Herzlich Willkommen im Jahr 2022, dem Jahr, in dem hoffentlich vieles anders wird. Anders zumindest als im Jahr 2021 und dem größten Teil von 2020.
Obwohl ich persönlich das große Glück hatte und habe, im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie große Entscheidungen zu treffen und in meinem Leben, zumindest was den beruflichen Teil angeht, noch einmal eine neue Richtung einschlagen zu können, hängt mir das Leben mit der Seuche doch auch gepflegt zum Hals raus. So wie wohl allen meinen Mitmenschen auch.
Ich würde wirklich gerne mal wieder meine Wohnung verlassen und entspannt irgendwo hingehen oder -fahren. Ohne mir beim Anblick anderer Menschen, mit oder ohne Abstand und Maske, irgendwelche Gedanken machen zu müssen außer vielleicht: Kenne ich die*den womöglich und habe aber den Namen vergessen?
Aber immerhin habe ich eine Wohnung, in der ich mich sicher und wohl fühle, und damit geht es mir doch schon sehr viel besser als vielen Zeitgenoss*innen. Und mein Geld reicht auch noch immer. Zwar gehen meine Rücklagen langsam zur Neige und vom Arbeitslosengeld (also ALG 1) kann ich auf die Dauer nicht wirklich leben, aber so langsam sind auch alle notwendigen Fortbildungen und Qualifizierungsmaßnahmen bezahlt… und es kommt ja auch seit November 2021 langsam wieder etwas Geld rein. Und zwar in meinem neuen Beruf.
Das Gefühl, eine erste Rechnung als Freiberufliche/Selbständige zu schreiben, war schon ein gutes: Bettina Kok – Trauerbegleitung, so heiße ich als Unternehmen. Das erste Honorar für diese neue Tätigkeit ist bereits auf meinem Konto eingegangen (und auch schon wieder ausgegeben). Aber immerhin arbeite ich jetzt, wenn auch noch auf Honorarbasis, für „mein Hospiz“ und Hoffnung auf eine Festanstellung später in diesem gerade erst beginnenden Jahr habe ich auch. Mit etwas Glück auch überwiegend für Trauer- und Öffentlichkeitsarbeit und nur ein wenig als Bürokraft.
Für diese Entwicklung und die Perspektive musste ich allerdings auch einen Abschied in Kauf nehmen, den Abschied von meinem Ehrenamt. Das war mir natürlich klar, als ich beschlossen habe, hauptberuflich im Hospiz arbeiten zu wollen, aber ich hatte immer gehofft, den offiziellen Abschied von der ehrenamtlichen Tätigkeit noch etwas hinauszögern zu können. Am liebsten bis der gewünschte Festvertrag unter Dach und Fach ist.
Ich habe allerdings auch seit drei Monaten keinen Hospizgast mehr begleitet. Meine letzte Gästin, das muss im September gewesen sein, habe ich nur einige wenige Male gesehen, bevor sie beschloss, wieder nach Hause zu gehen. Und danach war ich so mit meinen Trauergruppen und der Frage, in welchen Bereichen der Hospizarbeit ich mich noch einbringen könnte, beschäftigt, dass ich keine weitere Begleitung mehr annehmen konnte. Und es ergab sich ja auch noch ein zweiter Honorarvertrag für die Mitarbeit an der Website für das neu entstehende Hospiz. Da diese Seite möglichst bereit sein soll, online zu gehen, was passieren wird, sobald die Baugenehmigung vorliegt und der Umbau offiziell beginnt, habe ich damit auch recht gut zu tun.
Und so habe ich mich jetzt in der letzten Woche, in den Tagen zwischen den Jahren, offiziell vom Ehrenamt verabschiedet. Ein größeres Treffen mit den anderen Ehrenamtlichen ging ja leider nicht, so verabredete ich mich einfach nur mit meiner Koordinatorin, bekam Blumen geschenkt und wir plauderten über die ganzen Veränderungen um uns herum und darüber, was das alles mit uns macht. Aus verschiedenen Gründen ging ich eher nachdenklich und melancholisch aus diesem Treffen. Es überrascht mich nicht, dass ich trotz aller Freude über die neuen Perspektiven und Möglichkeiten auch ziemlich traurig über diesen Abschied bin. Ich habe mein Ehrenamt geliebt.
Es ist etwas ganz Besonderes, sterbende Menschen begleiten zu dürfen. Mit nichts zu vergleichen, eigentlich, und ein unglaubliches Privileg. Kein Beruf, sondern eine Art der mitmenschlichen und zwischenmenschlichen Zuwendung. Auch etwas, was man im Grunde nicht lernen kann oder muss. Zwar durchlaufen Ehrenamtswillige an fast allen Hospizen umfassende Vorbereitungskurse, diese sind aber nicht im üblichen Sinne Aus-, Fort- oder Weiterbildungen. Das Begleiten schwerstkranker und sterbender Menschen wird dort auch weniger unterrichtet als das Zugreifen auf bereits vorhandene Fähigkeiten und Ressourcen, das Wissen um die eigenen Bedürfnisse und Grenzen. Die Eignung und die individuellen Möglichkeiten für ein solches Ehrenamt, die bringen die Teilnehmer*innen an den Kursen grundsätzlich schon mit, sie gehen normalerweise Hand in Hand mit dem Wunsch, ein Ehrenamt ausgerechnet in einem Hospiz auszuüben.
Die Ausübung eines Ehrenamtes wird gerne als Zeitspende bezeichnet, wohl auch um sie in einem Atemzug mit Geld- und Sachspenden nennen zu können. Das sieht auf einer Website oder in einem Flyer auch hübsch aus, aber im Leben fühlen sich Ehrenamtliche selten als Zeitspendende. Eher empfinden sie sich als diejenigen, die beschenkt werden: mit der kostbar gewordenen, weil extrem endlich gewordenen Zeit ihres Gastes. Oft haben sich meine Gästinnen und Gäste am Ende meiner Besuche für meine Zeit bedankt und immer habe ich diesen Dank zurückgegeben: „Danke auch für Ihre Zeit.“
Außer ihrer Zeit schenken uns die Sterbenden manchmal auch einen großen Anteil ihrer Kraft. Vor und nach unseren Besuchen müssen sie ruhen, auch wenn wir während des Besuchs gar nichts besonders Anstrengendes unternommen zu haben. Aber die Kräfte von Sterbenden sind ebenfalls endlich und wenn Besuche, egal ob von An- und Zugehörigen oder von uns, den Ehrenamtlichen, zu den Höhepunkten des Tages oder gar der Woche zählen, dann werden dafür vielleicht die letzten Kraftreserven zusammengerafft oder sogar vorher angespart.
Dass ein*e Ehrenamtliche*r nur ihretwegen und nur für diesen einen Besuch ins Haus kommt, dafür vielleicht im Job früher Feierabend machen muss und sich durch den nachmittäglichen Stadtverkehr kämpft, das beeindruckt die meisten Hospizgäste gewaltig.
„Sie besuchen nur mich, niemanden sonst? Wirklich? Und dafür kommen Sie hierher?“
„Natürlich.“
„Und wenn ich dann, so wie vorletzte Woche, mal zu müde bin und Sie nach einer Viertelstunde wieder wegschicke?“
„Dann fahre ich wieder nach Hause.“
Wie oft habe ich solche Dialoge geführt… Und es ist ganz egal, ob es auch mal Momente gibt, in denen ich als Ehrenamtliche denke: Na toll, und dafür habe ich jetzt aufs Mittagessen verzichtet. Das passiert. Sterbende Menschen ändern manchmal von einem Moment auf den nächsten ihre Tagesplanung, absichtlich oder auch gezwungenermaßen, weil ihr Körper einfach andere Entscheidungen trifft als ihr Verstand. Das ist so und damit muss ich als Ehrenamtliche leben können. Ohne mich persönlich beleidigt zu fühlen. Und manchmal ist es auch so, dass ich ins Zimmer trete und meine Gästin aus tiefstem Schlaf hochschreckt: „Oh nein, ist heute Montag? Ich habe Sie völlig vergessen!“ und: „Das wird heute nichts mit mir, fürchte ich.“ Und dann sage ich: „Okay, wenn Sie lieber schlafen wollen, ist das völlig in Ordnung und ich gehe wieder. Ich setze mich aber mal einen kleinen Moment zu Ihnen und wir schauen, ob Sie vielleicht doch richtig wach werden oder eher nicht.“ Manchmal findet die Gästin dann wider Erwarten irgendwo die Kraft und die Lust auf eine Unterhaltung. Manchmal werden das dann die besten Besuche.
Und das alles gebe ich jetzt auf. Die Arbeit mit Trauernden ist auch wunderbar und bereichernd, aber eben ganz anders. Trauernde stehen ja – meistens – noch mitten im Leben, auch wenn sie sich gerade komplett entwurzelt fühlen. Sie haben noch Perspektiven und Zukunft, sie gestalten noch ihr Leben. Es ist sehr spannend und erfüllend, sie auf ihrem Trauerweg ein Stück weit zu begleiten, auch dabei geht es im Grunde um „die einfachen Dinge des Lebens“. Idealerweise – und das unterscheidet natürlich die Trauernden grundlegend von den Sterbenden – gewinnen sie im Laufe der Begleitung nach und nach den Zugriff auf ihre Ressourcen, ihre Selbstwirksamkeit und ihre Perspektiven zurück. Wenn es gut läuft, gehen sie aus ihrem Trauerprozess gestärkt hervor und irgendwann brauchen sie uns nicht mehr.
Die Sterbenden hingegen brauchen meist mehr Zuwendung und Unterstützung, je näher sie dem Tod kommen. Dass sie sich uns Hospizler*innen oft vorbehaltlos anvertrauen in ihrem Abschied vom irdischen Leben, der vor allem ein Abschied von der Kontrolle über den eigenen Körper und das eigene Sein ist, das ist jedes Mal wieder ein Wunder. Zumindest habe ich es immer wieder so empfunden. Und gerade als Ehrenamtliche, die nicht wie eine gute Hospiz-Pflegefachperson ganz viel Gutes auch praktisch TUN kann (und soll), sondern die Gutes „nur“ durch ihr Da-Sein, Ihr Nicht-Wegsehen und Mit-Aushalten ausdrückt, fühle ich mich mit etwas unglaublich Kostbarem beschenkt.
Das Schöne ist: Wenn ich mein Ehrenamt jetzt aufgebe, wird jemand anderes diesen Platz einnehmen. Es gibt viel Interesse an ehrenamtlicher Sterbebegleitung (und anderen ehrenamtlichen Einsatzmöglichkeiten im hospizlichen Umfeld) und irgendwann, in Nach-Corona-Zeiten (wann auch immer die wohl sein mögen) wird es auch wieder einen Kurs für das stationäre Ehrenamt im Hamburger Hospiz im Helenenstift geben.
Vorher gibt es natürlich eine Schulung für das Ehrenamt in unserem neuen Hospiz am Deich. Das ist vielleicht noch besonderer als sowieso schon, weil es eben um die erste Ehrenamts-Generation in einem neu eröffneten Hospiz geht. Das ist noch richtige Pionierarbeit.
Ich bin sehr gespannt auf die neue Generation. Mit etwas Glück darf ich als Mitarbeiterin der Trauer- und Öffentlichkeitsarbeit sogar ein bisschen bei der Schulung dieser neuen Ehrenamtlichen mitwirken. Ist das nicht großartig? Dafür trage ich dann auch gerne mein neues Namensschild.
Es ist so faszinierend, wohin und wie weit dich dein Weg geführt hat, seit dem Tod deines Papas. Ich bewundere dich sehr! <3 (Und sehr viel Glück im neuen beruflichen Umfeld.)
Mir war bis zum Lesen dieses Beitrags nicht bewusst, wie unterschiedlich die Tätigkeiten in einem Hospiz bezogen auf Sterbende und Zugehörige sind. Danke, dass du uns (auch) etwas von diesem Teil deines Lebens zeigst. Und mindestens meinen Blick erweiterst.
Beschenkte Grüße
Vero samt Kadsis