Warten auf irgendwas.

Die Operation verlief gut. Meinem Vater wurde ein nicht unerheblicher Teil des Dickdarms entfernt. Die Leber war in einem nicht operationsfähigen Zustand, so dass die Ärzte dort zunächst nichts unternahmen. Es war aber klar, dass darüber bald gesprochen werden musste.

Am Operationstag und auch am Tag danach wollte mein Vater keinen Besuch. Er telefonierte mit meiner Mutter, sagte aber, ansonsten wolle er sich nur ausruhen. Am übernächsten Tag fuhr ich dann mit meiner Mutter in die Klinik, wieder draußen in der Vorstadt, diesmal aber im Osten Hamburgs. Wir waren beide besorgt und nervös. Erstens natürlich wegen meines Vaters, zweitens weil die Anreise mit S-Bahn und Bus oder S-Bahn und Taxi nicht unkompliziert war und meine Mutter sich fragte, wie sie sie jemals alleine bewältigen sollte (meine Mutter ist die, die direkt vor dem Bahnhof aus dem Auto steigt und dann erstmal vierzehn Leute fragt, ob sie ihr den Weg zum Bahnhof sagen können).

Meinen Vater in einem Krankenhausbett liegen zu sehen, war sehr eigenartig für mich. Er war noch immer ziemlich schwach, sprach undeutlich und zum Teil plattdeutsch. Was ich seit vielen Jahren nicht von ihm gehört hatte. Ich sagte: „Oh, das kommt sicher von der Narkose!“ Und dachte: „Hoffentlich sind die Metastasen nicht bei der Operation ins Hirn ausgewichen, um nicht länger von Ärzten belästigt zu werden!“

Ansonsten ging es meinem Vater, wie man so schön sagt, den Umständen entsprechend gut. Er hatte ein Infoblatt auf dem Nachttisch liegen, dem wir entnahmen, dass man vieles tun würde, um meinen Vater bald, also schon in den nächsten Tagen, wieder auf die Beine zu bringen. Das kam mir bei diesem ersten Besuch eher unwahrscheinlich vor, aber tatsächlich konnte er kurz darauf schon aufstehen und langsam über den Stationsflur wandern.

Es fiel meinem Vater erwartungsgemäß sehr schwer, über sein aktuelles Befinden oder auch seine Krankheit an sich zu sprechen. Auch was die Ärzte ihm über den Verlauf der OP und die nun anstehenden weiteren Therapiemaßnahmen gesagt hatten, mussten wir ihm mühsam aus der Nase ziehen. Er war dabei nach wie vor sehr nüchtern und fand uns und unsere Bemühungen, ihn zu ausführlicheren Mitteilungen über seine Befindlichkeit anzuregen, überwiegend befremdlich. Wenn auch irgendwie ganz nett. Jedoch fand er den ganzen Aufwand irgendwie übertrieben. Das Angebot, eine Reha-Kur zu machen, fand er zum Beispiel komplett lächerlich. Er wollte nach Hause, sonst gar nichts.

Meine Mutter, die sich auch niemals vorstellen konnte, wie man sich bei irgendeiner Art von Kuraufenthalt erholen soll, konnte die Unwilligkeit meines Vaters nur zu gut verstehen. Erst später ging ihr auf, dass diese Kur bzw. seine Abwesenheit auch sie möglicherweise entlastet hätte und ihr noch etwas dringend benötigte Erholungszeit hätte verschaffen können.

So kam mein Vater einige Tage später nach Hause, schwach wie Haferschleim und völlig genervt vom Krankenhausleben. Für die weiterführende Therapie war jetzt die dem die Onkologie des Klinikums der Kreisstadt nebenan zuständig. Dort riet man zu einer „leichten“ Chemotherapie, auch unter palliativmedizinischen Gesichtspunkten, dies aber dringend. Der Tumor im Darm sei mit etwas Glück vollständig entfernt, so erfuhren wir, aber die Metastasen in der Leber seien momentan inoperabel und dringend behandlungsbedürftig.

Leberkrebs bzw. Metastasen in der Leber tun angeblich nicht weh, sondern machen den Betroffenen nur noch müder, als er ohnehin schon ist. Und fressen das gesunde Lebergewebe langsam auf, bis das Organ dann irgendwann versagt.

Und müde war mein Vater. Unglaublich verdammt müde. Er schlief nicht gut, aber viel, ging abends früh ins Bett und kam morgens nur schwer wieder raus. Tagsüber döste er meistens in seinem Sessel. Dünn war er geworden und sehr blass. Essen durfte und sollte er, auch mehr oder weniger, was ihm schmeckte. Er konnte nur nicht so richtig.

Um keine wertvolle Zeit zu verlieren, drängten die Ärzte sanft zum Beginn der Chemotherapie. Diese war in zweiwöchigen Zyklen angesetzt, zwischendurch eine Woche Pause. Am ersten Tag des Zyklus fuhr mein Vater in die Onkologie und bekam stundenlang Infusionen. An den anderen Tagen nahm er „nur“ zu Hause seine Tabletten.

Das war relativ undramatisch und fühlte sich, vor allem nach der ganzen vorherigen Aufregung, etwas merkwürdig an. Es war klar, bis man würde sagen können, ob die Chemo anschlägt und sich irgendwelche Werte verbessern, würden Wochen vergehen. Bis dahin konnten wir nur warten und hoffen. Und natürlich meinen Vater unauffällig, aber scharf angucken und versuchen zu ergründen, was unter der Oberfläche wohl vor sich ging. Zunächst gab es aber nur eher undramatische Nebenwirkungen zu bewundern: Leichte Übelkeit und weiterhin große Erschöpfung. Gegen die Übelkeit gab es weitere Tabletten und Zäpfchen, die mein Vater aber natürlich nur dann nahm, wenn es gar nicht anders ging. Gegen die Erschöpfung gab es nichts, nur Aushalten.

Ich gab mein Bestes, um meine Eltern dabei zu unterstützen, ihr Leben wieder halbwegs unter Kontrolle zu bekommen. Zum Glück ging es mit Riesenschritten auf meinen Jahresurlaub zu (da ich am Theater arbeite, muss ich wirklich meinen gesamten Urlaub in der Spielzeitpause im Sommer nehmen), bis dahin hatte ich allerdings auch im Büro noch reichlich zu tun. In meinem Job war – im Zusammenhang mit einem Managementwechsel – in den letzten Monaten vieles anderes geworden und für das nächste Jahr kündigten sich weitere Veränderungen an. Mein Freund war auch dabei, sein Leben neu zu sortieren; im Sommer standen für ihn ein Umzug und ein neuer Job an.

An einem guten Tag meines Vaters ließ ich mich von ihm in die Geheimnisse seines Rechners und seiner Aktenordner im Regal einführen. Davon gab es eine Menge. Zum Glück war mein Vater in dieser Hinsicht sehr ordentlich und es gab ausführliche Listen mit Benutzernamen und Passwörtern aller Art, sowohl digital wie auch ausgedruckt und ordentlich in Klarsichthüllen. Er erklärte mir, bei welchen Banken er Konten hatte und mit welchen Zugangsdaten er Online-Banking betrieb. Patientenverfügungen und Betreuungsvollmachten gab es schon, nun kam noch eine Bankvollmacht dazu und mir wurde erklärt, wo das handschriftliche Testament zu finden war. Mein Vater war dabei sehr entspannte, ich bemühte mich ebenfalls darum. Und darum, dass ich all dieses Wissen erst brauchen würde, wenn ich alles wieder vergessen hatte.

Mein Vater war dabei sehr kooperativ; nie wäre er auf die Idee gekommen, so zu tun, als wäre es nicht sinnvoll, Vorsorge zu treffen. Dabei ging es ja schließlich auch um meine Mutter, meinen Bruder und mich. Natürlich wollte er nicht, dass wir in Schwierigkeiten geraten. Dass es für ihn einfacher sein könnte, nicht alles selbst machen zu essen, unabhängig von seinem Befinden, kam ihm, glaube ich, nicht wirklich in den Sinn. Er fühlte sich auch nach wie vor unwohl, wenn er das Gefühl hatte, wir kämen vor allem seinetwegen zu Besuch und wollten so etwas wie „für ihn da sein“. Die wenigen Male, bei denen meine Mutter mich ins elterliche Haus beorderte, damit sie selbst dieses unbesorgt länger als zwei Stunden verlassen konnte, endeten immer damit, dass mein Vater sich freute, wenn man ihm Essen zubereitete oder mitbrachte, darüber hinaus aber weder bespaßt noch betreut oder gar getröstet werden wollte. Auch über seine Krankheit, die Therapie und sein Befinden sprach er nie mehr als unbedingt nötig. Warum auch?

In mir entstand der Eindruck, mein Vater nehme seine Krankheit recht fatalistisch hin. Okay, er hatte Krebs. Okay, die OP war relativ erfolgreich. Okay, es gab Optionen für weiterführende Therapien. Wollte er das? Hm. So richtig darauf versessen war er definitiv nicht. Ich hatte oft das Gefühl, er ließ den ganzen Mist über sich ergehen, weil es einfacher war, als abzubrechen und zu sagen: „Dann war es das eben!“. Und natürlich auch, weil er das uns, vor allem meiner Mutter, nicht antun wollte. Also war er tapfer, aber darüber reden wollte er natürlich auch nicht. Sein Plan war offensichtlich (zumindest für mich), bloß keine Emotionen, keine Leidenschaft im Umgang mit seinem Krebs zu entwickeln. Angst vor dem Tod? Phasen der Trauer? Ha. Nicht mit ihm.

Beim Erforschen meiner eigenen Gefühle stellte ich fest, dass ich froh war, dass mein Vater sich noch nicht aufgegeben hatte, auch wenn er die Chemotherapie im Moment eher halbherzig machte. Meine Hoffnung war, dass er mit etwas mehr Überzeugung an die ganze Sache herangehen würde, wenn sich erst einmal zeigte (hoffentlich!), dass seine Werte sich verbesserten. Und damit vielleicht auch sein Befinden. Aber zunächst war erst einmal wieder Warten angesagt.

 

 

 

 

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