Hinter dem Kleiderschrank

„Wo bin ich?“, fragte sich Frits van de Fritte, und als in seinem Kopf niemand reagierte, frage er noch einmal laut: „Wo bin ich?“

Auch außerhalb seines Kopfes kam keine Antwort. Fritte lauschte eine Weile angestrengt, aber nichts war zu hören, gar nichts. Er sah sich aufmerksam um, was auch nicht sehr hilfreich war, denn irgendwie schien es in diesem eigenartigen Raum hinter dem Kleiderschrank neblig zu sein. Ziemlich neblig. Wenn man es genau nahm, konnte Fritte kaum die Pfote vor den Augen sehen, nicht mal, wenn er die Pfote ganz dicht vor die Augen hielt. Seltsam.

Er drehte sich einige Male um sich selbst in der Hoffnung, einen Überblick über die Situation zu bekommen, was aber nur dazu führte, dass er ziemlich bald auch nicht mehr wusste, aus welcher Richtung er gekommen war bzw. wo der Weg zurück in den Kleiderschrank führte. Nichts in seiner Umgebung sah es wie eine Kleiderschrankrückwand im Nebel.

Nun war Fritte ja ein beherzter kleiner Kater und nicht leicht zu erschüttern. Obwohl ihm ein bisschen mulmig zumute war, so war er doch auch neugierig. Und hungrig. Und irgendwie roch es hier schon nach … hm, was war es nur? Irgendwas Nahrhaftes, da war Fritte sicher, aber er konnte nicht mit Sicherheit sagen, was.

„Aber das finde ich raus“, sagte er sich. „Gar kein Problem. Aus dem Weg, Nebel, hier kommt der Lebensmittelkontrolleur!“

Und schon machte er ein paar Schritte in den Nebel hinein, der ihn quasi sofort verschluckte. Also aus der Perspektive der unsichtbaren Kleiderschrankrückwand. Aus der Perspektive des Frits van de Fritte wäre natürlich nicht er selbst, sondern die Kleiderschrankrückwand verschwunden, wenn sie denn vorher sichtbar gewesen wäre. Falls Sie verstehen, was ich meine. Also: Fritte verschwand im Nebel, immer der Nase nach und so.

„Okay“, sagte der allein zurückbleibende Nebel und zog sich zusammen. „Wenn ich hier nicht mehr gebraucht werde, dann mache ich jetzt Schluss. Bis morgen, Leute!“

„Tschüß, Nebel“, riefen die unsichtbare Schrankwand und der undefinierbare Duft und winkten etwas unbestimmt in die Gegend. Schönen Feierabend!“

Einige Meter weiter bahnte Fritte sich vorsichtig seinen Weg durch … ja, durch was eigentlich? Er war sich selbst nicht sicher. Sehr hohes Gras? Treibsand? Geblümte Sommerkleider? Schokoladenpudding? Nein, Schokoladenpudding war es nicht, da war Fritte ziemlich sicher, aber darüber hinaus hätte er sich nicht festlegen mögen. Nicht, dass jemand ihn darum gebeten hätte, sich festzulegen. Nach wie vor war er allein auf weiter Flur. Kein Mensch, kein Tier, keine Pflanze war zu sehen. Nur dieser Duft und der eigenartige Luftwiderstand, der irgendetwas Zähes simulierte, an dem schwer vorbeizukommen war.

Vorsichtig ging Fritte weiter. Alle paar Schritte blieb er stehen, sah sich aufmerksam um und rief Dinge wie „Hallo!“, „Ist hier jemand?“ oder „Heiße Würstchen!“.

Nichts. Kein Echo, keine Antwort, keine Einladungen zum Abendessen. Und dabei bekam Fritte langsam Hunger. Großen Hunger. Schließlich war er ein großer Kater und brauchte die regelmäßigen Mahlzeiten, an die er sich gewöhnt hatte, seit er mit der dicken freundlichen Frau zusammenwohnte. Zweimal am Tag kam ihm nicht sehr häufig vor, aber doch deutlich besser als absolut gar nicht oder nie, so wie jetzt gerade.

„Vielleicht sollte ich zurückgehen“, überlegte Fritte. „Zum Abendessen wäre ich doch gerne wieder zu Hause. Und was ich hier soll, weiß ich sowieso nicht. Aber wo ist zurück?“

Fritte begann erneut, sich um sich selbst zu drehen, aber wie schon vor einigen Minuten sah es überall gleich aus: Es gab nichts zu sehen, absolut nichts.

„Mama!“, rief Fritte, „Mama, hol mich hier raus! Mir ist kalt und ich hab‘ Hunger. Mama! MAMA!“

Grillenzirpen. Also von der unsichtbaren und lautlosen Art.

„MAMMMMMAAAAAAAA!“

Natürlich hatte Fritte keine Angst oder so. Er doch nicht, ein Kater von Welt mit Erfahrung und allem. Angst kannte er doch gar nicht. Aber so richtig wohl war ihm auch nicht zumute, so ohne die dicke freundliche Frau, seine liebenswürdige Mitbewohnerin Frl. Leonie Mau und sein gemütliches Bettchen, ganz alleine in diesem eigenartigen Raum hinter dem Kleiderschrank, in dem es irgendwie nichts gab, rein gar nichts.

„Na gut“, sagte er. „Dann werde ich eben meiner eigenen Spur zurückfolgen. So komme ich sicher schnell wieder zum Kleiderschrank und nach Hause.“

Wie ein Spürhund brachte er seine Nase in die Nähe des Bodens und schnüffelte angestrengt. Machte ein paar Schritte nach links, einen Hüpfer nach rechts und dann eine halbe Drehung.

„Seltsam“, sagte er. „Ich kann meine eigene Spur nicht riechen. Wenn doch bloß mein Kumpel Sean hier wäre, der mit der Super-Spürnase.“

Aber Kumpel Sean glänzte weiter durch Abwesenheit und Fritte wurde zunehmend klar, dass er auf sich allein gestellt war. Dass er ganz alleine wieder nach Hause finden musste. Und das möglichst schnell. Jedenfalls wenn er sein Abendessen nicht verpassen wollte.

„Los, du blöder Kleiderschrank!“, rief er mutig, „komm raus und zeig dich. Ich habe hier genug gesehen und will jetzt zurück ins Schlafzimmer. Los. Zeig dich!“

„Ich bin hier!“, hörte er plötzlich eine Stimme sagen. „Hier, hinter dir.“

Blitzschnell drehte Fritte sich um. Nicht schnell genug offensichtlich, denn die Stimme kicherte jetzt hörbar und noch immer hinter seinem Rücken: „Hier, Fritte, hier!“

Frittes nächste Drehung war so schwungvoll, dass er gleich mehrmals um sich selbst herumpirouettierte. Etwas außer Atem kam er zum Stehen: „Wo bist du, blöder Schrank?“

„Wer hier wohl blöde ist …“, kicherte die Stimme. „Nur ein paar Schritte nach rechts, dann hast du mich erreicht.“

„Du willst mich doch verscheißern!“, vermutete Fritte und machte rasant ein paar Schritte nach links. „Ich glaube dir kein Wort mehr. Da, da bist du doch …?“

BOING war das Geräusch, das Frittes Schädel beim Zusammenstoß mit dem Gegenstand, der ihm von links entgegenkam, machte. BOING? dachte Fritte noch, bevor er zu Boden ging und bewusstlos wurde. BOING?

„Er ist vor Schreck ohnmächtig geworden“, sagte jetzt eine Stimme, die ziemlich sicher zu Leo gehörte, was Fritte auch sofort realisiert hätte, wenn er nicht gerade flach am Boden gelegen hätte. „Schnell, lass ihn uns zurück ins Schlafzimmer bringen und ins Bett legen. Dann erzählen wir ihm, er hätte nur schlecht geträumt. Ich glaube nicht, dass er noch einmal Lust hat, sich auf den Weg durch den Kleiderschrank zu machen und nach der Weltherrschaft zu suchen.“

„Du bist ganz schön schlau, Leo“, sagte eine zweite Stimme, die sich sehr nach der dicken freundlichen Frau anhörte, was Fritte aber auch nicht wahrnahm, weil er noch immer die Glocken läuten hörte. „Los, nimm du seine Füße und dann ziehen wir ihn durch den Schrank zurück, bevor er wieder zu sich kommt. Und lass unbedingt die Katzenminze verschwinden, von der er vorhin eventuell einen Happen zu viel hatte.“

Gesagt, getan. Einen kleinen Moment später spürte Fritte, wie ihm eine kalte Kompresse auf die Stirn gelegt wurde und die dicke freundliche Frau ihn sanft streichelte. „Fritte? Fritte? Wach doch bitte auf!“

„Vielleicht hilft ein kleiner Leberwurst-Snack“, hörte er Leo sagen. Es folgte das typische Aufreißgeräusch eines kleinen Alutütchens und dann verbreitete sich der herrliche Duft eines Leberwurst-Schleck-Snacks.

Vorsichtig öffnete Fritte ein Auge. Vor ihm saß Leo, die ihn besorgt anstarrte und ihm ein Schlecktütchen vor die Nase hielt. Okay, nicht übel. Er öffnete das zweite Auge und bemerkte, dass er auf dem Schoß der dicken freundlichen Frau lag, die ihm einen nassen Waschlappen auf die Stirn gelegt hatte und nun gerade seinen Pulsschlag kontrollierte.

„Alles okay“, murmelte er und stürzte sich auf den Schleck-Snack. Köstlich und er war so ausgehungert. Wie lange war er ohnmächtig gewesen, fragte Fritte sich besorgt. Er hatte doch nicht etwa das Abendessen verpasst?

„Ich glaube, es geht ihm wieder gut“, sagte die dicke freundliche Frau erleichtert zu Leo. „Dann können wir ja gleich mal was essen. Glaubst du, du kannst was essen, Fritte?“

„Ich kann nicht nur, ich muss!“, rief Fritte und setzte sich aufrecht hin. „Los geht’s!“

Mit einem großen Satz sprang er vom Bett und machte sich auf den Weg in die Küche. Aus den Augenwinkeln sah er, wie die dicke freundliche Frau und Leo sich gegenseitig abklatschten und vielsagend zugrinsten. Warum, das war ihm nicht ganz klar, aber auch verhältnismäßig egal, denn jetzt war Essenszeit und er hatte keine Zeit zu verlieren. Abendessen, große Portion (oder zwei), jetzt. Alle weiteren Gedankenfetzen rieselten leise aus dem Katerhirn. Prioritäten, Sie wissen schon.

 

 

 

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