Mein erster Gast.

Gestern ist „mein“ Hospizgast, Herr X, gestorben. Nicht mein erster, aber der erste, den ich über einen längeren Zeitraum regelmäßig besucht habe. Fünf Wochen lang – was allerdings im Vergleich zu den sechs Monaten, die er insgesamt im Hospiz gelebt hat, nicht wirklich viel ist. Aber eben doch die durchschnittliche Dauer einer ehrenamtlichen Begleitung im Hospiz.

Die Besuche bei Herrn X waren sehr unterschiedlich. Ich wusste vorher nie, was mich erwartet, wie er auf mich reagiert und wie es ihm wohl geht.

Manchmal war Herr X so unruhig und so wild darauf, endlich ins Freie zu kommen, dass er mir schon auf dem Flur vor seinem Zimmer entgegengerollert kam. Zweimal wurde er mir sogar schon von der Psychologin im Rollstuhl entgegengeschoben, weil es ihn nicht mehr drinnen hielt, und mir ganz unzeremoniös auf der Straße übergeben, ohne dass ich mein Namensschild holen, meine Hände desinfizieren oder meine Handtasche abstellen konnte. Von „noch mal eben aufs Klo“ oder „einen Schluck trinken“ rede ich erst gar nicht. Ich übernahm den Rollstuhl ohne größere Formalitäten und wir schoben los, einmal um den Block und dann noch ein bisschen die Straße rauf und runter – „aber nicht über das blöde Kopfsteinpflaster!“.

Herr X. war so dünn geworden, dass ihm jede Bodenunebenheit, die wir mit dem Rollstuhl überqueren mussten, Schmerzen an seinem nicht mehr vorhandenen Allerwertesten verursachte. Ich mühte mich also ab, ihn möglichst nur auf glattem Boden herumzuschieben – was aber in diesem Teil von Altona ein Ding der Unmöglichkeit ist, wenn man nicht zwischendurch mal ein paar Meter fliegend überbrücken kann: Die wunderbaren alten Straßenbäume, die wertvollen Schatten spenden und das ganze Viertel wie eine Oase wirken lassen, wenn man von der großen Kreuzung in eine der kleinen Nebenstraßen einbiegt, drücken von unten gegen die Gehwegplatten und machen die Wege zum Teil mehr als unwegsam. Darüber hinaus gibt es keineswegs an jeder Straßenecke eine barrierefreie Bordsteinabsenkung – und selbst wenn es eine gibt, parkt oft ein Auto darauf. Zum Glück war Herr X sowieso kein Freund von ruhigen Ecken und romantischen Parks: Er wollte eigentlich lieber auf die großen Straßen, dorthin, wo das Leben tobte. Natürlich erfüllte ich ihm diesen Wunsch gerne, aber ich versichere Ihnen: So dünn und leicht kann ein Mensch gar nicht sein, dass es nicht anstrengend ist, ihn bei 30 Grad im Schatten und im Feierabendverkehr über eine überfüllte Kreuzung mit knappen Ampelphasen zu schieben.

Trotzdem gehörten diese Ausflüge in die Welt der Lebenden zu unseren besten Momenten. Herr X saß meistens ganz zufrieden in seinem Rollstuhl und hibbelte nicht herum wie in den Stunden, die wir – weil das Wetter nicht freundlich genug oder der Aufzug im Hospiz defekt war – in seinem Zimmer verbringen mussten. Diese Besuche gab es natürlich auch und sie waren für mich insofern schwieriger, als Herr X im Zimmer immer unruhiger und getriebener war als draußen, gleichzeitig oft aber nicht genau sagen konnte, was er wollte. Oder er konnte schon, doch ich verstand ihn nicht – nicht nur, weil er manchmal seine Zähne nicht im Mund hatte. Ich lernte aber schnell, dass ihm meistens entweder eine Zigarette, eine schmerzstillende Spritze oder ein kleiner Tapetenwechsel helfen konnten. Wie oft ich mit ihm die Gänge im Hospiz auf- und abgerollert bin, abwechselnd auf allen Etagen, bis er sich endlich beruhigt hatte, weiß nur mein Fitnessarmband, das die Besuche bei Herrn X ganz klar als Sporteinheiten wertete.

Dann gab es auch die Tage, an denen Herr X nur im Bett lag, schlafend, dösend oder in sich zurückgezogen. Er wurde langsam aber beständig kleiner, dünner und schwächer, auch wenn ich dies zu Beginn kaum für möglich gehalten hätte. Manchmal brauchte er, obwohl er sich auf meine Besuche und die anstehende Spazierfahrt freute, kurz vorher doch noch eine Dosis Schmerzmittel und musste sich anschließend hinlegen, so dass unsere Tour dann leider ausfallen musste. Ich saß dann bei ihm im Zimmer, der Fernseher lief im Hintergrund und ich bemühte mich, ihn einfach mit meiner Präsenz zu beruhigen.

Herr X mochte nicht so viel reden und legte auch keinen großen Wert darauf, mit Geschick und Fingerspitzengefühl in ein Gespräch gezogen zu werden. Er mochte menschliche Gesellschaft, brauchte die Gewissheit, nicht allein zu sein. Einvernehmliches, freundliches Schweigen, bei dem weder er noch ich uns anstrengen mussten, funktionierte gut für uns.

Was eine Ehrenamtliche ist, das wusste Herr X nicht so ganz genau und es war ihm auch nicht so wichtig. Er fragte mich nie danach und ich wollte mich damit auch nicht aufdrängen. Als er mich bei einem meiner letzten Besuche einmal mit meinem Namen ansprach, war ich durchaus überrascht. Und sehr gerührt, obwohl ich mir das natürlich nicht anmerken ließ. Auch gab er mir zur Begrüßung und zum Abschied irgendwann von sich aus die Hand, auch an Tagen, an denen sonst nicht sehr viel Kommunikation zwischen uns stattfand.

Bei meinem letzten Besuch am Montag dieser Woche saß Herr X in seinem Rollstuhl am Fenster seines Zimmers und starrte hinaus. Oder in sich hinein. Einer seiner Söhne saß noch bei ihm, aber Herr X reagierte nicht sehr sichtbar auf Ansprache oder Berührungen. Er war ganz offensichtlich weit weg und es kostete ihn Mühe, an die Schnittstelle zur realen, ihn umgebenden Welt zurückzukehren. In den rund anderthalb Stunden, die ich bei ihm war, sagte er kein einziges Wort. Ich drehte – nach Rücksprache mit der Pflege und der Psychologin, die ihn natürlich viel besser einschätzen konnten als ich – mit ihm ein paar Runden durchs Haus und begleitete ihn zum Rauchen auf den Balkon, bevor wir schließlich wieder in seinem Zimmer landeten. Dort starrte er wieder lange aus dem Fenster, bevor er sich plötzlich am Tisch festklammerte und sich mit dem Rollstuhl so drehte, dass er mir direkt ins Gesicht sehen konnte. Auf einmal war sein hellblauer Blick wieder ganz ungetrübt und er sah mich an, suchend, fragend. Ich erwiderte seinen Blick, lächelte und legte meine Hand direkt neben seine auf die Tischkante. Es war nur ein kurzer Moment, aber ich versichere Ihnen: Es war einer dieser Momente, wo auf einmal alles offen und klar und wahrhaftig ist und wo so viel Energie fließt, in beide Richtungen, dass man damit das Haus heizen könnte. Oder kühlen. Nur ein Moment, dann zog Herr X seine Hand weg und schaute wieder aus dem Fenster. Ich saß noch eine Weile still bei ihm und verabschiedete mich dann.

Eigentlich hätte ich ihn am Donnerstag wieder besuchen wollen, aber ich hatte den Termin aber kurzfristig in Absprache mit einem der Söhne von Herrn X verschoben, weil für den Donnerstag schon mehrere Besucher in seinem Kalender standen, am Freitag aber noch keiner. Ich war also darauf eingestellt, am Freitag nach Feierabend ins Hospiz zu fahren, aber am Nachmittag, zwanzig Minuten vor vier, klingelte mein Telefon und der Pfleger, der an diesem Nachmittag Dienst im Hospiz hatte, erzählte mir, dass Herr X vor einer halben Stunde gestorben sei. Ganz still und schön, so sagte er. Viel mehr erzählte er mir nicht, ich fragte auch nicht; wir sprachen aber noch ein Weilchen über Herrn X und darüber, dass er ein toller Typ war. Dann bedankte ich mich für den Anruf und wir legten auf.

Hinterher überlegte ich kurz, ob ich nach Feierabend trotzdem noch in Hospiz fahren sollte, um mich von Herrn X zu verabschieden. Brauchte ich diesen Abschied? Brauchte er ihn? Seine Söhne? Nein, entschied ich. Herr X hatte immer nach draußen gewollt, er war sicher gar nicht mehr in seinem kleinen Hospizzimmer. Seine Söhne hatte ich nicht wirklich näher kennengelernt, ich war ihnen nur kurz begegnet, sie waren sehr freundlich und sehr dankbar gewesen – aber sie brauchten mich nicht dort im Zimmer. Meine Grüße würde der Pfleger ihnen ausrichten, da durfte ich sicher sein.

Ich brauchte einen Abschied, natürlich, aber dafür musste ich Herrn X nicht noch einmal sehen. Auf einer belebten Kreuzung oder vor einer schönen lauten Baustelle würde ich mich ihm viel näher fühlen als an einem Hospizbett. Ich ging nach Feierabend nach Hause.

Später am Abend fing es an zu regnen, zum ersten Mal seit Wochen, zumindest in der Hamburger Innenstadt. Ich stand lange in der offenen Balkontür und schaute in den Himmel. Die Temperatur war um ungefähr zehn Grad gefallen, aber die Stadt kühlte sich nur langsam ab. Es dauerte, aber der Regen, der den Staub, den Dreck und die Hitze wegspülte, löste langsam auch meine Anspannung auf.

Fünf Wochen habe ich Herrn X begleitet. Beim Leben und beim Sterben. Nun hat er es geschafft – was immer das bedeuten mag. Er ist still gestorben, also wohl – so vermute ich – im Einklang mit sich und seiner Welt. Er hat seinen kaputten Körper, der ihm die letzten Monate seines Lebens so schwer gemacht hat, hinter sich gelassen und hoffentlich auch die Unruhe und die Ängste. Ich wünsche ihm Frieden, Freiheit und nie wieder Kopfsteinpflaster unter dem Allerwertesten.

Bin ich traurig? Bin ich erleichtert? Ein bisschen von beidem, glaube ich. Auf jeden Fall bin ich dankbar dafür, dass ich Herrn X begleiten durfte, dass er mich teilhaben ließ an der letzten Phase seines Lebens. Für unsere kurzen Gespräche, die albernen Scherze und unser gemütliches Schweigen miteinander.

 

 

 

 

 

 

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