„Süßes und Saures! Süßes und Saures!“, rief Frittbert Frittelsen, als sich die Wohnungstür vor ihm langsam öffnete, „und Heißes und Fettiges und überhaupt alles, was gut schmeckt. Keine Gurken! Ich bin Lebensmittelkontrolleur und wenn ihr mir eure Lebensmittel nicht freiwillig ausliefert, dann singe ich für euch!“
In seinem Pailletten-Sakko und mit der frischgeföhnten Tolle sah Fritte zwar eher aus wie ein Showmaster des vorigen Jahrhunderts als wie ein Lebensmittelkontrolleur, fand Leo, aber das war völlig egal: Er erregte Aufsehen und lenkte von sämtlichen Begleitumständen ab: Zum Beispiel davon, dass sie, Leo, sich während seines großen Halloween-Showprogramms unbemerkt in die Wohnungen schleichen konnte, um dort mit den ansässigen Haustieren ins Gespräch zu kommen. Sofern diese nicht vor Lachen über Fritte völlig unfähig waren, einfache Fragen zu beantworten. So wie der junge Zwergpudel im 1. Stock links im Nachbarhaus. Der hatte einfach nur vor Lachen geweint und alle Viere von sich gestreckt. Nicht sehr hilfreich, fand Leo, aber so waren Hunde halt.
In dieser Wohnung, deren Tür sich langsam öffnete, lebten Katzen. Das konnte man riechen und außerdem hatte Leo sie schon häufiger gesehen. Die beiden jugendlichen Rassekatzen wurden von ihren jugendlichen Menschen nämlich regelmäßig an der Leine nach draußen geführt, um frische Luft zu schnappen. Dafür ließen sie sich tatsächlich kleine Geschirre anlegen und liefen dann langsam und lautstark alles kommentierend die Treppe hinauf und hinunter und sogar nach draußen. Da die Kommentare sich meistens auf Ausrufe wie „Krass, Altah!“ und „Diggah!“ beschränkten, ging Leo davon aus, dass die beiden Jungkatzen vor allem deswegen zusammen abgegeben worden waren, weil sie sich eine Gehirnzelle teilten. Aber dafür waren sie hübsch. Und ein bisschen „cringe“, dachte Leo, aber weil sie eine höfliche Katze war, sagte sie das natürlich nicht.
„Krass“, rief auch gleich der eine der beiden Katzen, als sie Pailletten-Fritte sah, der lässig vor der Tür posierte, „der Spinner von unten. Im Fummel. Was geht ab, Diggah?“
Hinter den beiden Katzen wurde ein junger Mensch sicher, der erst erstaunt auf seiner eigenen Gesichtshöhe ins Treppenhaus schaute (und niemanden sah) und dann nach unten guckte und Fritte bemerkte: „Oh, wer bist du denn? Möchtest du ein Leckerli!“
Während Fritte wort- und gestenreich erklärte, dass „ein Leckerli“ eher eine Beleidigung als ein Angebot war, drängelte sich Leo kurzerhand an menschlichen Füßen und der neugierigen Katze vorbei in die Wohnung. Dort saß die zweite Katze und starrte sie etwas misstrauisch an. „Was willst du denn, Oma?“
Offenbar war die Sharing-Gehirnzelle gerade anderswo in Gebrauch, schlussfolgerte Leo.
„Hallo“, sagte sie freundlich. „Ich bin Leo von unten. Ich habe mal ne Frage: Ihr geht doch regelmäßig raus. Da trefft ihr doch bestimmt auch andere Tiere, oder?“
„Tiere?“, fragte die wirklich sehr hübsche Katze verwirrt, „was denn für Tiere?“
„Hunde zum Beispiel“, erläuterte Leo, „oder vielleicht auch mal andere Katzen?“
„Igitt, Hunde!“, rief die Katze und schüttelte sich vor Schreck. „Lieber nicht. Die sind immer so aufdringlich.“
„Ich weiß“, sagte Leo geduldig, „aber sie kommen auch viel rum und kennen sich meist in der Gegend gut aus. Die wissen vielleicht, ob hier irgendwo sehr kluge Tiere wohnen.“
„Kluge Tiere?“, fragte die Katze und begann übersprungshandlungsmäßig, sich am Hintern zu lecken. „So wie wir?“
„Ganz ähnlich“, erwiderte Leo, die die Hoffnung aufgab, hier auf interessante Informationen zu stoßen. „Vielen Dank für die Auskünfte und bis bald mal!“
Elegant glitt sie zwischen den Füßen des leicht überforderten jugendlichen Menschen hindurch und packte den lautstark singenden Fritte, der gerade zur dritten Strophe von „Country Roads“ ansetzte, während er mehrere Tüten Leckerlis und ein Käsebrötchen in seinen Rucksack stopfte. „Los, wir gehen!“
„Aber ich singe gerade!“
„Deswegen gehen wir ja.“
„Hat schon wieder jemand die Polizei gerufen?“
Das wollte Leo gar nicht wissen. Bisher hatten sie sich immer rechtzeitig rausschleichen können und wahrscheinlich suchte die Polizei, die wegen einer „marodierenden Ein-Personen-Horde“ alarmiert worden war, auch nicht nach Fritte im Pailletten-Sakko und mit Föhnwelle, aber sie wollte kein Risiko eingehen. Sie wollte Snacks und Informationen, mehr nicht.
Mitten im Pfotengemenge hörte Leo dann, wie unten im Haus die Tür aufging und dann fröhliches Bellen.
„Sehr gut“, sagte sie, „da kommt Fiete aus dem 2. Stock nach Hause. Der ist hoffentlich ein bisschen schlauer als unser beiden flauschigen Freunde hier.“
„Wuff wuff!“, rief Fiete, der kleine Mischlingshund, der ein bisschen aussah wie ein Topfschrubber, während er die Treppe hinaufhopste. „Süßes oder Saures? Fritte, wie siehst du denn aus? Hallo, Leo! Wuff wuff!“
„Hallo, Fiete“, sagte Leo freundlich, während sie unauffällig einen halben Schritt zurück machte. „Wie läuft deine Halloween-Tour? Hast du ordentlich Beute gemacht?“
Der kleine dunkle Hund hopste aufgeregt vor ihr auf und ab. „Darauf kannst du einen lassen. Ich kann nämlich total niedlich sein, wenn ich nur will.“
„Verstehe“, sagte Leo, die sich ein Grinsen verkniff. Fiete war nämlich immer total niedlich, ob er nun wollte oder nicht. „Und hast du interessante Kolleg*innen getroffen? Also, vierbeinige?“
Fritte beendete jetzt vor der geschlossenen Tür seinen Vortrag von „Country Roads“, sackte noch eine Tüte Gummibärchen (vegan) ein und mischte sich dann, während die Tür hörbar von innen verriegelt wurde, in die Unterhaltung ein: „Hey, Fiete, mein Freund! Hast du noch welche von den Denta-Sticks? Tauschst du gegen Gummibärchen?“
„Aber du hast doch gar keine Zzzz…“, wollte Leo einwenden, unterbrach sich aber im letzten Moment selbst. Sie wollte ja nicht Frittes Street Credibility untergraben, jedenfalls nicht so offensichtlich und während er anwesend war. „Haben wir denn keine Denta-Sticks mehr, Fritte? Sean hatte doch so viele aus Bremen mitgebracht.“
Während Fritte sich in einer langatmigen Erklärung verlor, der Fiete sowieso nicht folgen konnte oder wollte, zog Leo den kleinen Nachbarshund freundlich zur Seite. „Sag mal, kennst du irgendwo hier in der Nachbarschaft ein Tier, das so richtig schlau ist? Dem du dein ganzes Geld und dein Abendessen anvertrauen würdest?“
„Ein schlaues Tier?“, fragte Fiete überrascht und kratzte sich nachdenklich mit der Hinterpfote am Ohr. „Schlauer als du oder ich?“
„Wenn es das überhaupt gibt…“, erwiderte Leo. „Das wäre schon gut.“
„Ich muss nachdenken“, sagte Fiete, „irgendwer hat neulich was von einer sehr weisen Schildpatt-Katze gesagt. Aber wer war das nur und wo wohnt sie?“
„Eine Schildpatt-Katze?“, fragte Leo überrascht. „Ich wusste nicht, dass es hier in der Nachbarschaft eine Schildpatt-Katze gibt.“
„Eine Schildpatt-Katze?“, fragte Fritte. „Hast du ihre Nummer? Die muss ich kennenlernen.“
„Sie wohnt ganz in der Nähe, wenn ich mich richtig erinnere“, überlegte Fiete, „in einem der Häuser auf dieser Seite der Straße. Zusammen mit ihrer Schwester, die nicht ganz so schlau ist, dafür aber sehr attraktiv. Auf ihrem Balkon stehen lauter vertrocknete Pflanzen.“
Leo starrte Fiete finster an. „Ist die Information vielleicht schon etwas älter, Fiete?“
„Kann schon sein“, gab der kleine Hund zurück. „Aber davon wird die Schildpatt-Katze doch nicht dümmer, oder?“
„Dümmer nicht“, erklärte Leo mit trauriger Stimme, „aber tot. Du meinst Ida. Die hat mit ihrer Schwester Olga genau da gewohnt, wo Fritte und ich jetzt wohnen. Mit der dicken freundlichen Frau. Ida war eine sehr kluge Katze. Die hätte sicher gewusst, was wir machen sollen. Aber leider ist sie nicht mehr da.“
„Oh“, sagte Fiete erschrocken. „Das tut mir leid. Aber ich bin froh, dass du jetzt da wohnst. Und Fritte natürlich.“
„Willst du mein Kumpel sein?“, fragte Fritte, der von den ganzen Leckerlis etwas high wirkte und schwankend auf dem Treppengeländer balancierte. „Ich habe zwar schon einen Kumpel, den Sean, aber der wohnt in Bremen und kommt nur am Wochenende.“
„Den habe ich schon gerochen!“, rief Fiete aufgeregt. „Aber wir sind uns noch nie begegnet. Wuff. Vielleicht könnt ihr uns miteinander bekannt machen?“
„Dann könnten wir alle drei Kumpels sein“, sagte Fritte träumerisch. „Abgemacht.“
„Ich glaube, wir müssen jetzt nach Hause“, warf Leo ein. „Ich bin ganz schön müde von dem ganzen Gesabbel und den Snacks. Los, komm, Fritte – und grabbel mir ja nicht an den Hintern! Fiete, es war schön, dich zu sehen. Bis bald!“
Und sie klemmte sich den torkelnden Fritte und seinen Rucksack unter den Arm, winkte dem kleinen Hund von oben zum Abschied und trat den Weg nach unten an. In die Wohnung, auf deren Balkon die ganzen vertrockneten Pflanzen standen. Die Wohnung, in der Ida gewohnt hatte, die weise und freundliche Schildpatt-Katze, die bestimmt gewusst hätte, was sie, Leo, mit der Weltherrschaft machen sollte. Die sie aber leider nicht mehr fragen konnte.
„Ich bin auf mich alleine gestellt“, murmelte sie, während sie Fritte die Treppe runter und in die eigene Wohnung bugsierte. „Aber ich bin eine starke Katze und sehr entschlossen. Mir wird schon was einfallen. Allerdings nicht mehr heute. Heute muss ich ins Bett. Gute Nacht allerseits.“
Großartig! Das läuft im Kopf ab wie eine Filmepisode. Und die Fotos passen wunderbar, vor allem das letzte.
Wunderbar! Ich habe Tränen gelacht.