pferd brauchte.