Als Kind und vor allem als Teenager wollte ich immer so schnell wie möglich erwachsen werden und erwachsene Dinge tun statt des Kinderkrams, den mein Leben mir abverlangte. Ich wollte tiefschürfende Gespräche mit faszinierenden Leuten führen, rauschende Partys feiern, in einer schicken Altbauwohnung wohnen, so viele Katzen halten wie ich will und abends im Bett so lange lesen, bis mir die Augen zufallen.
Manches davon hat ganz gut geklappt: Ich wohne in einer Altbauwohnung, auch wenn die eher staubig als schick ist. Ich habe genau so viele Katzen wie ich will – und die besten Katzen der Welt. Mir fallen die Augen meistens schon zu, bevor ich mit dem Lesen angefangen habe, aber immerhin selten, bevor ich im Bett bin. Ich war auf so vielen rauschenden Partys, dass ich mittlerweile froh über jede Party bin, zu der ich nicht eingeladen werde. Auch mein Bedarf an tiefschürfenden Gesprächen ist für dieses Leben und möglicherweise auch die nächsten zwei gedeckt.
Was ich an erwachsenen Sachen außerdem mache, ohne dass ich es mir jemals gewünscht hätte: Bücher über Pflege und Demenz lesen. Endlos auf Pflegeportalen und einschlägigen Websiten rumsurfen und meinen Rechner mit pdf-Dateien vollstopfen, die mich schon beim Lesen des Vorwortes einschlafen lassen, Einen Besichtigungstermin im Seniorenheim ausmachen. Wobei mein Bruder und ich diese Besichtigung durchführen und dabei nur die Vorhut bilden für unsere Mutter. Die kommt vorerst lieber noch nicht mit, lässt uns erst einmal sondieren und begleitet uns dann gegebenenfalls beim zweiten Besuch. Haben wir mal beschlossen, mein Bruder und ich.
Unsere Mutter selbst hat wiederholt den Wunsch geäußert, in ein Seniorenheim umzuziehen. Na ja. Im Grunde würde sie wohl lieber in einen Palast umziehen. Konkret lautet ihr Wunsch: Ich möchte aller Verantwortung ledig sein und einfach rundumversorgt. Was aber wohl auf dasselbe hinausläuft, nämlich den Umzug in eine entsprechende Einrichtung. Denn das, was meine Mutter sich unter rundumversorgt vorstellt, leistet leider kein Palastpersonal kein Pflegedienst, kein Nachbar und erst recht nicht wir.
Eigentlich wäre meine Mutter ein ideales Versuchskaninchen für einen dieser japanischen Pflegeroboter. Einen, der brav und still und ohne Redebedarf in der Ecke sitzt und wartet, bis er gebraucht wird. Dann aber läuft er zu großer Form auf, kocht, backt, putzt, geht einkaufen, schaltet den Fernseher ein, hängt die Wäsche auf (weil es für ihn kein Problem darstellt, die Waschmaschine zu öffnen), stellt den Pin-Code für die EC-Karte bereit, führt ein freundliches Gespräch über angenehme Dinge, kocht Kaffee, denkt an das Ladekabel fürs Telefon. Er hilft meiner Mutter beim Duschen, wobei er dabei aus Anstandsgründen die Augen geschlossen hält. Er weiß, wie warm oder kalt es heute wird und sucht die richtige Unterwäsche raus. Er weiß, wo der Schlüssel und das Portemonnaie sind und kann alle benötigten Telefonnummern auswendig. Er drängt meiner Mutter nie Gespräche auf, die sie nicht will, zum Beispiel über die neue Brille, die sie viel zu selten trägt, oder die Frage, ob vielleicht auch eine neurologische Untersuchung angebracht wäre. In seiner Freizeit geht er zum Friedhof, Blumen gießen, und spielt still und für sich eins seiner eingebauten Computerspiele, bei denen man keine Tastentöne oder sonstige Sounds aktivieren kann.
Da sie bisher leider niemand für eine Pflegeroboter-Studie angefragt hat, muss meine Mutter stattdessen irgendwie mit den Unzulänglichkeiten der sie umgebenden Menschen klarkommen. Schwierig natürlich, schließlich haben diese selbst bei bestem Willen und ausgeglichener Gemütslage, gelegentlich auch eigene Bedürfnisse. Zum Beispiel sich die Zähne zu putzen, aufs Klo zu gehen eine Kleinigkeit zu sich zu nehmen, ihnen nahestehende Menschen und Haustiere wiederzusehen oder auch ab und zu mal der Tätigkeit nachzugehen, für die sie einen Arbeitsvertrag haben und am Monatsende bezahlt werden. Da kann manchmal von Rundumversorgung nicht die Rede sein (ich zum Beispiel lege auch großen Wert darauf, nachts ein paar Stunden für mich zu haben).
Nachdem mein Bruder und ich letztes Wochenende jeder für sich eilig ein paar Bücher und runtergeladene pdfs verschiedener Anbieter zum Themenkomplex „Wohnen im Alter, Pflege und eventuelle Demenz“ inhaliert hatten, waren wir dann diese Woche zusammen bei einem der Hamburger „Pflegestützpunkte“, um das angelesene Wissen mit einer lebenden Expertin abzugleichen. Pflegestützpunkte sind unabhängige Beratungsstellen, finanziert und personell ausgestattet von den Bezirksämtern in Hamburg und den Pflegekassen; eingeführt wurden sie im Jahr 2009. Eine gute Erfindung, möchte ich meinen. Mein Bruder und ich konnte alle unsere Fragen stellen, bekamen Erklärungen, Broschüren, Anregungen und die Zusage, uns auch später, wenn wir etwas genauer wissen, was wir wollen, noch einmal gezielter zu beraten.
Die freundliche Expertin riet uns, da es unserer Mutter ja eilig ist, die verschiedenen notwendigen Schritte, die nun vor uns liegen, ruhig parallel einzuleiten. Aus diesem Grunde habe ich vorgestern einen erneuten Antrag an die Pflegekasse auf Erteilung eines Pflegegrades für meine Mutter abgeschickt. Mein Bruder nahm gleichzeitig mit der Hamburger Alzheimer-Gesellschaft auf, die einen Service bietet, der sich „Aufsuchende Beratung“ nennt. Außerdem haben wir noch einen ersten Altersheim-Besichtigungstermin für den kommenden Dienstag vereinbart.
Wir hatten ja schon im November letzten Jahres, nach dem Sturz meiner Mutter und dem anschließenden Kurzaufenthalt im Pflegeheim, eine Pflegestufe für sie beantragt. Leider sehr unüberlegt und blauäugig, wie ich zugeben muss; ich hatte eigentlich keine Ahnung, was ich da mache und warum. Und Gelegenheit zum Überlegen, Googeln oder Nachlesen fand sich in dem Moment auch nicht. Die eigentlich sehr freundliche Mitarbeiterin der Pflegekasse, mit der ich häufig wegen irgendwelcher Details telefonierte, hat mir auch nie etwas erklärt bzw. mir gesagt, dass ich Unsinn rede. Entweder konnte sie sich nicht vorstellen, dass eine Kundin, die ruhig, freundlich und überlegt auftritt, überhaupt keine Ahnung von den Dingen hat, über die sie spricht. Oder ihre Arbeitsanweisung lautet: Halt die Kunden so blöd wie möglich, desto einfacher wird es, Anträge abzulehnen und Zahlungen zu verweigern. Ich weiß es nicht.
Jedenfalls wurde unser Antrag locker abgeschmettert. Die überprüfende Mitarbeiterin des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen kam – obwohl wir es wegen der Unfallfolgen dringend gemacht hatten – erst nach ziemlich genau vier Wochen. Ihre kurzfristige Ankündigung erreichte uns ungefähr am selben Tag wie der Entschluss meiner Mutter, das Heim noch vor Weihnachten verlassen zu wollen. Letztendlich kam der MDK also am Freitag eine Woche vor Weihnachten und meine Mutter ging am folgenden Dienstag nach Hause. Wir waren mit der Vorbereitung ihrer Rückkehr so eingespannt, dass niemand von uns Zeit hatte, bei dem Überprüfungstermin anwesend zu sein. Ein dusseliger Anfängerfehler, wie ich heute weiß. Eine Pflegestufe kam nicht einmal annähernd in Frage – schließlich war meine Mutter in guter Stimmung und wollte beweisen, dass sie nach Hause konnte… Sie konnte fast alle überprüften Bewegungsabläufe ausführen und machte durchaus den Eindruck, alleine zu Hause zurechtzukommen.
Immerhin übernahm die Pflegekasse auch ohne die Pflegestufe dann – das war eine Ermessenfrage, erklärte mir die Mitarbeiterin – doch den Pflegeanteil an den Heimkosten. Weiterhin erklärte die nette Dame mir noch, dass sich ab Januar 2017 eine Menge bei den Kriterien zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit ändern würde und wir dann ruhig noch einmal einen Antrag stellen sollten. Ich konnte mir zunächst nicht vorstellen, dass unsere Chancen besser sein sollten, nur weil es jetzt statt drei Pflegestufen fünf Pflegegrade gibt. Aber: Weit gefehlt. Durch das 2. Pflegestärkungsgesetzt, das zum 1. Januar 2017 in Kraft getreten ist, soll nämlich gleichberechtigter Zugang zu den Leistungen der Pflegekassen für alle Pflegebedürftigen erreicht werden, unabhängig davon, ob ihre Einschränkungen im körperlichen, geistigen oder psychischen Bereich liegen. Ein besonderes Augenmerk soll dabei auf der angemesseneren Einstufung von Menschen mit Demenz liegen.
Demenz. Da haben wir es wieder, das Thema, über das unsere Mutter gar nicht gerne spricht, über das sie andererseits aber auch nicht aufhören kann zu reden. Ein Verdacht steht schon lange im Raum. Unsere Mutter hat auch schon seit Ewigkeiten Angst vor einer demenziellen Erkrankung. Tüdelig war sie nämlich schon immer und ihr Ortssinn ist schon ihr Leben lang legendär schlecht. Aber eben genau deswegen waren wir auch nie besonders alarmiert, wenn sie in den letzten Jahren mal wieder ihre EC-Karte verschusselt oder ihre Handschuhe im Bus liegengelassen hatte. Selbst als das Pflegepersonal im Heim jetzt nach zwei, drei Tagen mit unserer Mutter vorsichtig fragte, ob sie sich denn schon einmal einem einschlägigen Test unterzogen habe, konnten wir uns nicht wirklich vorstellen, dass eine der Ursachen für die immer größer werdenden Schwierigkeiten unserer Mutter, ihr Leben in den Griff zu kriegen, auch in diesem Bereich zu suchen sein könnte.
Erst als ich anfing, mich grundsätzlich über Alzheimer-Demenz zu informieren und überall als wichtiges Symptom auch Veränderungen in Charakter und Persönlichkeit genannt wurden, wurde mir klar, dass tatsächlich einige der üblichen Symptome auf unsere Mutter zutreffen. Einige haben sich nach und nach eingeschlichen, so dass wir uns fast schon an sie gewöhnt haben. Klar ist allerdings auch, dass die Situation sich in den letzten Monaten auffallend verschlechtert hat.
Nun hat unsere Mutter zwar schon seit Jahren heftige Angst vor einer demenziellen Erkrankung, gleichzeitig hat sie aber auch mindestens ebenso viel Angst davor, eine bestätigte Diagnose zu erhalten. Was ich absolut nachvollziehbar finde. Einerseits. Andererseits finde ich immer, dass es keine gute Idee ist, Dinge zur Seite zu schieben und nach Möglichkeit zu verdrängen, wenn sie mir so viel Angst machen, dass davon mein gesamtes Leben überschattet wird. Wenn ich an dem Punkt angekommen bin, dann hilft nur noch Gewissheit.
Unsere Mutter sieht das genauso wie wir. Wenigstens in fünfundneunzig von hundert Gesprächen. Hundert Gesprächen, die wir in den letzten acht Wochen über dieses Thema geführt haben, auf ihren Wunsch. Doof ist nur, dass jedes Gespräch wieder bei Null anfängt, jedenfalls an den schlechten Tagen. Ich wünsche mir dann manchmal auch den japanischen Pflegeroboter, aber mit eingebautem Erklärbär-Modul. Dann könnte ich dem die tiefschürfenden Gespräche überlassen und nebenbei auch mal was anderes machen als reden. So etwas wie einen Antrag an die Pflegekasse stellen oder einen Besichtigungstermin im Seniorenheim vereinbaren. Und mehr von diesen eigenartigen Dingen, mit denen ich mich plötzlich und eher unfreiwillig viel erwachsener fühle als jemals geplant.
Oh! Dann wünsche ich sehr viel Geduld und noch mehr Kraft für die kommenden, sehr schmerzhaften Jahre! Bitte vergessen Sie nie auf Ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse! Nur so werden Sie die nächste Zeit meistern können!
caterina