Die Chemotherapie schlug tatsächlich an; die Werte meines Vaters und auch sein Befinden verbesserten sich, wenn auch nur langsam. Mit den Nebenwirkungen kam er zunehmend besser zurecht, trotzdem blieb die freie Woche zwischen zwei Chemozyklen immer der heißersehnte Lichtblick für ihn. Das Einnehmen von Tabletten war und blieb ihm einfach zuwider. Im Herbst 2014 hatte sein Zustand sich so weit stabilisiert, dass die Onkologen ihm sogar eine längere Chemopause in Aussicht stellen konnten, die von Mitte Dezember bis Ende Januar dauern sollte. Darauf freute mein Vater sich schon sehr.
Worauf er sich weniger freute bzw. was ihm sehr gemischte Gefühle verursachte, war sein achtzigster Geburtstag Anfang Oktober. Mein Vater hatte seine Geburtstage schon lange nicht mehr gefeiert; in den letzten Jahren waren meine Mutter und er rund um den Geburtstag immer mit unbekanntem Ziel verreist. Das blieb ihm nun verwehrt; trotz allen Unwillens, sich den Glück- und Genesungswünschen seiner Umwelt auszusetzen, ging es ihm längst nicht gut genug, um eine Reise planen und antreten zu wollen. Worüber vor allem meine Mutter heilfroh war, die das Leben zu Hause schon anstrengend genug fand.
Dass mein Vater seinen Geburtstag notgedrungen zu Hause verbrachte, hieß natürlich noch lange nicht, dass er ihn auch feiern wollte. Möglichweise sogar mit uns. Erste vorsichtige Anfragen unsererseits stießen auf Desinteresse und Abwehr. „Das ist doch nun wirklich nicht nötig“, sagte mein Vater, „was soll ich denn da groß feiern?“
„Von groß feiern hat ja niemand was gesagt“, teilte ich meiner Mutter mit. „Ich glaube, wir kommen abends einfach vorbei und du hast zufällig ein bisschen mehr Brot und Käse im Haus als sonst. Und wenn Papa denn ins Bett gehen will, dann geht er eben ins Bett.“
Den Plan fand meine Mutter gut und mein Bruder und mein Freund ebenfalls. Und so trafen wir uns dann eben rein zufällig im Wohnzimmer meiner Eltern und beschlossen, dass wir dann auch gleich meinem Vater zum Geburtstag gratulieren konnten.
Mein Vater war hin- und hergerissen, das war deutlich zu sehen. Er freute sich ein bisschen, dass wir da waren, hatte aber überhaupt keine Lust auf einen runden Geburtstag und irgendein Theater deswegen. Und schon gar nicht auf irgendeine Art von Hintergedanken, dass das auch sein letzter Geburtstag sein könnte.
Wir waren sehr vorsichtig. Bei dem aus „zufällig vorhandenen“ Käse- und Brotvorräten bestehenden Abendessen plauderten wir über dies und das, immer darauf bedacht, meinen Vater nicht unter Druck zu setzen. Immer in der Erwartung, dass er seinen Stuhl zurückschieben, sich verabschieden und in sein Schlafzimmer verschwinden würde.
Was erstaunlicherweise nicht geschah. Er stand zwar irgendwann auf, aber nur um vom Esszimmerstuhl auf einen gemütlicheren Sessel umzuziehen (er war nach wie vor so dünn, dass seine Gesäßknochen weit vorstanden und er nirgends lange bequem sitzen konnte). Also setzten wir uns alle vom Esstisch in die Sitzecke, immer in der Erwartung, dass mein Vater sich bald zurückziehen würde. Normalerweise gegen acht, hatte meine Mutter gesagt, und es war schon nach acht.
Er wurde auch plötzlich stiller und nachdenklicher, sagte nicht mehr viel und saß ein Weilchen einfach nur da. Dann aber begann er, statt sich zu verabschieden, plötzlich zu erzählen. Aus seiner Kindheit und Jugend, also aus Kriegs- und Nachkriegszeiten. Ich kannte die meisten Details, konnte mich aber nicht erinnern, ihn vorher jemals so ausführlich davon sprechen gehört zu haben.
Es waren ja erschwerte Bedingungen damals, sein Vater war natürlich im Krieg, anschließend in Kriegsgefangenschaft und seine Mutter musste meinen Vater und seinen jüngeren Bruder alleine durch die schweren Zeiten bringen. Es ging vom zerbombten Hamburg über Mirow in Mecklenburg nach Varel in Friesland, wo die Schwestern meiner Großmutter lebten und die Verhältnisse weitaus angenehmer waren als im Hamburg der Nachkriegszeit. Später dann zurück nach Hamburg, Abitur und eine kaufmännische Ausbildung. Als sein sechs Jahre jüngerer Bruder später Abitur machte, hatten sich die Umstände schon so weit verbessert, dass dieser dann studieren durfte. Das war meinem Vater erst möglich, als er, viele Jahre später, in den vorgezogenen Ruhestand ging. Damals, zu Anfang der Fünfzigerjahre, war an ein Studium noch nicht zu denken. Aber auch über seine Lehre zum Industriekaufmann und erste Berufstätigkeiten wusste mein Vater viel Unterhaltsames zu berichten.
Wir saßen und lauschten. Überrascht und fasziniert. Mein Vater hatte plötzlich gar keine Probleme mehr damit, im Mittelpunkt zu stehen, er erzählte und erzählte. Von Reisen auf Containerschiffen, von Unternehmen, in dem alle Angestellten grundsätzlich ab mittags alkoholische Getränke zu sich nahmen, von seinem Vater, der irgendwann doch endlich aus der Gefangenschaft zurückkehrte und vielen anderen Dingen. Animiert und fröhlich und irgendwie, so schien es mir, selbst überrascht von der Erkenntnis, dass er trotz aller Einschränkungen eine tolle Kindheit gehabt hatte und dass die Abenteuer, die er als junger Mann erlebte, absolut erinnerungswürdige Erfahrungen darstellten.
Ich kann mich an die Stimmung an diesem Abend im Wohnzimmer meiner Eltern besser erinnern als an so manches Detail, das mein Vater erzählte. Aber die Atmosphäre war wirklich ganz besonders: Vor allem mein Bruder, mein Freund und ich erlebten meinen Vater in einer Stimmung, in der wir ihn schon lange nicht mehr erlebt hatten. Animiert und aufgekratzt, aber vor allem: lebensbejahend. Sein eigenes Leben bejahend. Seine Geschichte, seine Erfahrungen, seine Entscheidungen, die Erfolge und auch die gelegentlichen Griffe ins Klo. Es war sein Leben, er hatte es gelebt und er hatte es genossen. Noch besser: Es war noch nicht vorbei!
Sicher ist es meine individuelle Wahrnehmung, aber für mich stellt dieser Geburtstagsabend einen Wendepunkt in der Krankheitsgeschichte meines Vaters dar. Ich hatte plötzlich ganz stark den Eindruck, dass er doch – auch wenn er das vielleicht für sich selbst gar nicht so hätte sagen können – nicht nur unseretwegen, sondern auch für sich selbst den Kampf gegen den Krebs angetreten hatte und die ganzen Arztbesuche, Infusionen und Tabletten auf sich nahm. Dass ihm sein Leben nicht scheißegal war und somit auch nicht der Tod. Dass er gerne lebte und damit auch noch ein bisschen weitermachen wollte. Vielleicht etwas bewusster als vorher und in der Gewissheit, dass es endlich sein würde. Aber Leben, hey, das war und ist doch was!
Ich hatte mich zu der Zeit noch eher wenig mit den Themen Tod und Sterben befasst. Wenn man mich gefragt hätte, hätte ich wahrscheinlich – wie die meisten meiner Mitmenschen auch – eine Antwort wie „Ich habe keine Angst vor dem Tod, aber Angst vor dem Sterben – am liebsten also einfach Zack und weg“ gegeben. Zum Glück fragte mich keiner, und das war mir auch sehr lieb, denn irgendwo tief in meinem Unterbewusstsein war mir klar, dass das nicht wirklich meine Antwort sein konnte. Sie passte nämlich nicht zu meinem Lebensgefühl und den Ängsten, die mich schon mein ganzes bisheriges Leben lang begleitet hatten.
Ich war ein sehr ängstliches Kind. Als Twitterer würde ich sagen: Ich bin als Kind in den Topf mit der Angst gefallen. Die Angst war immer da; keiner wusste, woher sie kam und wann sie begonnen hatte. Früh, viel zu früh, um sie verstehen zu können. Deswegen hatte sie sich ja unter der Oberfläche eingenistet und entzog sich im Allgemeinen jedem Versuch meinerseits, sie zu beschreiben. Die Erwachsenen (bis auf meine Mutter, die aber in ihren eigenen Ängsten gefangen war und nur verzweifelt hoffte, nicht alles ungefiltert an mich weitergegeben zu haben) hatten davon wenig Ahnung. Sie wussten nicht, was sie in mir auslösten, wenn sie von Krankheiten und von Tod sprachen – und ich wäre nie auf die Idee gekommen, ihnen das zu sagen oder gar zu untersagen.
So kam es, dass ich als Kind über Jahre hinweg jeden Abend Angst hatte, einzuschlafen. Aus Angst, dass ich nachts im Schlaf sterben könnte (keine Ahnung, woran ich hätte sterben sollen, darum ging es aber auch nicht). Zu sterben, ohne es zu bemerken, ohne eine Chance, was dagegen zu tun, oder wenigstens zu wissen, dass ich sterbe. Also versuchte ich, wach zu bleiben, damit nicht irgendwas mit mir geschehen konnte, ohne dass ich dabei war. Ich wollte wissen, was mit mir geschieht. Der Gedanke, abends friedlich einzuschlafen und morgens einfach nicht mehr aufzuwachen, war der pure Horror für mich. Mein Lösungsansatz: Nicht mehr schlafen! Jahrelang! Wirklich. Und es wusste niemand, denn wie hätte ich, ein Grundschulkind, das irgendjemandem erklären sollen? (Stattdessen musste ich ständig überall erklären, warum ich so unausgeschlafen und unkonzentriert war. Konnte ich aber auch nicht.)
Nun ja. Irgendwann musste ich dann doch mal schlafen und die vielen Jahre, die ich es hinkriegte, morgens doch wieder wachzuwerden, beschwichtigten meine Ängste ein bisschen. Was sich aber in mir verfestigte, war der sehr schwammige Wunsch nach einem bewussten Sterben. Was auch immer das sein sollte. Wie gesagt, darüber sprechen konnte und wollte ich nicht. Und ein Internet, um unbemerkt an Informationen zu kommen, hatten wir zu der Zeit noch nicht. Also schob ich die Beschäftigung mit diesem Thema auf. Jahrelang. Aber jetzt, im Umgang mit meinem Vater, der ja noch lebte, in absehbarer Zeit aber würde sterben müssen, fasste ich eine diffuse Hoffnung, dass ich nun vielleicht alt und reif genug sein würde, um mich den aufkommenden Fragen und Ängsten zu stellen. Und – das wünschte ich mir wirklich sehr – meinen Vater dabei zu unterstützen, seinen Weg zu gehen. Mit Bewusstsein und der vielbeschworenen Würde. Und an diesem Abend, dem achtzigsten Geburtstag, verdichtete sich in mir die Hoffnung, dass wir das tatsächlich würden hinkriegen können.