In dem Moment, in dem mein Vater erfuhr, dass er ins Hospiz umziehen sollte, stand er aus seinem Sessel auf und fing an, im Zimmer auf und ab zu laufen. Dann aus dem Zimmer hinaus, den Gang rauf und runter. Wieder ins Zimmer hinein, kurz hinsetzen, wieder aufspringen, im Kreis laufen. Aus dem Zimmer hinaus, zurück, den Rollator holen, den Gang runter. Und so weiter.
Wir immer hinterher, Versuchsreihen anstellend, ob und wie man meinen Vater beruhigen könnte. Nacheinander probierten wir:
- Neben ihm herlaufen
- Hinter ihm herlaufen
- Fragen „Möchtest du darüber reden?“
- Ihn auffordern, sich doch mal hinzusetzen
- Ihm anbieten, ihn im Rollstuhl rumzuschieben
- Sagen „Mir doch egal, was du machst“ und sich hinsetzen
- Ihn bewusstlos schlagen (oder damit zu drohen)
Am besten funktionierte meistens, meinen Vater in den Rollstuhl zu setzen und durch die Gegend zu schieben. Das Krankenhaus lag recht nett im Grünen, man konnte also entspannt durch die Gegend gurken, ein dickes grau-weißes Kaninchen, das in den Krankenhausgärten wohnte, besuchen und hoffen, eine Parkbank zu finden, die nicht von Wespen heimgesucht wurde. Schließlich war Sommer. Ich saß gerne auf der Parkbank oder auch auf der zur Station gehörenden Hortensienterrasse. Mein Vater auch, aber eben nur ungefähr siebenunddreißig Sekunden lang, dann musste er wieder aufspringen und weiter weiter weiter. Im Gegensatz zu mir, ich hätte auch siebenunddreißigminütige Pausen zu schätzen gewusst.
Mein Vater stand nun bei zwei Hospizen auf der Warteliste. Sein anfängliches Entsetzen war in erneute Ungeduld umgeschlagen: Wenn er schon umziehen musste, dann doch bitte bald. Sehr bald. Ob denn immer noch kein Platz freigeworden sei? – Nein, Papa, heute noch nicht. – Okay. Aber jetzt vielleicht?
Ich googelte und besprach mich auch mit der Psychoonkologin der Palliativstation, die die Anmeldungen für uns vorgenommen hatte. Fragte, ob wir auch selbst Kontakt zu den Hospizen aufnehmen sollten, um die Dringlichkeit unseres Anliegens deutlich zu machen. Sie riet mir zu. Da mein Bruder in der direkten Nachbarschaft des Hospizes Hamburg Leuchtfeuer wohnt, beauftragte ich ihn mit der Kontaktaufnahme dort. Ich selbst rief im Hamburger Hospiz im Helenenstift an, bekräftigte das Interesse meines Vaters an einer baldigen Aufnahme und fragte, ob ich mir die Einrichtung vielleicht vorab schon einmal anschauen dürfte. Ich durfte und bekam einen Termin am übernächsten Nachmittag.
Das passte gut, denn zwischendurch hatte ich noch schnell einen schon vor langer Zeit vereinbarten Zahnarzttermin, um mir einen nicht mehr funktionsfähigen Backenzahn ziehen zu lassen. Ich hatte nicht viel Lust auf diese Aktion, wollte sie aber hinter mich bringen, solange ich Urlaub hatte und auch sonst über meine Zeit noch einigermaßen frei verfügen konnte. Schließlich konnte ja niemand wissen, wie lange noch es meinem Vater so halbwegs undramatisch gehen würde und ich guten Gewissens meiner dicken Backe mindestens einen Tag Ruhe gönnen konnte.
Das tat ich dann auch. Das Zahnziehen morgens war problemlos verlaufen und ich genoss meinen freien Nachmittag zu Hause. Bis mein Bruder abends von meinem Vater aus anrief, mein Vater wünsche sich eine Flasche Ouzo und der Arzt habe keine Einwände. Ob ich die bitte am nächsten Morgen mitbringen könne. Natürlich, erwiderte ich, welche Sorte soll es denn sein? Am anderen der Leitung aufgeregtes Flüstern und Wuseln. Die Sorte könne Papa gerade nicht sagen, aber eben diesen besonders milden und besonders leckeren Ouzo. Natürlich.
Da ich Ouzo nur aus früheren Leben, in denen ich gelegentlich in griechischen Restaurants aß, kenne, musste ich googeln. Die Sortenvielfalt überraschte mich durchaus. Allerdings klangen die Beschreibungen des Geschmacks weitgehend gleich. Mit gemischten Gefühlen ging ich am nächsten Morgen in den auf der Strecke zum Krankenhaus liegenden Supermarkt. Schließlich hatte ich eine zwar nicht schmerzende, aber doch empfindliche offene Wunde im Mund und wollte mich nicht mehr als nötig bewegen. Die Wahl des richtigen Ouzos war hier nicht weiter schwierig, es gab nur zwei Sorten. Ich wählte die teurere Variante und hoffte das Beste.
Als ich die Schnapsflasche, natürlich in einer neutralen Tüte verborgen, ins Krankenhaus trug, kam ich mir fast ein bisschen verrucht vor und ich war erleichtert, als ich meine Ladung dann endlich im Zimmer meines Vaters auspacken konnte. Natürlich hatte ich nicht die richtige Sorte erwischt, war ja klar. Also zeigte ich meinem Vater gegoogelte Bilder von Ouzo-Flaschen, bis er die richtige wiedererkannte, und versprach, ihm am nächsten Tag den richtigen Stoff zu besorgen.
Dann gingen wir auf die Hortensienterrasse und ich erzählte von meinem Zahnarztbesuch am Vortag. Mein Vater war interessiert, aber sehr unruhig. Stand mehrmals aus dem Rollstuhl auf, um den Tisch zu umrunden und sich dann wieder hinzusetzten. Eine Minute später noch einmal. Und noch einmal und noch einmal. Bis plötzlich jemand, wahrscheinlich ich, rief: „Warum liegt hier eigentlich überall Blut rum?“
Tatsächlich war plötzlich die ganze Terrasse voll mit kleinen Blutlachen und -flecken. Jedenfalls überall da, wo mein Vater in den letzten Minuten vorbeigekommen war. Er hatte es zwar nicht bemerkt, weil er schon seit längerer Zeit kaum noch Gefühl in den Füßen hatte, aber er hatte sich – vermutlich beim hektischen Hin und Her – an den Fußstützen am Rollstuhl einen kleinen Kratzer zugezogen, der wegen der reichlichen Wassereinlagerungen in seinen Füßen leider weitreichende Folgen hatte: Es blutete ohne Unterlass, wässrig, aber sehr reichlich. Ich hatte nur ein paar Papiertaschentücher bei mir, die drückte ich meinem Vater in die Hand bzw. auf die Wunde, bevor ich mich auf die Suche nach Hilfe und saugfähigen Materialien machte.
Es war eine ziemliche Sauerei. Ich hatte im Schwesternzimmer Alarm ausgelöst und auf dem Rückweg gleich einen Stapel Papierhandtücher aus dem Damenklo mitgenommen. Damit versuchten mein Vater und ich, die Situation unter Kontrolle zu bringen. Unmöglich. Es lief förmlich aus ihm heraus. Auch die Krankenschwester, die uns – bewundernswerterweise, ohne auch nur ein einziges Mal Scheiße! zu schreien – zu Hilfe eilte, hatte es schwer, meinen Vater wenigstens so weit trockenzulegen, dass wir ihn in sein Zimmer bringen konnten. Vom Putzen der Terrasse mal ganz abgesehen.
Immerhin, dachte ich, als mein Vater dann endlich in seinem Sessel saß, den dick verbundenen und immer noch durchfeuchtenden Fuß hoch gelagert, das wird seinen Bewegungsdrang ja hoffentlich ein bisschen einschränken.
Am nächsten Tag fand ich mich pünktlich und mit einer weiteren Flasche Ouzo im Gepäck im Hamburger Hospiz im Helenenstift ein. Gelegen ganz nah an einer der meistbefahrenen Straßen im Stadtteil Hamburg-Altona, doch in der zweiten Häuserreihe, liegt das Haus sehr zentral und gleichzeitig geschützt (was übrigens sehr gut zum Selbstverständnis der Einrichtung passt). Vor dem Haus befindet man sich auf einem ruhigen Innenhof zwischen gepflegten alten Häusern, einer Kirche und schönen alten Bäumen.
Drinnen in der lichtdurchfluteten Eingangshalle, gleich rechts vom Eingang, steht ein sechszehnarmiger Kerzenleuchter. Keine der Kerzen brannte und ich wusste, das bedeutet, dass an diesem Tag kein Platz frei geworden war, denn für jeden verstorbenen Bewohner wird eine der Kerzen entzündet und brennt dann, bis der Verstorbene das Hospiz verlässt.
Ich meldete mich am Empfang und wurde an Frau S., die als Sozialpädagogin für die psychosoziale Betreuung des Hospizes zuständig ist, übergeben. Frau S. führte mich in eine gemütliche Sitzecke im Erdgeschoss des Hospizes, gab mir einen Stuhl und ein Glas Wasser und ließ mich erzählen. Über meinen Vater und seine Krankheitsgeschichte, aber auch über den Rest der Familie, vor allem natürlich meine Mutter. Es war leicht, mit ihr zu sprechen, und ich freute mich, dass sie sich nicht nur für die Krankheit meines Vaters interessierte, sondern auch für sein vorheriges Leben, seine Persönlichkeit und seine Entwicklung. Natürlich erzählte ich ihr hauptsächlich von den Entwicklungen des letzten Jahres, aber wir sprachen auch über das Vor-Krankheits-Leben meiner Eltern und darüber, wie großartig sie die Zeit nach dem Berufsleben bisher genutzt hatten.
Im Anschluss an unser Gespräch führte mich Frau S. durch das Haus und ich war beeindruckt von der entspannten und positiven Atmosphäre. Natürlich haben Wohnküchen und andere Gemeinschaftsräume immer ein bisschen was von Wohnheim an sich, aber hier erinnerte eigentlich nichts an ein Krankenhaus. Es war ein heißer Sommertag und sämtliche Menschen, denen wir begegneten, waren sommerlich bekleidet, alle in Zivil. So konnte ich, kurzsichtig und auf die Schnelle, Bewohner, Besucher und Personal eigentlich überhaupt nicht unterscheiden. Offenbar war gerade Kaffeezeit und viele Bewohner kamen vorbei, um mal zu schauen, was für Kuchen es heute gab. Eine freundliche ältere Dame, die gerade einen Ausflug nach draußen plante, ließ mich sogar ihr Zimmer anschauen. Ganz offensichtlich fühlte sie sich heimisch dort, denn sie zeigte mir stolz alles, was es zu zeigen gab.
Ob ich denn noch Fragen hätte, wollte Frau S. wissen. Ich war so beeindruckt von dem, was ich gesehen und gehört hatte, dass mir nur die wichtigste, die Frage aller Fragen einfiel: Gibt es hier WLAN? Aber natürlich, versicherte mir, Frau S., das ließe sich einrichten, schließlich sei es für manche Gäste sehr wichtig, das Internet nutzen zu können. Nunmehr endgültig begeistert erklärte ich Frau S., dass ich mir meinen Vater in diesem Haus sehr gut vorstellen könne, er würde sich hier sicher wohl fühlen und von den zahlreichen Angeboten sehr profitieren.
Frau S. nahm das gerne zur Kenntnis, konnte mir aber natürlich auch nicht sagen, wann nun wirklich ein Platz für meinen Vater frei werden würde. Natürlich war er nicht der einzige Mensch, der auf einen Platz im Hospiz wartete. Auch war er, dadurch dass er auf der Palliativstation ja bestens versorgt wurde, aus Sicht des Hospizes möglicherweise nicht der dringendste Fall auf der Liste. Schließlich gab es ja auch Menschen, die unter sehr schwierigen Umständen zu Hause lebten. Man überlege bei jedem freien Platz sehr sorgfältig, wem man ihn anbiete, das konnte Frau S. mir versichern. Daran hatte ich natürlich gar keinen Zweifel und alle ihre Argumente leuchteten mir auch unmittelbar ein. Mehr als meiner Hoffnung Ausdruck zu verleihen, dass es mit diesem Hospiz klappen werde und gerne früher als später, konnte ich jetzt also nicht tun.
Ich ging in dem guten Gefühl, meinem Vater berichten zu können, dass ihm dieses Hospiz auf jeden Fall gefallen würde. Dass Frau S. eine ganz tolle Person war. Und dass ich – so war zumindest mein Eindruck – unsere Sache gut genug vertreten hatte, um jetzt nach Kräften zu hoffen, dass man ihm bald einen Platz anbieten würde.