Die fünfte Woche im Homeoffice und nun steht fest, dass sich das auch noch eine Weile fortsetzen wird.
Bei den Beratungen der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten der Länder ist diese Woche beschlossen worden, dass es für Großveranstaltungen aller Art noch keine Lockerungen von den Corona-Verboten geben kann und wird. Die genauere Ausgestaltung dieses Beschlusses und die Definition, was denn nun eine Großveranstaltung ist und was nicht, liegt dabei im Ermessen der einzelnen Bundesländer.
Der Hamburger Senat will in diesem Zusammenhang offenbar – durchaus sinnvolle – Nägel mit Köpfen machen. Bei der allgemeinen Landespressekonferenz am Freitagnachmittag ging es zwar nicht um Kultur im Sinne von Livemusik und darstellenden Künsten, aber am Abend meldete sich der Kultursenator im NDR zu Wort:
‟Wir gehen ehrlicherweise alle davon aus, dass wir im Laufe dieser Spielzeit nicht mehr in eine Situation kommen, in der wir in einem Saal gemeinsam sitzen und jemandem zugucken, der auf der Bühne spielt, singt, tanzt oder musiziert. Deshalb haben wir gesagt, die Theater, die Elbphilharmonie, die Oper und die Musikclubs bleiben bis zum 30. Juni geschlossen. Das gibt den Häusern Planungssicherheit, weil sie nicht mehr auf eine Premiere, von der sie ahnen, dass sie sie absagen müssen, hin proben müssen.”
Carsten Brosda, Kultursenator der Stadt Hamburg, im NDR Hamburg Journal am 17. April 2020
Diese Ankündigung kam nicht überraschend, natürlich nicht. Und sie ist – zumindest was die Staatsoper Hamburg angeht – nicht nur überaus betrüblich, sondern auch sinnvoll und in gewisser Weise beruhigend. Für ein Opernhaus dieser Größenordnung ist nämlich Planungssicherheit extrem wichtig. Sehr sehr viele Menschen und bedeutende materielle Werte sind abhängig von belastbaren und verlässlichen Entscheidungen. Unsere Planungen sind langfristig, sehr langfristig, und die Auswirkungen der Corona-Pandemie werden, selbst wenn es mit dem Beginn der nächsten Spielzeit im Herbst wieder bergauf und relativ normal geradeaus gehen sollte, noch mehrere Jahre lang zu spüren sein.
Ein Beispiel: Nächsten Sonntag hätten wir Premiere haben sollen. ‟Elektra” von Richard Strauss, eins der gewaltigsten Werke im Opernrepertoire, ein ‟Chefstück” mit riesigem Orchester, erstaunlicherweise winzigem Chor und sechzehn Solopartien, davon drei der großartigsten Frauenrollen bzw. Gesangspartien der gesamten Opernliteratur: Klytämnestra und ihre Töchter Elektra und Chrysothemis. Es versteht sich von selbst, dass diese drei Partien in einer Neuproduktion an einem Opernhaus unserer Größe mit internationalen Gastsängerinnen besetzt werden. Ebenso Orest, der verlorene Bruder von Elektra und Chrysothemis. Dirigiert hätte Kent Nagano, der Hamburger Generalmusikdirektor, das gesamte Regieteam wäre aus Russland angereist.
Die Proben hätten Mitte März beginnen sollen; sechs Wochen sind in Deutschland eine übliche Probenzeit in der Oper. Das Bühnenbild und die Kostüme wären zum Probenbeginn schon mehr oder weniger fertig gewesen, das Inszenierungskonzept schon lange bekannt, die Sänger musikalisch studiert und vorbereitet, genauso wie diverse festangestellte Mitarbeiter*innen aus diversen Abteilungen des Hauses: Regieassistenz, musikalische Assistenz und Korrepetition, Soufflage, Inspizienz, Komparserie, Bühnentechnik, Kostümabteilung/Garderoben sowie das Maskenwesen, Requisite, Beleuchtung, Ton, Video und so weiter uns so fort.
Und natürlich meine Abteilung, der ‟Künstlerische Betrieb”, bestehend aus der Künstlerischen Betriebsdirektion, der Castingdirektion, der Produktionsleitung und dem Künstlerischen Betriebsbüro. Wir verwalten quasi die Kunst, planen und besetzen, langfristig und kurzfristig. Die Planung an sich ist sehr langfristig, der Spielplan steht im Allgemeinen so zwei bis fünf Jahre im Voraus, die Besetzungen ein bis drei Jahre. Natürlich kann man zwei oder drei Jahre im Voraus noch Dinge ändern, aber je mehr Termine und Künstler schon (vertraglich) fixiert sind, desto schwieriger wird das.
Zurück zu Elektra. Die Proben hätten Mitte März beginnen sollen, also genau zu dem Zeitpunkt, in dem der Hamburger Senat beschloss, dass im Rahmen der Corona-Eindämmungsmaßnahmen bis zum 30. April keine Theateraufführungen in Hamburg stattfinden sollten. Es dauerte ein paar Tage länger, bis klar war, dass, zumindest bis Mitte April, auch keine Proben, weder szenisch noch musikalisch, stattfinden würden.
Wir überlegten. Die Premiere und die zweite Aufführung von Elektra hätten vor dem 30. April gelegen, die letzten vier Aufführungstermine aber im Mai. Wenn wir jetzt ab Mitte April wieder probieren könnten, dann wäre es zwar zu spät für eine szenische Premiere, aber konzertante Aufführungen (rein musikalisch, ohne Bühnenbild, Kostüme, Licht und ohne szenische Aktion) wären machbar. Vorausgesetzt, man darf die internationalen Gastsänger für die wichtigsten Partien dann auch anreisen lassen, ohne dass sie wochenlang in Quarantäne müssen. Was, wie wir jetzt wissen, auch sowieso wohl nicht geklappt hätte.
Wäre das gegangen, dann hätten wir den Mitwirkenden nur zwei von sechs Aufführungen absagen müssen. Wir hätten den freischaffenden Künstlern also immerhin den größten Teil ihrer Honorare zahlen können, wir hätten Tickets verkaufen können (bzw. nicht erstatten müssen) und die festen Mitarbeiter wären im Theater statt im Homeoffice oder in Kurzarbeit.
Was wir aber nicht gehabt hätten, wäre eine Neuproduktion der Oper ‟Elektra”. Was blöd wäre, denn diese ist auch in den nächsten Spielzeiten fest eingeplant und die benötigten Sänger sind längst engagiert. Natürlich nicht wieder für sechs Wochen Proben, denn die braucht es natürlich nicht für ganz normale Repertoire-Aufführungen, bei denen die Produktion an sich ja schon da ist und man nur kurze Wiederauffrischungsproben einplant, denn in diesem Fall hätten wir z. B. Nächstes Jahr tatsächlich eine in den wichtigen Partien identische Besetzung gehabt. Und selbst wenn die Sänger in der nächsten Spielzeit statt zehn Tagen auch sechs Wochen probieren könnten – was allerdings ein mittleres Weltwunder wäre – dann könnten wir die Premiere trotzdem nicht dorthin verlegen, denn der Regisseur ist zu der Zeit an einem anderen Theater engagiert. Und selbst wenn der Regisseur könnte, müssten wir in den sechs Wochen Vorbereitungszeit verschiedene Proben und sogar Aufführungen anderer Produktionen aus dem Spielplan verschieben oder streichen, um genügend Kapazitäten für Elektra zu haben.
In der Spielzeit 2021/22 sind auch Vorstellungen von Elektra vorgesehen, natürlich auch wieder mit einer kurzen Probenphase. Einige Wochen vorher könnte aber der Regisseur wahrscheinlich sechs Wochen für uns erübrigen. Das bedeutet, dass wir eine andere Neuproduktion, für die noch nicht so viele Verträge abgeschlossen sind, wahrscheinlich auf noch später verschieben, und nun versuchen, die Original-Besetzung für Elektra auch für diese Periode zu engagieren. Was natürlich auch nicht so einfach bzw. zum Teil unmöglich ist, weil international gefragte Gastsänger mit knapp zwei Jahren Vorlauf nicht unbedingt sechs- bis achtwöchige Lücken in ihren Kalendern haben.
Wir werden Lösungen finden. Irgendwie. In der nächsten Spielzeit spielen wir vermutlich ein anderes Werk aus unserem Repertoire, das mit zehn Tagen Proben zu realisieren ist. Mit ganz viel Glück gibt es in diesem Werk auch passende Partien für die Elektra-Sänger, falls nicht, müssen wir dann andere Ersatztermine finden. Irgendwann. Im Rahmen von jahrelanger vertrauensvoller Zusammenarbeit klappt das immer irgendwie.
Die letzten beiden Monate dieser Spielzeit, die am letzten Juni-Wochenende hätte enden sollen, werden wir unseren Künstlern nun auch absagen müssen. Immerhin nicht scheibchenweise und wiederholt nur für die nächsten zwei Wochen. Das ist auf lange Sicht für alle Beteiligten besser, weil sich niemand mehr darüber Gedanken machen muss, ob es eigentlich Flüge und Hotels gibt und ob sie/er einfach nach Deutschland einreisen darf und nach dem Ende des Engagements wieder zurück in die Heimat. Weil niemand mehr befürchten muss, sich während einer erneut ansteigenden Corona-Fallzahl-Kurve in Hamburg zu befinden, obwohl sie/er lieber woanders wäre, es sich aber nicht leisten kann, ihren/seinen Vertrag nicht zu erfüllen. Weil wir nicht berechnen müssen, wie weit Sänger beim Singen wirklich spucken (oder Blasinstrumente), und bestehende Inszenierungen so ändern, dass die auf der Bühne tätigen Personen immer anderthalb Meter Abstand zueinander wahren können. Und im Orchestergraben, den man dafür mal eben in der Größe verdreifachen müsste. Weil wir unsere Künstler nicht täglich mit Fieberthermometer und Schnelltest-Kits begrüßen müssen.
Natürlich ist Oper überlebenswichtig. Aber nicht um jeden Preis.
Was ich hoffe, wirklich, sehr hoffe? Dass die Theater und ihre Träger, die Städte und Länder sowie der Bund, in der Lage sein werden, ihren freien Mitarbeitern und Gästen zumindest einen Teil ihrer Verdienstausfälle zu erstatten. Unabhängig davon, was über ‟Force Majeure” in den Verträgen steht und wie und wie lange sich das anwenden lässt. Bisher bekommen die Sänger und Dirigenten mit Gastverträgen in Hamburg nämlich gar nichts erstattet.
Ein Opernhaus wie die Staatsoper Hamburg wirbt mit großen Namen und lebt von großen Namen. Namen von freischaffenden Gästen, auf und hinter der Bühne und im Graben. Die festangestellten Mitarbeiter sind zwar in der Überzahl, aber ohne unsere Gäste könnten wir, was die künstlerische Qualität, das Renommee und den Kartenverkauf angeht, einpacken. Bei weitem nicht alle dieser Gäste bekommen Gagen, von denen sie locker Rücklagen für mehrere Monate ansparen können, vor allem nicht die jüngeren Kollegen, die noch nicht jahrzehntelang im Geschäft sind.
Unsere Spielzeit endet regulär im Juni, aber auch die meisten Opern- und Musikfestivals im Sommer sind bereits abgesagt. Die restlichen werden vermutlich bald folgen. Bis Ende August ist es dann schon fast ein halbes Jahr, in dem freischaffende Opernsänger ihrem Beruf nicht nachgehen können und keine Einnahmen haben. Und ob die neue Spielzeit dann im September wirklich so wie vorgesehen beginnen kann, steht auch noch in den Sternen. Die Menschen, die uns mit ihrer Kunst so oft beglücken, trösten und beleben, ohne zumindest einen Teil ihrer vertraglich vereinbarten Gagen und statt dessen mit einem freundlichen Hinweis auf Arbeitslosengeld und Grundsicherung sich selbst zu überlassen, finde ich nicht nur traurig, sondern vor allem verachtend. Kunstverachtend und menschenverachtend. Was eigentlich nicht zu Hamburg passt. Jedenfalls nicht so, wie die Stadt sich selbst sieht. Oder wie ich sie bisher gesehen habe.
Also: Retten wir unsere darstellenden Künstler. Damit es dann noch welche gibt, wenn wir irgendwann unsere Neuproduktion Elektra planen. Oder ganz normale Vorstellungen von La Traviata oder Die Zauberflöte oder was das Publikum halt so braucht, um ein paar Stunden im Dunkeln zu sitzen und großes Glück zu verspüren.