Hamburg ist eine von den Großstädten, in denen es sich sehr gut wohnen und leben lässt. Wir haben massenhaft frische Luft, Wasser von allen Seiten, Grün soweit der Blick zu schweifen vermag – und gleichzeitig gibt es flächendeckend Restaurants, Krankenhäuser, Schulen, Sportvereine, Supermärkte und ein ziemlich gut funktionierendes Öffentliches Nahverkehrsnetz. Hafen, Flughafen, vier Fernbahnhöfe und mehr Autobahnauffahrten, als man Industriegebiete drumrum bauen könnte, verbinden die Stadt mit der restlichen Welt. Gut, der Süden ist weit weg, aber dafür haben wir zwei Meere in Griffweite.
Parks und Grünflächen sind auch in der Innenstadt nie weit entfernt, davon dass große Teile des inneren Stadtbereichs eigentlich im Wasser liegen, mal ganz zu schweigen. Der Freizeitwert ist immens und auch bei Touristen steht die Stadt hoch im Kurs: Es gibt nicht allzu viele Sehenswürdigkeiten und die paar, die es gesehen zu haben gilt, liegen auch nicht weit auseinander. Einheimische, ob hier geboren oder zugezogen, schätzen ebenfalls die geringen Entfernungen. Selbst wer nicht mitten in der Stadt wohnen möchte, muss nicht täglich stundenlang mit Hin- und Herfahren verbringen. Und wer in der Stadt wohnt, der kann mit Glück alle täglichen Wege zu Fuß oder mit dem Fahrrad erledigen.
In Hamburg ist auch immer etwas los, jeden Tag finden Hunderte von Veranstaltungen aller Art statt, klein und groß, teuer ebenso wie kostenlos. Wer was erleben will, der findet immer was. Ich war in den ersten fünfzig Jahren meines Lebens bei so vielen Veranstaltungen, meistens im Zusammenhang mit Musik und Theater, dass es auch für die nächsten fünfzig Jahre reichen würde. Ich trete also im Moment etwas kürzer und freue mich, wenn ich mal nicht von einer Menschenmenge umgeben bin und der Lärmpegel nur bei Zimmerlautstärke liegt.
Trotzdem lebe ich gerne mitten in der Stadt. Vor allem in den wärmeren Jahreszeiten ist Hamburg wunderschön. Nur einige Meter und eine Hauptverkehrsstraße trennen mich von einem der schönsten Hamburger Parks, Planten un Blomen. Wende ich mich, sobald ich aus meiner Haustür trete, in eine andere Richtung, erreiche ich in etwa fünfzehn Minuten entweder den Hafen oder die Alster. Zu Fuß wohlgemerkt. Das ist schon ziemlich toll. Jedenfalls fast immer.
An einigen Tagen im Jahr allerdings verfluche ich die Attraktivität der Hamburger Innenstadt, die einladend blauen Gewässer und die herrlich breiten Straßen, die zu wunderschönen Parks führen. Weil sie wegen irgendwelcher bescheuerten Veranstaltungen gesperrt sind, die wegen der Attraktivität der Hamburger Innenstadt, der einladend blauen Gewässer und der herrlich breiten Straßen, die zu wunderschönen Parks führen, unbedingt genau hier stattfinden müssen.
Die Großveranstaltungssaison beginnt meist im April mit einem Marathon und hangelt sich dann über den Hafengeburtstag, einen Motorradgottesdienst im Michel, die Harley Days (die neuerdings dankenswerterweise in der Hafencity stattfinden), den einen oder anderen Halbmarathon, Schlagermove und CSD-Parade, Radrennen bis zum Alstervergnügen im September (von den Spielen des SV St. Pauli und dem dreimal im Jahr jeweils einen Monat lang stattfinden Dom, einem Dorfbums im großen Stil, rede ich ja schon gar nicht mehr). Im Durchschnitt findet jedes zweite Wochenende eine Großveranstaltung statt; mehr oder weniger alle bringen ein erhöhtes Touristenaufkommen, Straßensperrungen, Busumleitungen und – verspätungen, abendliches Feuerwerk und den ganzen Tag lang über meinem Kopf kreisende Hubschrauber mit sich.
Besonders gern habe ich es, wenn mein kleiner Stadtteil, die nördliche Neustadt, auf drei Seiten von irgendeiner Rennstrecke eingekesselt ist. Die vierte Seite ist die Elbe, da könnte ich natürlich mit dem Tretboot rübermachen, insofern kann ich nicht behaupten, dass ich gar nicht weg könnte. Nur eben einfach rausgehen und die Straße überqueren ist nicht, da stehen dann Absperrungen und Dixiklos und Ordner bzw. echte Polizisten, die einen schon aus Prinzip eine Weile (bis zu 20 Minuten) warten lassen, bis man über die Straße darf.
Mich nerven diese Veranstaltungen alle gleichermaßen und ich finde es von der Stadt gegenüber ihren Bewohnern nicht sehr nett, dass es tendenziell immer mehr Wochenenden werden, an denen wir uns in unserem städtischen Leben einschränken müssen, damit die Stadt einen weiteren Touristenmagneten oder Wirtschaftsfaktor einsetzen kann. Und eigentlich hat der Charme Hamburgs durchaus auch damit zu tun, dass man hier auf der Straße auch im Sommer noch Einheimische antrifft und nicht nur Touristen.
Immerhin ist es diesen Einheimischen, zumindest denen unter uns, die sich ab und zu dazu hinreißen lassen, ihr demokratisches Mitgestaltungsrecht in Anspruch zu nehmen und ein Kreuz auf einen Stimmzettel zu machen, gelungen, sowohl die lustige Idee, eine Seilbahn über die Elbe zu bauen, wie auch die noch lustigere Idee, die Olympischen Spiele demnächst mal in Hamburg stattfinden zu lassen, locker abzuschmettern. Das hat mein Vertrauen in meine Nachbarn durchaus gestärkt.
Nicht verhindern lässt sich allerdings offenbar die nicht wirklich lustige Idee, im Juli dieses Jahres den G20-Gipfel in Hamburg stattfinden zu lassen. Es liegt natürlich auf der Hand, dass man die 9.000 Teilnehmer inklusive Medienbeobachter, 15.000 Polizisten und die ebenfalls erwarteten ca. 10.000 reisenden Demonstranten nicht in das Kongresszentrum einer beliebigen Kleinstadt oder das wunderschöne, aber kaum von Einwohnern beanspruchte Heiligendamm auslagern kann. Also fiel die Wahl auf Hamburg, die Weltstadt mit Herz und genügend Fluchtmöglichkeiten ins Hinterland.
Aber auch Hamburg gelangt mit dieser Megaparty der wichtigsten Staatsmächte dieser Welt (wobei die Frage, ob die nicht eingeladenen Staaten das auch so sehen, noch nicht abschließend geklärt werden konnte) relativ schnell an seine Grenzen. Schon allein die sichere Unterbringung aller Gäste in Hotels und Gästehäusern dieser Stadt verursacht reichlich Probleme: Nicht nur, dass normale Menschen für die Gipfel-Zeit im Juli keine Zimmer in diversen Hotels der Stadt mehr buchen können. Auch bereits bestehende Buchungen wurden storniert und auch Stamm- und Dauergäste, oft namhafte übrigens, quasi im Voraus an die Luft gesetzt. Und selbst nach dieser Art der Mobilisierung letzter Zimmerreserven gibt es offenbar nicht genügend Hotels, deren Lage und Ausstattung sie vor allem in sicherheitsrelevanter Hinsicht dafür qualifizieren, einen so sympathischen und allseits beliebten Staatschef wie Trump, Putin oder Erdogan, jeweils mit Entourage natürlich, aufzunehmen.
Und wenn dann jeder ach so wichtige Gipfel-Teilnehmer ein warmes und im Ernstfall gut zu sicherndes Bett gefunden hat, muss dann ja noch geklärt werden, wie er von diesem Bett aus zügig und möglichst risikoarm ins Messezentrum und an verschiedene Nebenprogramm-Schauplätze transferiert werden kann. Hier kommt dann wieder die um ein Vielfaches verstärkte Hamburger Polizei zum Einsatz: Es gab ja schon einen „Testlauf“, das Treffen des OSZE-Ministerrates im letzten Winter, bei dem bereits reichlich Kolonnen dunkler Limousinen durch die Stadt geschleust wurden und der normale Berufsverkehr in der City weitgehend zum Stillstand kam. Die Sperrgebiete 1 und 2 rund um das Messezentrum sind ähnlich wie im Winter, sie umfassen neben dem Messegelände zwei Hauptverkehrsstraßen, mehrere Wohnstraßen, einen halben Park und die Bahngleise (S-Bahn und Fernbahn) zwischen Hamburg-Hauptbahnhof und Hamburg-Altona einschließen (und ja, beim OSZE-Treffen wurde zumindest die S-Bahn auch mal ohne vorherige Ankündigung für mehrere Stunden stillgelegt).
Die Hamburger Innenbehörde, die zurzeit sicher einen großen Teil ihrer Kapazität zur Lösung der anliegenden logistischen Fragen aufwendet, ist natürlich nicht verpflichtet, die Bürger ihrer Stadt in alle ihre Pläne einzuweihen. Es gibt zwar reichlich Informationen auf verschiedenen Websites, ein Bürgertelefon und regelmäßige Pressemeldungen, aber es versteht sich wohl von selbst, dass man berechtigte Hoffnung hegt, manche Sachen einfach so schnell erledigen zu können, ohne sie vorher in großem Stil anzukündigen. Was ich durchaus nachvollziehbar finde. Schließlich haben zahlreiche Gegner des Gipfels, darunter auch möglicherweise gewaltbereite Gruppierungen und Plattformen, zum Boykott aufgerufen, z. B. durch Sitzblockaden auf den Anfahrtswegen zum Messezentrum.
In der letzten Woche meldete sich nun der Hamburger Innensenator Andy Grote in diesem Zusammenhang zu Wort: Er warnte Demonstranten und Blockierer davor, sich Fahrzeugkolonnen in den Weg zu stellen:
„Mit der Freihaltung der Protokollstrecken schützt die Polizei auch die Teilnehmer möglicher Blockade-Aktionen. Sollte es zu einer erfolgreichen Blockade kommen, würden sich die Teilnehmer beim Aufeinandertreffen mit der Kolonne in Gefahr bringen.“
Diese Äußerung wird in Fachkreisen dahingehend interpretiert, dass die schwerbewaffneten Personenschützer von Staatschefs mit der Sicherheitsstufe 1 eventuell jeden noch so kleinen Stillstand auf einer ihrer Kolonnenfahrten (für die bereits vorher die gesamte vorgesehene Strecke komplett abgesperrt wird) als akute Terrorgefahr deuten und entsprechend reagieren könnten – ohne Rücksicht auf das deutsche Versammlungsrecht, Verhältnismäßigkeit und andere Kleinigkeiten wie die körperliche Unversehrtheit von Menschen, die zufällig in der Nähe sind.
Wie ich das verstanden habe: Die Hamburger Polizei wird alles in ihrer Macht Stehende dafür tun, dass keine der für eine Panzerfahrzeugkolonne gesperrten Strecken von Demonstranten blockiert wird. Sollte sie dies aber, warum auch immer, nicht verhindern können, dann hat sie möglicherweise keinen Einfluss mehr auf aus deutscher Sicht unangemessenes Verhalten ausländischer Staats- und Personenschützer. Na, Mahlzeit!
Man darf also davon ausgehen, dass der G20-Gipfel alle anderen Hamburger Großveranstaltungen, völlig egal wie nervig diese erscheinen, wie Kindergeburtstage aussehen lassen wird. Wohl denen, die der Stadt an diesen Tagen einfach den Rücken kehren können. Ich kann das nicht; ich werde irgendwie zwischen meiner Wohnung und meinem Arbeitsplatz hin- und herkommen müssen, vorbei an mehreren großen Hotels durch vielbefahrene Hauptverkehrsstraßen. Immerhin wohne ich nicht im Sperrgebiet, sondern etwa 300 Meter davon entfernt. Und es sind ja auch nur zwei Tage, an denen meine wunderschöne Stadt quasi unbenutzbar wird. Zwei Sommertage. Was rege ich mich eigentlich auf? Ist es noch zu früh für Alkohol?