Einatmen und Ausatmen. Und das Internet ist doch gut.

CN: In diesem Beitrag geht es um das Blogprojekt „22 Monate“, in dem das Sterben eines kleinen Jungen geschildert wird.

Wir wissen es ja alle: Die Sache mit dem Internet ist so eine Sache. Viele Dinge gehen heutzutage nach hinten los und man kann auch dem flauschigsten Katzenaccount nicht mehr einfach so vertrauen. Wer sich aus der Deckung wagt, Haltung zeigt und Stellung bezieht, die Deutungshoheit abgibt oder zumindest teilt, der braucht gute Nerven und ein dickes Fell.

Umso schöner und tröstlicher, wenn jemand sich im Internet was traut, sich nackig macht, so richtig mit ganz persönlichen Inhalten, und wenn die rezipierenden bzw. konsumierenden Menschen das dann auch zu schätzen wissen. So wie es sich jetzt mit dem Blogprojekt „22 Monate“ zugetragen hat.

„22 Monate“ handelt von Josef und seiner Familie. Josef wurde am 30. November 2013 geboren und ist am 3. Oktober 2015 gestorben. Das Blogprojekt seiner Familie hat die 22 Monate seines Lebens quasi in Echtzeit, nur um exakt vier Jahre zeitversetzt, nacherzählt. Jeden Tag ein Eintrag, wie in einem Tagebuch, der erste erschien am 30. November 2017 und diese Woche, am 3. Oktober 2019, war zu lesen, wie Josef gestorben ist. Berichtet wurde von Anne und Uli, Josefs Eltern, und gelegentlich auch von Klara, seiner älteren Schwester.

Ich schreibe dies bewusst sehr nüchtern. Das fällt mir nicht leicht, denn „22 Monate“ hat auf mich, wie auch auf unzählige andere Leser, einen starken Sog ausgeübt, mich nicht mehr losgelassen und mich emotional sehr angesprochen. Um nicht „mitgenommen“ zu sagen, weil das so zweideutig klingt (aber trotzdem stimmt).

Einatmen und Ausatmen.

Die Eckdaten des Projekts waren von Anfang an bekannt; jeder Leser konnte sich ausrechnen, wann Josef sterben würde. Und sich dann – theoretisch – sagen: In Wirklichkeit ist er ja schon lange gestorben. Praktisch wurde es mit dem Abstandhalten, jedenfalls bei mir, immer schwieriger; in den letzten Tagen und Wochen hat mich der Gedanke an Josef sehr bewegt und ständig begleitet.

Die Texte in den Blogeinträgen stammen von Anne, sie sind meist knapp, schlicht und ihre Dichte erschließt sich vor allem über die Wiederholung, die Rituale, die durch die rhythmische Wiederholung der alltäglichen Kleinigkeiten entstehen. Der Wecker, das kalte Wasser, Tee und Kaffee, Einatmen, Ausatmen. Die Katze, die auf Ulis Sachen schläft.

Die Katze. (Natürlich, wenn es irgendwo in einer Geschichte eine Katze gibt, dann geht sie mir direkt ans Herz.) Die kleine Katze, die im Juni eingezogen ist, weil Klara es sich so sehr gewünscht hat. Sie bleibt aber, zumindest aus Annes Sicht, ein Fremdkörper und wird kein Familienmitglied. Sie fordert Aufmerksamkeit, die Anne ihr nicht geben kann, nicht geben will. Die Katze ist so… lebendig. Schreibt Anne.

Ich weine um die Katze und ich weine um Anne. Um Josef, natürlich. Um eine Familie, die an so vielen Fronten dafür kämpfen muss, Familie sein zu dürfen. Und ihre Kraft doch eigentlich komplett dafür benötigt, diese Familie nur zu sein. Eine Familie mit einem schwerstkranken Kleinkind mit einer sehr begrenzten Lebenserwartung. Eine Familie, die einen Alltag will und so viel Gemeinsamkeit wie möglich. Und Privatsphäre, auch wenn das fast unmöglich ist mit vielen fremden Menschen in der Wohnung.

Einatmen und Ausatmen.

Dass wir, die Leser, mit in die Wohnung dürfen, sogar ins Schlafzimmer, das sonst der Familie vorbehalten bleibt, ist eine hohe Ehre und ein Vertrauensbeweis. Auch vier Jahre später noch. Wir dürfen teilhaben an Momenten der Freude, der Hoffnung, der Traurigkeit und der Verzweiflung. Wenig gefiltert, so fühlt es sich an; die Familie schützt sich ausschließlich durch den zeitlichen Abstand.

In den letzten Wochen und Monaten habe ich keinen Eintrag auf „22 Monate“ verpasst. Meist musste ich den kurzen Text gleich morgens lesen, mit meiner Katze auf dem Schoß. Die wundert sich schon lange nicht mehr, wenn ihr mal eine Träne ins Fell rinnt.

Es ging Josef schlechter, schon seit dem Sommer, er hatte Krämpfe, seine Atmung setzte immer wieder aus, oft lange. Die Vorstellung, das auszuhalten und zuzulassen… Josef selbst bestimmen zu lassen, was geschieht, wie und wann… Zu wissen, dass Anne und Uli und Klara und all die Profis, die beteiligt waren, wochen- und monatelang jederzeit damit rechnen mussten, dass Josefs Atmung endgültig aussetzt. Zu wissen, vom heutigen Standpunkt aus, dass das noch nicht jetzt geschehen wird, nicht heute, nicht nächste Woche. Am 3. Oktober dann, da wird es geschehen.

Und dann die letzten Tage und Wochen. Ein bisschen wie ein Countdown. Der Twittername von „22 Monate“ wurde um eine Content Note („CN: Ein Kind stirbt“) ergänzt und es gab einen kurzen Blogpost, in dem wir, die Leser, aufgefordert wurden, beim Lesen gut auf uns aufzupassen. Das hat mich vielleicht am meisten bewegt.

Einatmen und Ausatmen.

Am 3. Oktober frage ich mich morgens kurz: Wann will ich den Eintrag lesen? Den Eintrag. DEN Eintrag. Dann lese ich ihn, lese von Josefs letztem Atemaussetzer und von der anschließenden Stille. Der Eintrag schließt mit den Worten „Schmerz. Ruhe. Vertrauen.“ Und so fühlt es sich auch bei mir an. Vier Jahre danach.

Einatmen und Ausatmen.

Wir wissen es ja alle: Die Sache mit dem Internet ist so eine Sache. Manchmal eine ganz wunderbare und einzigartige Sache. So wie bei den „22 Monaten“.

2 Kommentare

  1. Einatmen. Ausatmen.
    Schon diesen Text zu lesen, hat mich getroffen. Ich habe vor einiger Zeit den einen oder anderen Post gelesen auf 22 Monate. Dann konnte ich das nicht mehr. In den vergangenen Jahren habe ich drei Blogs gelesen, die plötzlich verstummten. Es war klar, dass dies passieren würde oder könnte. Den Schreibenden, den Lesenden.
    Ich war voller Bewunderung über die Kraft, die die Betroffenen oft zu haben schienen. Wünschte mir, ich hätte nur ein bisschen davon; denn ich habe keine Kraft für schwierige Situationen. Und ich war schwer getroffen, als die drei Blogs, einer nach dem anderen, verstummten. Obwohl man es ahnen konnte.
    Vielleicht kann ich 22 Monate irgendwann lesen. Weil ich es gerne würde. Aber gerade nicht kann…

    Grüße vom Meer.
    Nicole

    1. Liebe Nicole,
      danke für deine Zeilen. Ich kann gut verstehen, dass du dir gut überlegst, ob und wann du die 22 Monate lesen willst.
      Manchmal ist es richtiger und wichtiger, an die eigenen Ressourcen zu denken und Grenzen zu setzen.
      Ich wünsche dir, dass du in deine Kraft kommst!
      Herzliche Grüße
      Bettina

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