Für mehr Twitter im sogenannten wirklichen Leben!

Es gibt Zeiten, in denen mir mein virtuelles Leben, also vor allem Twitter, realer vorkommt als das sogenannte wirkliche Leben. Nein, nicht nur dann, wenn ich mit meiner Mutter zu tun habe (Zeiten, in denen ich durchschnittlich alle sieben Minuten schreie: „Das darf ja wohl nicht wahr sein!“), sondern auch in ganz „normalen“ Phasen des Lebens, zum Beispiel im Büro oder im Supermarkt kurz vor Feierabend. Also diese Situationen, die einem oft skurril oder geradezu absurd erscheinen, aber ohne jeden Sinn und Zweck. Und mit ohne Sinn und Zweck meine ich oft, dass keiner einen Tweet darüber schreibt. Ohne Sinn und Zweck, weil viele hochnotpeinliche und saukomische Momente einfach untergehen bzw. vor einem nicht aufnahmebereiten Publikum stattfinden. Sie kennen das: Da rutscht einer auf einer Bananenschale aus und fällt in die Pyramide mit den Erbsenkonserven und keiner lacht, weil alle schnell weg wollen, dahin, wo vielleicht gleich die nächste Kasse öffnet.

Bei Twitter – zumindest in den guten Zeiten – ist das anders. Ich öffne die App, weil ich hoffe, dass jemand die Geschichte von der Bananenschale und der zusammenbrechenden Erbsenpyramide in 140 Zeichen so zusammenfassen kann, dass ich noch stundenlang darüber grinse – und siehe da, genau das passiert und außerdem hat noch jemand die falsch geklebten Lidl-Plakate („Die Wahl du hast“) fotografiert und in Windeseile viral verbreitet.

In nicht so guten Twitter-Zeiten gibt es auch dort nichts zu lachen. Leider. In der Timeline wird manchmal rumgezickt, als hätte jemand PMS viral verbreitet, und ein gern gelesener Twitterer nach dem anderen klinkt sich demonstrativ genervt aus („Twoff!“). Es bleiben Langweiler, Werbeaccounts und Ignoranten wie ich, die mal wieder nicht mitgekriegt haben, was los ist. Ich weiß eigentlich nie, wer sich gerade mit wem nicht verträgt, und die meisten Säue, die durchs Twitter-Dorf getrieben werden, kenne ich nicht einmal vom Sehen. Was vielleicht daran liegt, dass ich nur selten per Direktnachricht verkehre und normalerweise auf die Informationen angewiesen bin, die offen in der Timeline zu sehen sind. Ich merke nur, dass es immer langweiliger wird, und manchmal klicke ich die App dann auch weg. Dann schaue ich meine alten DVDs von „Grey’s Anatomy“ oder „Gilmore Girls“ bei Netflix und überlege, ob das nicht das ganz wirklich wahre Leben sein könnte. Aber das ist, wenn ich so drüber nachdenke, eigentlich einen eigenen Blogartikel wert, also vergessen Sie bitte vorübergehend wieder, was ich gesagt habe.

In guten und in nicht so guten Zeiten aber gibt es bei Twitter ein paar Accounts, die mir wirklich sehr ans Herz gewachsen sind. Manche der Menschen, die hinter diesen Accounts stehen, kenne ich persönlich, andere nicht. Bei manchen weiß ich noch nicht einmal, in welcher Stadt sie leben und ob sie Frau, Mann, Katze oder Alien sind (Mehrfachnennungen sind wahrscheinlich möglich). Das ändert aber nichts daran, dass ich sie gern habe, dass ich mich über jedes Auftauchen in der Timeline freue und dass ich sie vermisse, wenn sie nicht da sind. Dann schaue ich gerne mal in ihrem Twitterprofil nach, ob ich die letzten Tweets einfach nur verpasst habe. Und ob Theo (der Kater) wieder nach Hause gekommen ist. Oder ob endlich jemand das benötigte Heilmittel gegen Krebs gefunden hat.

Manchmal weiß ich, warum ein Herzenstwitterer gerade weniger oder gar nicht twittert, manchmal nicht. Ich finde es auch völlig in Ordnung, wenn jemand seine Sorgen nicht dauernd in der Timeline breittreten möchte – Gedanken mache ich mir aber möglicherweise trotzdem. Mal mit, mal ohne Nachfrage (dann doch per DM).

Für mich persönlich habe ich herausgefunden, dass es mir hilft, wenn ich Worte für die Dinge, die mich beschäftigen, finde. Bei Twitter oder auch hier im Blog. Über alles, was mich so bewegt, kann ich natürlich trotzdem nicht schreiben; oft hängen da ja auch andere Menschen dran, auf die ich Rücksicht nehmen muss. Oder möchte. Naja, meistens muss. Aber über alles andere schon.

Ich freue mich immer, wenn andere Twitterer das Vertrauen in ihre Twitter-Filterblase (und möglicherweise auch darüber hinaus) haben und es wagen, wirklich persönliche und schwierige Dinge aufzuschreiben. Vielleicht sogar um Rat oder praktische Hilfe zu bitten. Natürlich machen sie sich damit angreifbar. Ich glaube aber auch, dass die Twittergemeinschaft an sich in der Lage ist zu erkennen, wie viel Vertrauen ihr hier gerade entgegengebracht wird, und dass sie sich deswegen bemühen wird, sich dieses Vertrauens als würdig zu erweisen. So nach dem Motto: Man muss den Menschen gute Eigenschaften wie Interesse, Güte, Empathie und Hilfsbereitschaft zutrauen, dann werden sie diese Eigenschaften – falls sie die nicht sowieso täglich zur Anwendung bringen – vielleicht auch in sich entdecken können.

Ja, ich glaube an das grundsätzlich Gute im Menschen, auch und vor allem im Internet. Es mag manchmal verschüttet sein oder verdrängt und unwichtig erscheinen oder weniger klick- und favwürdig, aber man kann es fast immer wieder hervorlocken. Es tut gut, freundlich und freundschaftlich miteinander umzugehen. Unabhängig davon, ob man sich wirklich nahe steht oder sich nur gelegentlich liest und aneinander erfreut. Es tut auch gut, sich als breite Masse bzw. Schwarm zusammenzutun und eine Welle der Sympathie und oder der praktischen Hilfe für einen Twitterer, dem es gerade nicht so gut geht, in Schwung zu bringen. Erstens hilft das dem Twitterer und zweitens hilft das dem Gemeinschaftsgefühl. Vielleicht hilft es sogar ein bisschen gegen Trolle und Unruhestifter, die einzelne Accounts oder die Twitter-Allgemeinheit belästigen.

Nein, ich halte mich nicht für besonders naiv. Natürlich gibt es Menschen, Strömungen und Gruppierungen, mit denen uns Güte und Hilfsbereitschaft nicht weiterbringen. In den allermeisten Fällen helfen aber auch hier Gelassenheit, gut gepflegte Netzwerke (im Internet und anderswo) und ein gesundes Selbstbewusstsein… auch wenn man sich dann schließlich doch entschließen sollte, jemandem mal kräftig eins reinzuwürgen oder auch Anzeige gegen einen Störenfried zu erstatten. Wenn ich das tue, dann mit voller Überzeugung und ohne Angst vor meiner eigenen Courage. Im Großen wie im Kleinen.

Das gilt auch für das sogenannte wirkliche Leben, aber eigentlich befasse ich mich ja gerade mit dem anderen, dem virtuellen Leben, dem Leben, in dem wir unser Gegenüber nicht persönlich vor sich haben, sondern anhand dessen kennenlernen, was die/der andere – bewusst oder unbewusst – schriftlich mit uns teilt. In dem wir eine Kunstfigur erschaffen, die in meinen Augen sehr viel interessanter ist, wenn sie nicht zu weit von unserer realen Person entfernt ist, sondern von den Erlebnissen und Wahrnehmungen unseres realen Seins gespeist wird.

Vielleicht geht diese Kunstfigur mit dem einen oder anderen Ereignis aber anders (besser!) um als mein wirkliches Ich. Vielleicht ist sie weniger von Ängsten und Hemmungen begleitet und kann ihre Gefühle – gerade weil sie schriftlich und in 140 Zeichen zusammengefasst werden müssen – oft sogar besser ausdrücken. Vielleicht überlegt sie nicht immer 48 Stunden lang, wie man „Ich habe gehört, dass dein Vater gestorben ist. Das tut mir sehr leid. So wie du immer von ihm erzählt hast, wart ihr euch nahe und du musst ihn sehr vermissen“ noch besser sagen kann. Sie sagt es einfach. Und wenn meine Kunstfigur das ein paarmal bei Twitter gesagt hat, dann hat das eventuell sogar eine Wirkung auf mein wirkliches Ich und ich probiere es auch in meinen sogenannten wirklichen Leben mal aus.

Habe ich da gerade angedeutet, dass Twitter mich zu einem besseren Menschen macht? Ja, vielleicht. Auf jeden Fall zu einem Menschen, der besser zwischen den Zeilen liest und auf Zwischentöne hört als früher. Zu einem Menschen, der seinen Mitmenschen, real oder virtuell, mit Freundlichkeit und Vertrauen begegnet. Jedenfalls immer öfter. Der weiß, dass es für jedes bescheuerte Problem eine vielleicht noch bescheuertere Lösung gibt – und eventuell auch jemanden, der sich daraus einen Fetisch zusammenhäkelt. Zu einem Menschen, der nicht nur das unbestimmte Gefühlt hat, dass Katzen eines Tages die Weltherrschaft übernehmen werden, sondern der dafür auch diverse Beweise hat und der weiß, dass „eines Tages“ schon morgen sein kann.

Hat dieses ganze Gequatsche einen tieferen Sinn? Eine Moral gar? Vielleicht. Es muss ja auch jede/jeder für sich selbst entscheiden, was er ins Internet schreibt und wie angreifbar sie/er sich damit macht. Ich sage nur: Meine Erfahrungen sind gut. Und zwar durchweg. Und von Zeitverschwendung ist das, was ich hier gerade mache, für mein Gefühl weit entfernt! Ich lese tolle Menschen und werde von tollen Menschen gelesen. Mal ganz ehrlich: Was, außer vielleicht Käsekuchen, kann es Besseres geben?

 

 

 

4 Kommentare

  1. Ach wie gerne würde ich das auch (wieder) so sehen können wie Du. In letzter Zeit bin ich eher immer öfter genervt. Könnte aber natürlich auch daran liegen, dass ich einigen/vielen – mittlerweile – falschen Leuten folge. Und dennoch kann ich es nicht ganz aufgeben, würden mir doch tatsächlich auch ein paar Menschen, die ich gar nicht „wirklich“ kenne, fehlen. Und die Geschichten um die einen oder anderen Vierbeiner oder Zweiflügler auch…
    Und auch das bloggen fehlt mir irgendwie. Allerdings habe ich, wie bei Twitter eben auch, das Gefühl, eben jenes nicht in die richtigen Worte verwandeln zu können.
    So bleibt vorerst nur Wunsch und Sehnsucht, wieder mehr Freude zu finden. Am lesen und gelesen werden.

    1. Liebe MH,
      Zweifel kenne ich natürlich auch, sie kommen mir immer mal wieder und schon einige Male habe ich überlegt, das Twittern aufzugeben. Trotzdem überwiegen bei mir bei Weitem die guten Erfahrungen und ich wünsche dir sehr, dass du auch wieder mehr Freude an dem ganzen Hin und Her findest. Schließlich gehörst auch du zu meinen Herzenstwitterern.
      (Übrigens bin ich auch sehr oft mit den von mir gefundenen Worten nicht sehr zufrieden – aber vom Nichtschreiben werde ich erst recht nicht besser, deswegen müsst ihr da halt durch.)
      Followings kann man ja korrigieren (für Notfälle habe ich statt Entfolgen das Muten für mich entdeckt) – vielleicht schaust du mal zusammen mit dem bildhübschen Kater die TL durch und entdeckst ein paar neue lesenswerte Twitterer?
      Ich freu mich immer, von dir zu lesen.
      Herzliche Grüße
      Bettina

  2. Die guten Erfahrungen überwiegen auch bei mir. Meine Twitterblase halte ich aber mit Absicht ziemlich klein. Mit meinem ersten Blog habe ich hingegen schlechte Erfahrungen gemacht, so dass ich es vermeide, über politische Themen zu bloggen und auch zu twittern.

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