Ein Notfall in der Oper.

Ein Notfall in der Oper oder: Wenn für ein dreiaktiges Umbesetzungsdrama keine Zeit bleibt.

Opernsänger sind eine sehr eigene Spezies. Die Ausübung ihres Berufes hängt voll und ganz davon ab, dass Körper und Seele die notwendigen Komponenten, also vor allem die Stimme, im entscheidenden Moment bereitstellen und im Idealfall jederzeit abrufbar machen. Opernsänger tragen ihr Instrument immer mit sich herum, sie können es nicht – weil das Wetter nicht stimmfreundlich ist oder weil sie sich mal eine Nacht ohne Schlaf und mit viel Alkohol um die Ohren hauen wollen – zu Hause in den Schrank packen und unbekümmert losziehen.

In dieser Hinsicht sind Opernsänger vor allem mit Leistungssportlern zu vergleichen, die ja auch mehr oder weniger ihr ganzes Leben auf ihren Sport und idealerweise regelmäßige Höchstleistungen ausrichten. Opernsänger müssen nach Plan essen und schlafen sowie ihr Liebesleben und soziale Kontakte mit ihrem Beruf abstimmen. Ihr Tag wird durch Proben und Rollenstudium, eventuelle Reisen und vor allem natürlich durch Vorstellungen strukturiert.

Opernsänger sind im Allgemeinen sehr gut organisiert, jedenfalls, wenn sie den Beruf über eine längere Zeit gesund und erfolgreich ausüben wollen. Sie wissen, was sie benötigen und was sie vermeiden sollten. Was sie sich erlauben können und wann sie streng und diszipliniert mit sich selbst umgehen müssen. Sie kennen sich selbst sehr gut, haben ihre Tricks im Umgang mit aufziehenden Erkältungen oder Rückenschmerzen, der Medizinschrank in ihrem Bad ist eventuell größer als ihr Kleiderschrank und einige von ihnen sind mit dem Hals-Nasen-Ohren-Arzt nebenan per Du.

Opernsänger sind normalerweise sehr professionell; ihnen ist bewusst, dass so ein Opernabend nur durch das reibungslose Zusammenspiel sehr vieler Menschen und Kollektive tatsächlich so über die Bühne geht, dass das Publikum später mit dem Gefühl nach Hause geht, einem einmaligen Event beigewohnt zu haben. Opernsänger sind große Künstler, wenn es darum geht, sich mit einer Erkältung nicht anzustecken. Fast immer. Aber natürlich – wie im wirklichen Leben – erwischt es irgendwann eben doch auch den Tenor im Ganzkörperkondom und die Altistin, die schon seit zwölf Jahren niemandem mehr die Hand geschüttelt hat.

Opernsänger sind daran gewöhnt, das Opernhaus, an dem sie gerade arbeiten, über ihren Gesundheitszustand ständig auf dem Laufenden zu halten und beim ersten Kratzen im Hals eine prophylaktische Vorwarnung auszusprechen. Auch wenn noch keineswegs sicher ist, dass aus dem Kratzen wirklich eine Erkältung wird und dass diese auch tatsächlich „auf die Stimme geht“, ist es wichtig, dass das Theater die Gelegenheit bekommt, sich zu überlegen, was es im Fall der Fälle denn tun will.

Es gab vor ein paar Tagen einen sehr interessanten Blogpost der Bayerischen Staatsoper, in dem genau geschildert wird, wie ein großes Opernhaus mit einer angekündigten und sich dann auch realisierenden Sängerabsage umgeht: Umbesetzungen. Ein Drama in 3 Akten.

Ganz wichtig ist, dass dieses Drama jeden Opernsänger mal trifft: Mal ist er der Baum, mal ist er der Hund. Will sagen: Mal wird er krank und muss eine Vorstellung absagen und mal ist er der Sänger, der gebeten wird, für einen anderen Sänger in einer Vorstellung einzuspringen. Dieses Bewusstsein sorgt im Allgemeinen dafür, dass man verantwortungsvoll und kollegial miteinander umgeht und sich das Sängerleben gegenseitig nicht schwerer als unbedingt nötig macht.

Man hält sich an die Regeln, vor allem an die, dass man, wenn man abends eine Vorstellung zu singen hat, schon am Morgen nach dem Aufstehen überprüft, ob die Stimme gut geschlafen hat und „da ist“ (okay, die meisten Sänger überprüfen das auch an allen anderen Tagen). Sollte in dieser Hinsicht ein Zweifel bestehen, dann muss man handeln. Je nachdem, was man in früheren Situationen als hilfreich empfunden hat: Erstmal duschen und Kaffee trinken, dann richtig einsingen. Oder gurgeln, beten und richtig einsingen. Noch eine Stunde schlafen, beten, einsingen. Gymnastik machen. Salbeitee trinken. Geheime Mittelchen zur Anwendung bringen. Wasser trinken. Denken: Es ist ja auch noch sehr früh, das wird schon. Den Hals-Nasen-Ohren-Arzt des Vertrauens anrufen oder direkt hingehen. Das Künstlerische Betriebsbüro im Opernhaus anrufen. Und zwar vor zwölf Uhr.

Zwölf Uhr. Der magische Zeitpunkt. Der Zeitpunkt, bis zu dem Opernsänger ihre Zweifel, am Abend auftreten und/oder singen können, beim Opernhaus anmelden dürfen. Wer nach zwölf nicht zumindest ein drohendes „Ich gehe jetzt zum Arzt!“ kommuniziert hat, möge für immer schweigen, bis der Dirigent ihm am Abend den ersten Einsatz gibt.

Wenn bis zwölf Uhr kein in der Abendvorstellung geplanter Sänger angerufen hat, atmen die Mitarbeiter des Künstlerischen Betriebsbüros – kurz KBB – einmal tief durch, um sich anschließend ihren tausend anderen Aufgaben zuzuwenden. Nicht in der Abendvorstellung geplante Sänger, die aber in der Lage wären, im Falle einer Kollegenabsage eine Partie in der Vorstellung kurzfristig zu übernehmen, atmen ebenfalls tief durch und gehen davon aus, dass sie diesen Tag nun selbst gestalten dürfen (sofern sie nicht gerade in Proben für eine andere Produktion stecken, natürlich).

Aber… werden Sie sagen…. Aber was ist denn, wenn nun ein Opernsänger nach zwölf Uhr krank wird? Tja, wird Ihnen der Leiter des Künstlerischen Betriebsbüros erwidern, dann sollte er besser gleich einen Anwalt mitbringen. Was sich in der Praxis als nicht haltbar erweist, aber doch die meisten Opernsänger davon abhält, sich kurz vor der Vorstellung wegen einer überraschend aufgetretenen Erkältung oder eines anderen eher nicht dramatischen Mimimi krank zu melden. Natürlich kann man auch zwischen zwölf Uhr und dem Beginn der Vorstellung krank werden oder die Treppe runterfallen oder auf dem Weg ins Theater in einer Schneewehe steckenbleiben… aber gegen siebzehn Uhr anrufen und erwähnen, dass man sich schon morgens merkwürdig gefühlt habe, kommt eher nicht gut an.

Auch sind Opernsänger im Normalfall pünktliche Menschen. Sie kommen rechtzeitig vor der Aufführung ins Theater, um zur verabredeten Zeit in die Maske zu gehen, ihr Kostüm anzuziehen, sich noch einmal einzusingen, ein Schwätzchen mit den Kollegen zu halten oder geheimnisvolle Vorbereitungsrituale zu vollziehen, die sehr individuell sein und sehr wichtig sein können. Allerspätestens kommen sie, das ist Theatergesetz, eine halbe Stunde vor dem Spielabschnitt, in dem sie dran sind, ins Haus. Wer zu diesem Zeitpunkt nicht da ist und sich auch nicht gemeldet hat, um zu sagen, dass er zwar noch im Stau steht, das Opernhaus aber schon sehen kann, löst quasi Alarm aus und eine Menge Menschen, die für den reibungslosen Ablauf des Abends zuständig sind, geraten in Unruhe und Aktion. Aber selbst, wenn alle Sänger gut ausgeschlafen und pünktlich im Theater eingetroffen sind, kann noch immer etwas schiefgehen. So wie letzten Dienstag.

Auf dem Programm stand „Die Hochzeit des Figaro“ von Mozart, besetzt fast vollständig mit Sängern aus dem hauseigenen Ensemble der Staatsoper. Für fast alle Partien in diesem Stück gibt es im Ensemble sogar zwei Sänger, die Musik, Text und Regie gut genug kennen, um jederzeit einspringen zu können. Was sehr nützlich ist, denn in dieser Jahreszeit fällt fast jeden Abend irgendwer wegen einer Erkrankung der Atemwege (also Husten, Schnupfen, Heiserkeit) aus.

Am Dienstagabend war der Kollege W. als Figaro geplant. Er hatte auch schon die beiden vorigen Aufführungen gesungen, eine geplant und die anderen kurzfristig, weil der ursprünglich vorgesehene Kollege A. wegen einer heftigen Erkältung hatte absagen müssen. A. war in dieser Woche in Proben für eine andere Aufführungsserie, hatte aber am Dienstagabend frei und war froh, mal einen Abend nicht ins Theater zu müssen. Da sich bis zwölf Uhr niemand bei ihm gemeldet hatte und es nun schon fast sieben Uhr (Vorstellungsbeginn) war, wähnte er sich auf der sicheren Seite, machte sich sein Abendessen und freute sich auf einen ruhigen Abend.

Was A. nicht wusste: W. war überpünktlich ins Theater gekommen, fühlte sich aber nicht besonders gut. Irgendwie war sein Kreislauf lahm, seine Augen fühlten sich merkwürdig an und insgesamt kam er sich vor wie unter einem Berg Watte. Er hatte sich brav eingesungen und war in die Maske gegangen, hatte aber auch im Künstlerischen Betriebsbüro angerufen, um dort darum zu bitten, vor der Vorstellung doch noch kurz den Theaterarzt bei ihm vorbeizuschicken.

Als W. um den Besuch des Arztes bat, war dieser noch gar nicht im Haus. Mein Kollege T. aus dem KBB hatte aber eine Telefonnummer und rief den Arzt, der an diesem Abend eine Ärztin war, an und bat, möglichst früh ins Theater zu kommen und sich dann direkt zu W. bringen zu lassen… „mal gucken, er hat ein bisschen Kreislauf, vielleicht reicht ja dann doch eine Cola, um ihn wieder in Gang zu bringen…“ Dasselbe erzählte er auch rein prophylaktisch A., den er kurz zu Hause anrief, um sicherzustellen, dass dieser im Notfall erreichbar war.

Eine Cola und die Versicherung eines Arztes, dass eigentlich alles gut ist, reichen meistens, aber nicht an diesem Abend. Die herbeigeeilte Theaterärztin brauchte erstaunlich lange zur Untersuchung von W. Es war bereits fünf nach halb sieben, als T. vom KBB, der die Ärztin in die Sängergarderoben gebracht hatte, wieder nach oben gerast kam (hechelnd, denn unsere Büros sind sehr weit von der Bühne und den Garderoben entfernt), um uns mitzuteilen, dass die Ärztin W. sehr ernsthaft davon abgeraten hatte, die Vorstellung zu singen. Angesichts seiner Symptomatik riet sie ihm sehr dringend dazu, sich sofort im Krankenhaus untersuchen zu lassen, um einen Herzinfarkt oder Schlaganfall ausschließen zu lassen!

T. hechtete sofort ans Telefon, um A. zu aktivieren bzw. zu überreden, sofort und ohne Umwege ins Theater zu kommen. Ich orderte währenddessen schon das Taxi zu ihm nach Hause. Während T. dann – es war mittlerweile viertel vor sieben – alle Abteilungen darüber informierte, dass die Vorstellung mit Verspätung beginnen müsse und mit einem anderen Sänger in der Titelpartie (was natürlich vor allem für Kostüm und Maske eine extrem wichtige Information war), ging ich nach unten zum Bühneneingang, um A. in Empfang zu nehmen und auch zu schauen, was jetzt mit W. war.

Am Bühneneingang, auf Treppen und in Gängen herrschte eine große Unruhe. Natürlich hatten die Kollegen aller Abteilungen mitbekommen, dass etwas nicht in Ordnung war, aber niemand wusste genau, was los war. Der Krankenwagen vor dem Haus beruhigte die Gemüter auch nicht gerade. Ich beschwichtigte mit nichtssagenden Worten und war froh, als A. genau um sieben um die Ecke kam und ich mich verdrücken konnte. Eine schnelle Nachricht an T., der die Info weiterverteilte und dann mit den zuständigen Kollegen die Beginnzeit auf halb acht verlegen. Das musste natürlich dem Publikum, das bereits im Zuschauerraum saß und auf den Beginn der Vorstellung wartete, mitgeteilt werden.

Ich war mittlerweile zu W. vorgedrungen, der wie ein Häufchen Elend zwischen zwei Rettungssanitätern in seiner Garderobe saß. Ein Häufchen Elend mit Make-up im Gesicht und einer mit Noten und anderen musikalischen Zeichen geschmückten Kniebundhose. Und einer Infusion. Da W. an diesem Abend keine Verwandten oder Freunde mit im Theater hatte, bot ich ihm an, ihn ins Krankenhaus zu begleiten. Er freute sich. Die Sanitäter waren allerdings schon dabei, ihn einzupacken und abzutransportieren, und ich musste noch aus meinem weit entfernten Büro Handtasche und Jacke holen. Also folgte ich dem Krankenwagen dann fünf Minuten später mit dem Taxi, nachdem ich T. und einigen anderen Kollegen versprochen hatte, sie zu informieren, sobald es Erkenntnisse zum Gesundheitszustand von W. gab.

Bis ich mich im Krankenhaus in die Notaufnahme durchgekämpft hatte, war es bereits fast halb acht und ich wusste, dass im Opernhaus jetzt gerade die Vorstellung begann. Natürlich nach einer erklärenden Ansage für das Publikum, das ja wegen der Verspätung getröstet werden musste und auch darüber informiert wurde, dass der Held der Stunde, A., ohne den dieser Abend sang- und klanglos hätte ausfallen müssen, selbst auch etwas angeschlagen war. Das Publikum ist in solchen Momenten übrigens immer ganz großartig und feiert heldenhafte Einspringer frenetisch – ganz unabhängig davon, ob sie an diesem Abend große oder eher mittelgroße Leistungen abliefern.

„Ich möchte zu W.“, erklärte ich der Dame an der Anmeldung der Notaufnahme.

„Hm“, erwiderte sie. „Den Namen habe ich hier noch gar nicht.“

„Er ist gerade direkt aus der Staatsoper eingeliefert worden…“

„Staatsoper? Ist er geschminkt?“ unterbrach sie mich. „Den habe ich gesehen!“

W. war gut angekommen und direkt in ein Behandlungszimmer verfrachtet worden. Ich nahm im Wartezimmer Platz, schrieb eine erste Nachricht an die Kollegen und hoffte einfach mal das Beste!

Der Abend ging gut aus:
W. bekam keine schlimme Diagnose, sondern erfuhr, dass er zum ersten Mal im Leben Opfer einer „Migräne mit Aura“ geworden war. Die Symptome vor allem der Aura können denen eines Schlaganfalls sehr ähnlich sein. Insofern war die Empfehlung der Theaterärztin, die Vorstellung nicht zu singen, sondern lieber ins Krankenhaus zu gehen, völlig richtig. (Wenn ein Opernsänger erst einmal auf der Bühne ist und ordentlich Adrenalin ausschüttet, ist es nicht sicher, dass er sich verschlimmernde Symptome überhaupt bemerken würde.) Es ging ihm schon später am Abend wieder gut, obwohl er ziemlich erschöpft war.
A. hat die Vorstellung tapfer bis zum Ende durchgehalten. Auch er war dann ziemlich erschöpft. Am nächsten Morgen bekam er beim Arzt eine Krankschreibung für den Rest der Woche, so dass wir ihn in der Vorstellung am Samstag umbesetzen mussten (ein Klacks mit so viel Vorlauf!). Er war aber sehr froh, dass er uns die Aufführung hatte retten können, und auch ein bisschen stolz auf sich.
Das Publikum kam an diesem Abend eine halbe Stunde später nach Hause (was bei einem so „langen Lied“ wie Figaro schon von Bedeutung ist). Es beklatschte die Aufführung und vor allem A. aber sehr freundlich. Ich glaube, das Publikum freut sich immer ein bisschen, wenn etwas Außergewöhnliches geschieht und es ein bisschen mehr über die Hintergründe und „Interna“ erfährt. Das Publikum ist nämlich im Großen und Ganzen menschlich.
T., die anderen Kollegen auf unter hinter der Bühne und ich waren heilfroh. Erstens, dass der Lappen am Dienstagabend dann doch hochgehen konnte. Zweitens, dass niemand ernsthaft krank war. Drittens, dass in solchen Momenten an unserem Haus doch immer alle Beteiligten an einem Strang ziehen und zu Höchstleistungen auflaufen, egal ob sie sich sonst immer lieb haben oder nicht. Ja, auch hinter und neben der Bühne wird Adrenalin produziert, und das nicht zu knapp. Und das muss an einem Opernhaus auch so sein, sonst könnte man nämlich auch einen anderen Job und pünktlicher Feierabend machen.

 

 

 

7 Kommentare

  1. Ups, auf „Senden“ gekommen. Wollte noch sagen: da ist es sehr von Vorteil, im Chor zu stehen, wo man sich ein Mitmachen mit nicht voller Kraft leisten kann und die Stimme nach der einen Aufführung auch erst mal nicht wieder gebraucht wird…

    1. Danke für diese eigene Erfahrung. Ja, stimmt, bei Konzerten mit Laienchören mit Profi-Solisten kann auch ganz schön was was los sein. Das weiß ich noch aus den (längst vergangenen, kurzen und nicht sehr erfolgreichen) Zeiten, in denen ich solistisch unterwegs war. Natürlich kann man so ein Konzert als Chorsänger nicht ausfallen lassen, wenn man sich etwa ein halbes Jahr darauf vorbereitet und gefreut hat! Dann wird halt mit Kopf unter dem Arm gesungen, ist doch klar…

  2. Auweia. Ich wünsche niemanden Migräne-Kandidat zu sein. Opernsängern nun noch viel weniger.

    Danke für den Text, er macht deutlich wo überall in diesem Land kleine wichtige Helden und Heldinnen sitzen und zaubern! <3

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