Lottis geheimnisvolle Nachricht

Es war unerträglich eng. Und heiß. Frl. Leonie Mau wischte sich erschöpft den Schweiß von der haarigen Stirn, was sich irgendwie auch nicht hilfreich anfühlte, und kämpfte sich weiter vor durch die Dunkelheit. Zentimeter für Zentimeter. Es roch gar nicht heiß, eher ein bisschen nach der Sandelholz-Seife, die die dicke freundliche Frau manchmal in Schränke und Schubladen stopfte (die Schränke und Schubladen waren auch ohne Seife sehr voll), ein bisschen ungelüftet und ein ganz bisschen nach Lotti.

Das machte Frl. Leonie Mau Mut. Erstens, dass Lotti hier, in der hoffnungslos überfüllten Sockenschublade, gewesen war und sich ihren Weg durch die Dunkelheit gebahnt hatte, und zweitens, dass sie irgendwie auch wieder nach draußen gefunden habe musste. Ein bisschen rätselhaft fand Leo das zwar schon, denn sie fand, wie gesagt, die Schublade unerträglich eng und schließlich war Lotti ein bisschen fülliger um die Hüften gewesen als sie. Also musste es für sie, Frl. Leonie Mau, knappe zwei Kilo leichter als ihre Schwester in deren besten Zeiten, doch eigentlich ein leichtes sein, sich in dieser Hölle aus schwarzen Socken fortzubewegen.

Die Socken in dieser Schublade waren nicht mehr in Betrieb, unabhängig davon, ob sie in Paaren auftraten oder nicht, ob sie sehr große Löcher hatten oder nur kleine. Die dicke freundliche Frau benutzte inzwischen spezielle Socken für empfindliche Füße und Knöchel, die ohne fiese Bündchen halbwegs zuverlässig saßen. Die alten Socken hatten ihren Füßen zu sehr wehgetan. Nicht, dass das ein Grund für die dicke freundliche Frau gewesen wäre, sie auszusortieren und wegzuwerfen. Natürlich nicht. Sie durften in ihrer Schublade bleiben und der Dinge harren – wie geschätzt 85 % aller Kleidungsstücke in diesem Schrank. Geschätzt von Frl. Leonie Mau, nicht von der dicken freundlichen Frau. Die sagte: Ach, ich habe schon so oft plötzlich wieder eine andere Kleidergröße getragen als vorher und mich dann immer sehr gefreut, wenn ich irgendwo im Schrank noch passende Teile gefunden habe. Das kann doch jederzeit wieder passieren! Und Frl. Leonie Mau lächelte freundlich, nickte stumm und dachte sich ihren Teil.

Aber darum ging es jetzt überhaupt nicht. Es ging darum, die geheime Nachricht zu finden, die Lotti ihrer Schwester Leo in dieser Sockenschublade hinterlassen hatte. Vielleicht. Wenn Leo mit ihrer Vermutung richtig lag, dass Lotti ihr – mit genau dieser überfüllten, sandelholzmuffeligen Sockenschublade in geöffnetem Zustand im Hintergrund – im Traum erschienen war. Als Antwort auf Leos hektisches Grübeln darüber, was mit der Weltherrschaft, die auf der anderen Seite des Schrankes zwischen den zu klein gewordenen Hosen in Sicherheit gebracht worden war, geschehen sollte. Denn Leo hatte absolut überhaupt keinen Plan. Sie wollte die Weltherrschaft nicht, hatte sie nie gewollt. Wozu? Leo war überzeugte Demokratin mit einem Hauch Anarchistin im Blut. Was hätte ausgerechnet sie mit der Weltherrschaft anfangen sollen. Trotzdem war sie bereit, die Weltherrschaft zu beschützen: Vor allem vor denen, die sehr daran interessiert waren, sie zu erlangen. Wie zum Beispiel der rumänischstämmige Kleingangster, der gerade schnarchend in seinem Körbchen im Nebenzimmer lag und sein Abendessen verdaute. Ein Kleingangster, der sicher jede Gelegenheit nutzen würde, um ein großer Gangster zu werden. Eines war Leo vollkommen klar: Wenn die Weltherrschaft in die frisch gestutzten Krallen ihres Nichtkumpels Fritte fiel, dann würde die Welt sich warm anziehen müssen. Sehr warm.

Mühsam bahnte sie sich ihren Weg durch die Sockenklumpen und tatzte vorsichtig nach links und rechts, immer in der Hoffnung, auf ein klein zusammengefaltetes Papier zu stoßen. So eine extrem geheime Nachricht, wie Lotti sie in Leos Traum in ihrer Pfote gehalten hatte, bedeutungsschwanger winkend. Die musste doch zu finden sein – idealerweise, bevor der letzte in der Schublade befindliche Sauerstoff weggeatmet war.

Und bevor Herr Fritte sein Verdauungsschläfchen beendet hatte und mal gucken kam, was Leo so machte (und ob er ihr dabei vielleicht unterstützend an den gestreiften Popo greifen konnte). Hörte sie ihn da nicht schon herantapsen? Leo hielt die Luft an und lauschte angestrengt auf Geräusche von außerhalb der Schublade. Was schwierig war. Egal. Sie musste hier raus, schnell … und vorher noch den verdammten Brief von Lotti finden. Sie streckte noch einmal beide Arme aus und tastete sich zwischen den Socken hindurch. Da! Da war ein Widerstand. Leo reckte und streckte den linken Arm, fuhr die Krallen soweit wie irgendwie möglich aus und bekam irgendetwas zu fassen, was auf jeden Fall keine Socke war. Heureka! Ganz vorsichtig, Millimeter für Millimeter, zog sie ihren Fang näher zu sich heran. Tatsächlich, das war ein zusammengefaltetes Stück Papier. Da es in der Sockenschublade zu dunkel war, um zu lesen, begann Leo langsam und vorsichtig den Rückzug. Das war nicht einfacher, als in die Schublade hineinzukommen, aber Leo war entschlossen, nicht eine Sekunde länger in der stickigen Hitze der aussortierten Socken auszuharren, und schaffte es schließlich zurück zum Ausgangspunkt ihrer Expedition. Uff. Nun aber schnell raus hier und alle Spuren verwischen, bevor …

„Leo, mein Täubchen, wo bist du?“

Fritte war aufgewacht und hatte ganz offensichtlich Laune. Verdammt. Nun kam es auf jede Sekunde an. Leo stopfte sich das verräterische Papier in die Bauchtasche, zog den Reißverschluss zu, hopste aus der Schublade und warf sich dann sofort dagegen, um diese wieder zu schließen. Was schwierig war, denn einige Socken schauten vorwitzig über den Schubladenrand und waren definitiv im Weg.

„Leo, ich höre dich doch. Was machst du denn da?“

Die Stimme kam näher und Leo ließ, innerlich fluchend, die Schublade Schublade sein und hechtete aufs Bett, wo sie ohne weitere Umschweife eine verführerische und fast entspannt aussehende Position einnahm. Uff. Gerade noch rechtzeitig, denn da kam Fritte schon total lässig um die Ecke geschnürt und auf sie zu: „Hallo Süße!“

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