Twitter ist das einzige soziale Network, dem ich seit vielen Jahren treu bin. Weil da einfach die nettesten, witzigsten und kreativsten Leute unterwegs sind. Die, die Spaß am geschriebenen Wort haben, und daran, in wenigen Worten viel zu sagen. Die Freude am schnellen Austausch und an der Möglichkeit der flächendeckenden Verbreitung von Informationen ohne viel Aufwand haben. Die gerne in direkten aber nicht zwangsläufig realen Kontakt mit anderen Usern kommen. Die aus irgendeinem Grund, der mich nichts angeht, nicht unter ihrem Klarnamen schreiben wollen.
Als ich mich 2010 bei Twitter anmeldete, benutzte kaum jemand seinen Klarnamen für sein Profil – mit Spaß- und Fantasienamen grenzte man sich vor allem gegen Werbe- und andere Fachleute ab, die professionell/kommerziell twitterten, natürlich unter ihren Klarnamen und unter Einhaltung der Regeln, die sie und ihresgleichen für die erfolgreiche Nutzung von Social Media aufgestellt hatten. Meistens allerdings mit weit weniger Followern und sehr viel geringerer Reichweite als die „Spaßtwitterer“.
Die Spaßtwitterer machten keineswegs nur Witze und Wortspiele, sie teilten auch schlimme Erlebnisse, Trauer, Ängste und Nöte miteinander. Manchmal verbunden mit einer Bitte um Hilfe, meistens aber „nur“ wegen des Austauschs miteinander. Es entstand eine Community, es bildeten sich Freundschaften, es wurde geflirtet. Menschen, die in ihrem Alltag, dem sogenannten wirklichen Leben, nicht allzu viele verwandte Seelen um sich scharen konnten, fanden auf Twitter plötzlich Freundschaft, Verständnis, Mitgefühl.
Klar, dass ganz viele Spaßtwitterer das Bedürfnis entwickelten, einander zu treffen. Im sogenannten wirklichen Leben. Im Großen wie im Kleinen. Neben zahlreichen, oft undokumentierten privaten Verabredungen mit „blauem Vögelchen im Knopfloch“ wurden in vielen Städten große Twittertreffen organisiert, zu denen sich jeder Account, egal ob groß oder klein, anmelden konnte. Auch dort, zumindest bei den Treffen, die ich besuchte, gab es keine Klarnamenpflicht. Es war zwar normal und üblich, sich bei diesen Gelegenheiten gegenseitig zumindest seinen Vornamen zu verraten, aber wer wollte, konnte durchaus auch mit seinem Usernamen unterwegs sein. Trotzdem war sie oder er ja aber als Person und als Persönlichkeit anwesend und greifbar und für die Zukunft quasi legitimiert.
Auch damals, in den goldenen Twitterzeiten, gab es schon Hickhack und Unstimmigkeiten zwischen Twitterern. Cliquenbildung, Gruppenzwang, Sippenhaft – das alles kam vor, jedoch – so scheint es mir zumindest – im Allgemeinen aus privaten, persönlichen Gründen. Das war für Unbeteiligte oft nervig, für uneingeweiht ins Fettnäpfchen Tappende auch mal peinlich, dominierte aber nie längerfristig die gesamte Timeline. Wenigstens nicht meine.
Das hat sich leider geändert. Mittlerweile gibt es Tage, an denen ist meine Timeline so voll von Streitereien, Beschwerden über „Replys from hell“, Aufforderungen zum Blocken von rechtem Gesindel sowie Überdrusstweets, die subjektiv erfahrene Twitter-Zustände schildern und meist mit einem „Ich bin so müde!“ enden, dass selbst ich, die ich nun wirklich mit einer gehörigen Portion Gutgläubigkeit sowie einem dicken Fell gesegnet bin, mich kaum noch traue, einen ganz normalen, halbwegs lustigen Tweet zu senden.
Dieses Wochenende gab es noch ein Extra, plötzlich ist das Thema „Fake-Accounts“ in aller Munde. Offenbar hat eine Frau in England, die gar nicht auf Twitter aktiv ist, erfahren, dass ganz viele ihrer bei Facebook geposteten Privatfotos von einer deutschen Spaßtwittererin als deren persönliche Bilder ausgegeben worden sind. Von einer deutschen Twittererin mit sehr vielen Followern wohlgemerkt, die offenbar auch in intensivem Kontakt mit vielen anderen deutschen Twitterern stand, auch wenn all diese Kontakte sich auf das Internet beschränkten. Und nun stellt sich heraus, dass ihr ganzes Profil und ihre Biografie offenbar frei erfunden sind, unterfüttert und mit authentischem Anstrich versehen durch die Fotos einer ihr unbekannten Person, die davon nichts wusste.
Prompt geht mal wieder ein argwöhnischer, ja misstrauischer Ruck durch Twitter. Ich mag das nicht, beginne aber dennoch zu überlegen: Was ist mit den zahlreichen Accounts, mit denen ich mich seit Jahren verbunden fühle, die ich aber noch nicht persönlich getroffen habe. Sind die wirklich, was sie zu sein vorgeben? Manche twittern viel Persönliches, andere nicht; aus ganz unterschiedlichen Gründen liegen sie mir am Herzen. Und auch von denen, die keine Selfies oder sonstige Fotos von sich posten, habe ich meist doch eine Vorstellung davon, wie sie wohl aussehen könnten. Oder wenigstens, wie sie ganz sicher nicht aussehen.
Was würde ich fühlen, wenn sich herausstellt, dass diese Accounts im sogenannten wirklichen Leben ein ganz anderes Leben führen als auf Twitter? Dass sie anders aussehen, anders reden und denken, dass sie ihren Twitteraccount mit einer bestimmten Absicht (und sei es nur, um Follower anzulocken) durch fremde Federn aufgehübscht haben?
Ich bin mir nicht sicher. Ich meine, manchen Accounts folge ich, weil ich sie für großartige Kunstfiguren halte. Wahrscheinlich wäre ich schockiert, wenn ich erfahren müsste, dass sie ganz und gar echt sind. Und überhaupt. Ich war schon mal bei einem Twittertreffen, das als Twitter-Katzen-Treffen angekündigt war UND DA WAR NICHT EINE EINZIGE KATZE ANWESEND. Ich meine, Hallo? Alles Fake-Accounts?
Bin ich auch ein Fake-Account, oder zumindest ein Teilzeit-Fake-Account, wenn ich bei Twitter meine Katzen zu Wort kommen lasse bzw. Ihnen vorgaukle, meine Katzen würden mich als ihr Sprachrohr einsetzen? Oder – ich war ja lange nicht mehr bei einem Twittertreffen und die meisten von Ihnen haben mich möglicherweise noch nie in persona gesehen – betreiben vielleicht auch die Katzen den Account alleine und tun so, also würde hier manchmal auch ein menschliches Wesen was schreiben? Oder der vielzitierte schwitzende und rauchende LKW-Fahrer gibt vor, meine Katzen und ich zu sein?
Sie sehen, man kann auch mit den blödesten Fragestellungen philosophische Diskussionen lostreten. Muss man aber nicht.
Was ich eigentlich sagen möchte: Ich mag Twitter, so wie es ist, also an den guten Tagen. An denen ich preisgeben kann, so viel oder so wenig ich will. An denen ich mich nicht erklären muss. An denen ich authentisch sein kann, ohne unter Beweisdruck zu geraten. An denen ich komplett an den Haaren herbeigezogenen Unsinn zurechtfabulieren und ihn meinen Katzen in die Schuhe schieben kann (ja, Twitter-Katzen tragen selbstverständlich Schuhe, meist vier Stück pro Person). An denen sich die Twitterer, die ich gerne lese, frei fühlen, sie selbst zu sein… oder jemand ganz anderes. Weil sie dadurch vielleicht ein Stück weiter zu sich selbst finden. Oder weil es einfach nur Spaß macht.
Ich möchte nicht verarscht werden und natürlich möchte ich auch nicht, dass jemand meine Fotos und meine Identität klaut. Wenn ich aber wählen muss, zwischen vertrauensvollem Umgang miteinander ohne Ausweiszwang/mit Restrisiko und einer Atmosphäre, geprägt von Vorsicht, Kontrolle und Reglementierungen, dann entscheide ich mich doch für das Vertrauen. Ohne lange zu überlegen. So ähnlich wie im sogenannten wirklichen Leben auch, denn ohne Neugier, Offenheit und Lust auf Begegnungen brauche ich doch gar nicht erst aus meinem LKW auszusteigen. Miau.