Zu meinen erklärten Nicht-Lieblingsbeschäftigen gehört ja auch die Begleitung meiner Mutter zu Arztterminen. Die fallen zum Glück nicht sehr oft an – viele Arzttermine werden vom Heim organisiert und begleitet und der Hausarzt macht, weil es sich eventuell lohnt, sogar Hausbesuche. Das ist angenehm, auch weil die Kollegen von der Pflege dort offenbar gute Beziehungen haben und sogar Facharzttermine immer halbwegs zügig vereinbaren können.
Einige Arztgeschichten bleiben aber doch an mir (gelegentlich auch an meinem Bruder) hängen, entweder weil sie sehr wichtig sind oder weil sie zu aufwendig sind. So zum Beispiel die Besuche im Zentrum für Gefäßmedizin zur Behandlung des Lymphödems meiner Mutter, die alle drei Monate anfallen.
Das Gefäßzentrum ist gar nicht so weit entfernt vom Heim meiner Mutter, auf jeden Fall nicht so weit wie von ihrer Wohnung vorher, aber die Besuche sind mühsam und anstrengend. Für alle Beteiligten und auch einige Unbeteiligte. Meiner Mutter werden dort ihre Kompressionsstrümpfe und die wöchentliche Lymphdrainage, die sie sehr mag, verordnet. Tatsächlich sehen ihre Beine, seit das Lymphödem behandelt wird, wieder ziemlich gut aus. Jedenfalls besser als meine.
Diese Woche war es wieder soweit. Den regelmäßig notwendigen Kontrolltermin, ohne den die begehrte Lymphdrainage halt nicht verordnet werden kann, hatte ich, wie es sich gehört, vor einem halben Jahr bereits fixiert und im Heim angemeldet. In den Kalender meiner Mutter hätte ich ihn auch eingetragen, wenn wir ihren Kalender gefunden hätten. Habe ich aber nicht und sie auch nicht. Vielleicht hat sie gar keinen für 2019.
Immerhin sprachen wir immer mal wieder über den anstehenden Termin und meine Mutter fragte auch regelmäßig, wann wir denn mal wieder zum DuweißtschonmirfälltdasWortnichtein müssten. Bis sie mir dann vor zwei Wochen eröffnete, dass das mit dem Arzttermin leider ganz ungünstig sei, denn zum selben Zeitpunkt habe sie auch einen Termin für Lymphdrainage ausgemacht.
„Hm“, sagte ich, „den solltest du dann vielleicht umlegen.“
Am selben Tag rief mich doch wahrhaftig das Gefäßzentrum an – ich wusste doch, dass die da Telefone haben, auch wenn sie nie rangehen (Twitterer möglicherweise?)! – um unseren Termin zu verschieben, weil unser Arzt krank sei und seine Termine nun auf die anderen Ärzte der Praxis verteilt werden müssten.
Man bot mir eine Zeit am Vormittag an, ich sagte „Super, kläre ich kurz mit meiner Mutter und rufe gleich zurück!“ und wusste in dem Moment, in dem ich das Gespräch beendete, dass ich jetzt vermutlich ein Problem hatte. Eins? Tausende.
Ich rief meine Mutter an, die natürlich ihren Lymphdrainagetermin genau auf denselben Zeitpunkt am Vormittag gelegt hatte.
Ich versuchte, wieder im Gefäßzentrum anzurufen, und landete auf einem AB, der klang, als würde er sich sehr einsam fühlen. Ich versuchte es weiter und beim ungefähr vierzehnten Versuch kam ich tatsächlich durch und sprach mit einem menschlichen Wesen. Wir fanden einen Termin, der mit der Lymphdrainage zu vereinbaren war.
Ich rief wieder bei meiner Mutter an und sagte: „Ich hole dich kurz nach der Lymphdrainage ab. Unten in der Lobby. Bitte lass dir von dem netten Masseur die Strümpfe anziehen, die möchte der Arzt an deinen Beinen sehen.“
Klar, dass meine Mutter dies mit der Frage: „Welche Strümpfe?“ beantwortete.
Ich erspare Ihnen den sich darauf entfaltenden Dialog und beschränke mich auf den Hinweis, dass ich am Ende des Telefonats zutiefst beunruhigt beschloss, noch fünf Minuten früher als geplant bei meiner Mutter zu sein, um Beinkleider aller Art zu kontrollieren.
Dann ruf ich im Dienstzimmer des Wohnbereichs an, erklärte den vorverlegten Termin, meine Terminnot und bat darum, die Krankenversicherungskarte meiner Mutter nicht meiner Mutter selbst auszuhändigen, sondern unten am Empfang für mich zu deponieren.
Kaum saß ich dann im Bus mit Richtung Seniorenheim, klingelte das Telefon. Der Empfang: „Ihre Mutter sitzt hier und ist schon ganz aufgeregt, weil Sie noch nicht da sind.“
Ich sah auf die Uhr. Noch zwanzig Minuten bis zur vereinbarten Abholzeit.
„Oh, sorry“, erwiderte ich. „Bin auf dem Weg und gleich da. Ich komme dann auch noch schnell zu Ihnen, weil ich ja die Versicherungskarte mitnehmen muss.“
„Die hat Ihre Mutter schon.“
„Was?“
„Ich habe die Versicherungskarte schon Ihrer Mutter gegeben.“
Meine möglicherweise nicht ganz sozialverträgliche Antwort konnte die nette Empfangsdame wegen meines lauten Schluchzens zum Glück nicht verstehen.
Im Heim angekommen, fand ich meine Mutter schon draußen im Hof vor. Ich zerrte sie wieder rein ins Warme und kontrollierte zunächst ihre Beine. Tatsächlich, sie trug Kompressionsstrümpfe, wow.
„Gib mir doch bitte die Krankenversicherungskarte“, schlug ich dann vor, während ich ein Taxi bestellte.
„Welche Krankenversicherungskarte?“ fragte meine Mutter.
„Die Krankenversicherungskarte, die die nette Dame am Empfang dir eben gegeben hat. Die brauchen wir beim Arzt.“
„Die hat mir nur meine Zeitung gegeben.“ Meine Mutter wies auf das Gepäckfach des Rollators, das wie immer mit mehreren Handtaschen, Strickjacken, Zeitungen, Wasserflaschen und dem Bernsteinzimmer gut gefüllt war.
Ich scannte, während ich aus dem Augenwinkel schon unser Taxi in der Einfahrt sah, schnell den Fußboden zwischen dem Empfang und dem derzeitigen Standpunkt meiner Mutter. Keine Karte. Sie musste sie also irgendwo bei sich tragen.
Mit Hilfe des Taxifahrers, der nur kurz überlegte, ob er jetzt den Rollator ins Taxi oder das Taxi in den Rollator stopfen sollte, verlud ich meine Mutter und wir machten uns auf den Weg ins Gefäßzentrum. Der Weg dorthin dauert bei normalen Verkehrsverhältnissen etwa zehn Minuten. Genug Zeit für meine Mutter, um mir ein paar ihr wichtige Fragen zu stellen. Dreimal hintereinander, ohne sich daran zu erinnern, dass die letzte Runde erst drei bwz. sechs Minuten zurückliegt. Im Rückspiegel konnte ich sehen, dass der Taxifahrer erst amüsiert, dann nachdenklich und dann recht mitleidig aussah. Ich tat mir auch ein bisschen leid.
Das half aber keinem von uns, als ich kurz darauf meine Mutter und den Rollator vom Taxi zum Praxiseingang zerrte. Über eckiges Kopfsteinpflaster mit Stufen. Barrierefrei, mein Fuß.
In der Praxis dann viel Gerenne, Gestöhne und ein mittlerer Verkehrsstau. Und das nur bei dem Versuch, meine Mutter auf einen Stuhl im Wartebereich zu setzen. Erst dann begann die etwa viertelstündige Suche nach der Versicherungskarte. Sie haben die Live-Aufnahmen ja sicher schon im Brennpunkt nach der Tagesschau gesehen, deshalb nur so viel: Sie war nicht in einem ihrer hundert Handtaschenfächer, sondern in ihrer Manteltasche, an die ich nicht rankam, weil sie auf ihrem Mantel saß und nach der ganzen Aufregung so schnell nicht wieder aufstehen wollte.
Es ist wahr, dass wir uns im Verlauf dieser Suche gegenseitig ziemlich unflätig beschimpft haben.
Es ist unwahr, dass ich meine Mutter an den Füßen hochgehoben und geschüttelt habe, bis sämtliche Tascheninhalte auf dem Boden lagen.
Dafür bin ich leider nicht kräftig genug.
Netter- und einfühlsamerweise (vielleicht auch aus Selbstschutzgründen) fragte die Dame vom Empfang nach dieser Kurzvorführung diesmal nicht, ob meine Mutter die Wendeltreppe zum eigentlichen Sprechzimmer ihres behandelnden Arztes hochgehen könnte. Statt dessen wurden wir nach einigen Minuten in ein ebenerdiges Behandlungszimmer geführt und der wirklich nette Arzt erschien, der sich von den Komplimenten meiner Mutter („Oh, Sie haben so tolle Haare, auch an den Armen!“) nicht zu sehr aus der Fassung bringen ließ. Allerdings versuchte er, beim Anschauen ihrer Beine den Kopf so zu halten, dass sie ihm nicht durch die Haare wuscheln konnte.
„Das sieht doch aber ganz gut aus“, sagte er. „Sie sehen, die Strümpfe bringen wirklich was.“
„Ach“, erwiderte meine Mutter, „die ollen Strümpfe trage ich gar nicht gerne. Ich glaube auch nicht, dass sie helfen.“
„Aber Sie tragen sie trotzdem?“
„Ach“, sagte meine Mutter. „Ich glaube nicht… wissen Sie, die ähwieheißtsienochmal…. die hilft mir wirklich…“
„Lymphdrainage“, sagte ich, „die gefällt dir gut. Aber natürlich trägst du deine Strümpfe trotzdem jeden Tag, gell?“
Der Arzt wirft mir einen mitleidigen Blick zu und ich spüre, wie ich rot werde und meine Nase zu wachsen beginnt. Jetzt bloß nicht weich werden und den Blickkontakt abbrechen! Ich starre ihn hypnotisch an und sage zu meiner Mutter: „Natürlich trägst du die Strümpfe. Die Kollegen von der Pflege kommen ja morgens immer und ziehen sie dir an.“
„Ach“, sagte meine Mutter, „die kommen, wann sie wollen. Oder auch nicht.“
„Wissen Sie“, sagte der Arzt, immer noch sehr freundlich, zu meiner Mutter, „ich darf Ihnen die Lymphdrainage nur dann verordnen, wenn Sie die Strümpfe immer vorschriftsmäßig tragen und die Beine trotzdem noch ein bisschen dick sind. So als zusätzliche Maßnahme. Aber die Strümpfe kommen zuerst. Ohne sie gibt es keine Lymphdrainage!“
„Ach“, sagte meine Mutter, „wenn das so ist. Eine Frage habe ich aber noch, Herr Doktor!“
„Ja bitte?“
„Mein Auge tut immer so weh und ich…“
„Sorry“, sagte der Arzt, „aber Augen sind nicht mein Bereich. Da müssen Sie einen Augenarzt fragen.“
„Aber Sie sind doch so nett, Herr Doktor.“
Das ist immer der Punkt, an dem dem Arzt einfällt, dass er noch Termine hat. Termine, Termine, Termine. Er muss leider weiter und nach ihm die Sintflut.
Das ist immer der Punkt, an dem ich den Arzt ein bisschen beneide.
Ich muss jetzt meiner Mutter wieder beim Anziehen helfen, die Handtaschen, die Zeitung und das Bernsteinzimmer erneut im Rollator verstauen, ein Taxi organisieren, noch drei- bis fünfmal die Fragen, die meine Mutter schon auf der Hinfahrt bewegten, beantworten, meine Mutter, die Krankenversicherungskarte und die neuen Verordnungen im Heim abgeben und dann zurück ins Büro. Da wird es mir vergleichsweise ruhig und gemütlich vorkommen. Vielleicht mache ich auch einfach kein Licht an und sitze eine Weile gemütlich im Dunkeln. Mal sehen.
Ach Du Liebe, so vieles von dem, was Du berichtest, kommt mir von meiner Omi sehr bekannt vor. Umso angenehmer für die eigene Verfassung ist es, wenn man das Ganze mit Humor betrachten kann. Fühl Dich fest umarmt!
Das mit dem Humor ist manchmal harte Arbeit, aber ohne ginge es gar nicht. Vielen Dank.
Ja, leider laufen bei uns sämtliche Arztbesuche nach dem gleichen Muster ab.
Letztes beim Neurologen war die Oma dann so unkompatibel, das ich dem sagte: Dann behandeln Sie jetzt eben meine Macke, damit wir hier vorankommen!