Wir waren schon einige Male auf dem Lassahner Friedhof gewesen und um die Kirche herumgelaufen (was nicht lange dauert, denn sie ist winzig), bis wir sie dann, ein oder zwei Jahre später, endlich mal geöffnet vorfanden und von innen anschauen konnten. Zu diesem Zweck hätten wir natürlich einfach beim Pastor klingeln und um den Schlüssel bitten können, aber wir hatten es, unseren Ausflugsgewohnheiten entsprechend, einfach darauf ankommen lassen.
Wir betraten die Kirche durch die gerade mal mannshohe Tür mit Rundbogen und standen schon mitten in der guten Stube. Viel größer als ein Wohnzimmer ist die Kirche nicht, aber sie hat alles was eine Kirche braucht: Einen Altar mit Altarbild und großem Kreuz dahinter, eine Kanzel, eine Loge mit eigenem Eingang für den Adel, etwa zwölf Bänke bis zur hinteren Wand und eine niedrige Empore mit weiteren Sitzplätzen und Platz für die Orgel.
Was mir gleich auffiel: Es war nicht düster oder kalt und roch nicht modrig. Durch die gar nicht so zahlreichen Fenster fiel genug Licht und es duftete nach Herbst und den zahlreichen Blumen, mit denen die Kirche an vielen Stellen geschmückt war. Lustigerweise ist der Boden der Kirche hinten höher als vorne, so wie im Theater, sie ist halt so in die hügelige Landschaft gebaut. Garantiert gute Sicht also auch auf den hinteren Plätzen.
Die Wände und die Holzverkleidungen sind weiß gehalten und mit ein bisschen Rot abgesetzt, dadurch wirkt die Kirche hell, gemütlich und freundlich. Außerdem ist sie ein bisschen schief und krumm, nicht so sehr wie man angesichts der unterschiedlichen Baustile und Flickarbeiten vermuten könnte, sondern gerade so, dass man nicht vergisst, dass man sich auf dem Lande befindet und in einer evangelischen Kirche, wo die Dinge so sein dürfen, wie sie nun einmal sind.
Während wir so bewundernd herumstanden, betrat der Pastor, ein reizender älterer Herr, die Kirche und gesellte sich zu uns. Wobei es auch schwer ist, diese Kirche zu betreten, wenn schon Leute drin sind und diese dann zu ignorieren. Dafür ist es einfach zu eng und intim dort. Er wies uns auf verschiedene Gedenktafeln an den Wänden hin, die an verschiedene Mitglieder der Adelsfamilie von Bernstorff erinnern, unter anderem an den Grafen Albrecht von Bernstorff, der als Diplomat und Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus noch kurz vor Kriegsende in Berlin hingerichtet wurde. Das Gut Stintenburg, einer der Familienwohnsitze der von Bernstorffs, wurde wie auch die Stintenburginsel und einige Ländereien im Umkreis enteignet. Später, zu DDR-Zeiten, wurde sie auf verschiedenste Weisen genutzt, bevor sie 1993 endlich an die Bernstorff-Familie zurückgegeben wurde.
Es war schon später Sonntagnachmittag und wir wollten den Herrn Pastor, der sicher hauptsächlich herübergekommen war, um die Kirche abzuschließen, nicht länger aufhalten, deswegen verabschiedeten wir uns bald. Er hielt uns nicht auf, drückte uns aber noch ein kopiertes Infoblättchen über die Kirche in die Hand, bevor er uns in die Abendsonne entließ.
Das Blättchen stopfte ich zunächst in die Handtasche, jetzt waren Biergarten, Kaltgetränk und Abendessen angesagt. Später am Abend, auf der Heimfahrt nach Hamburg, entfaltete ich es aber doch und warf einen Blick darauf. Und da stand doch tatsächlich (ich habe den Zettel leider nicht mehr und kann deswegen nur den Inhalt wiedergeben), dass Lassahn mitsamt Kirche historisch und bis 1945 zum Herzogtum Lauenburg, also zu Schleswig-Holstein, gehörte und dann im Rahmen eines Gebietstausches (Barber-Ljatschtschenko-Abkommen) in die sowjetische Besatzungszone kam. Das Abkommen hatte eine Umsiedelungsaktion der meisten in Lassahn lebenden Menschen zur Folge, die mitsamt ihrer beweglichen Habe in größter Eile über den See in den Westen evakuiert wurden.
„Wie jetzt?“ fragte ich aufgeregt meinen Freund. „Wie kann denn Lassahn am Ostufer des Sees zu Lauenburg gehört haben? Und was ist dann passiert? Wer oder was ist Barber-Ljaschtschenko? Und wie: Über den See evakuiert?“
Mein Freund, der sich mit Geschichte und Politik sehr viel besser auskannte als ich, bekannte, keine Ahnung zu haben. Von einem Gebietstausch direkt in unserer Nachbarschaft hatte er auch noch nie gehört, geschweige denn von einer Evakuierungsaktion über den Schaalsee. Und das, wo ich, höchst bewegt von diesen neuen Erkenntnissen, doch alles sofort und im Detail wissen wollte!
Sie erinnern sich: Wir befanden uns im Jahr 2006 oder 2007 und hatten kein internetfähiges Endgerät bei uns. Am liebsten wäre ich umgekehrt, um noch mal bei dem freundlichen Pastor zu klingeln. Aber das lehnte mein Freund ab, weil es inzwischen schon Abend und in seinen Augen zu spät für einen derartigen Überfall war. Es blieb also nur, zu hoffen, dass ich später im Internet etwas zu diesem Thema finden würde. Ich war richtig aufgeregt und wollte sofort alles ganz genau wissen.