Darf ich Ihnen heute mit einem etwas allgemeineren Thema zu nahe treten? Danke. Es geht um Sprache, die Veränderung der Sprache. Das kann etwas Gutes sein oder auch etwas nicht so Gutes. In diesem Fall – Sie ahnen es – geht es um etwas, das ich nicht so gut finde.
Und zwar ein Verb. Ein Verb mit Vorsilbe: „Versterben“. Dass es das Wort überhaupt als Infinitiv und Präsens gibt, war mir viele Jahre meines Lebens nicht bewusst. Als im aktiven Sprachgebrauch der deutschsprachigen Menschheit befindlich hatte ich bisher nur die Vergangenheitsformen betrachtet: das einfache Präteritum „verstarb/verstarben“ und das Partizip Perfekt „verstorben“. Die Gegenwartsform „versterben“ hielt ich, ähnlich wie gewisse Konjugationen der Vergangenheitsformen, z. B. die erste und zweite Person Singular („ich verstarb“, „du bist verstorben“) für – Vorsicht, Wortwitz! – ausgestorben. Ausgestorben, weil sinnlos, unmöglich oder zumindest vollkommen überflüssig.
Überflüssig vor allem deswegen, weil es ein viel prägnanteres Verb ohne Vorsilbe gibt, das genau dieselbe Bedeutung hat: „Sterben“. Soweit es mir bekannt ist, gibt es keine Satzkonstruktion, die das Verb „Versterben“ benutzt, in der man nicht auch „Sterben“ hätte sagen können. Und in der das schlichte, klare „Sterben“ nicht besser gewesen wäre. Gut, dass niemand „Versterben“ benutzt. Äh, benutzte.
Wie gesagt: Bisher. Also eigentlich bis zum Beginn der Corona-Pandemie oder genauer: Bis man anfing, die Corona-Toten öffentlich zu zählen. Seitdem sterben die Menschen in der allgemeinen Berichterstattung häufig nicht mehr, sondern sie versterben.
Wenn Sie mich schon länger lesen, wissen Sie, dass ich auch mit dem im öffentlichen und privaten Leben meist recht einvernehmlichen Begriff „verstorben“ nicht glücklich bin. Ich finde, er lässt sich sehr gut entweder durch „gestorben“ oder schlicht durch „tot“ ersetzen. „Verstorben“ ist mir zu undeutlich, zu euphemistisch, zu wenig drastisch.
In meinem privaten Leben kommt mir „verstorben“ auch nicht über die Lippen: Mein Vater ist gestorben, also tot, seit nunmehr fast sechs Jahren. Olga und Ida sind nicht verstorben, sie sind tot, sie starben im November 2019.
Ich mag noch nicht einmal das Substantiv: „der oder die Verstorbene“. Mein Vater ist auch im toten Zustand noch mein Vater und so nenne ich ihn auch. Wenn es um den Umgang mit seinem toten Körper zwischen Tod und Beisetzung geht, würde ich persönlich eher vom „Körper meines Vaters“ oder von „meinem Vater kurz nach seinem Tod“ sprechen.
Mir ist aber im Laufe meiner Beschäftigung mit dem Themenkomplex „Sterben, Tod und Trauer“ klar geworden, dass Menschen, die sich professionell und beruflich mit dem Tod befassen, sehr wohl von „Verstorbenen“ sprechen.
Warum ist das so? Richtig, meistens aus Takt, Pietät und Feingefühl den Zugehörigen gegenüber. Viele Hinterbliebene haben nicht viel Erfahrung mit dem Tod und befinden sich in einer Ausnahmesituation. Sie sind im Allgemeinen in einer schwierigen Phase ihres eigenen Lebens, empfindsam und verletzlich. Einige von ihnen brauchen möglicherweise die klare Feststellung „Ihr Vater ist tot. Er ist vor zwanzig Minuten gestorben.“. Andere müssen sich vielleicht erst langsam an die Tatsache gewöhnen, dass nun das geschehen ist, was zwar „vorgesehen“ war, nun aber doch viel zu schnell oder sogar überraschend eingetreten ist.
Gute Ärzte, Pfleger, Hospizler, Bestatter, Seelsorger, die ihren Beruf professionell und mit Empathie ausüben, spüren sehr schnell, was ihr hinterbliebenes Gegenüber braucht. Grundsätzlich gehen sie eher taktvoll und behutsam vor. Das finde ich gut und so kann ich mit „der/dem Verstorbenen“ – Achtung, schon wieder ein Wortwitz – gut leben. Oder sogar mit Bezeichnungen wie „von uns gegangen“, „vorausgegangen“ oder „verschieden“. Alles, was Menschen in einer schwierigen Situation guttut, ist richtig.
Mit dem „Versterben“ ist es zumindest in meiner Wahrnehmung aber anders. Im Hospiz oder zu Hause in ihrem eigenen Bett sterben die Menschen, wenn wir darüber sprechend. „Versterben“ würde hier merkwürdig klingen. Versterben tun sie aber – zumindest seit Corona auf den Intensivstationen wütet – offenbar in den Krankenhäusern. Und in den Statements von Wissenschaftlern. Dabei sind das doch eigentlich die Personen vom Fach, die sich klarer ausdrücken können sollten als die meisten anderen Menschen. Und inzwischen auch im Sprachgebrauch von Politikern und Journalisten.
Warum? Aus Takt, Zartgefühl und Pietät? Ich glaube nicht. Ich glaube, in diesen Zusammenhängen des „Versterbens“ geht es eher um Distanzierung, um das Schaffen einer unpersönlichen Atmosphäre in der Wissensvermittlung und um die Unterdrückung der eigenen Emotionen.
Kann ich das irgendwie verstehen? Ja, das kann ich. Menschen, die im Krankenhaus arbeiten, vor allem auf Intensivstationen, sollten in diesen Zeiten alles dürfen, was ihnen irgendwie hilft, ihren Job trotz der unglaublichen Belastungen noch immer zu machen. Wir sollten ihnen auf Knien danken, ihnen huldigen, sie erheblich besser bezahlen und sie vor allem so über ihren Berufsalltag sprechen lassen, wie es für sie gut und hilfreich ist. Wenn sie mit der Vorsilbe „ver“ etwas mehr Abstand zu dem Schrecklichen, das sie täglich erleben müssen, herstellen können, dann gönne ich ihnen das von Herzen.
(Ob ich Ihnen in diesem Zusammenhang noch die vierteilige Doku des rbb „Charité intensiv: Station 43“, zu finden in der ARD-Mediathek, ans Herz legen dürfte?)
Auch über die Sprache von Wissenschaftlern maße ich mir kein Urteil an. Wissenschaftler befinden sich, so verstehe ich es zumindest, von Berufs wegen in einem eigenartigen Spagat zwischen Leidenschaft und Sachlichkeit bzw. Neutralität. Sie bräuchten oft nicht nur für die Inhalte ihrer Mitteilungen an die Allgemeinheit Dolmetscher, sondern auch für die Art, wie sie die Dinge sagen. Deswegen haben die meisten von uns unter normalen Umständen auch eher wenig Berührungspunkte mit Wissenschaftlern und kämen ohne Corona wohl kaum auf die Idee, Wissenschaftspodcasts, Preprint-Studien und Artikel aus Fachzeitschriften in ihr Leben zu integrieren.
Ernsthaft verstört bin ich aber, wenn mir das Wort „versterben“ in politischen Statements oder in Beiträgen der Tagesschau oder in der Onlineausgabe einer Tageszeitung begegnet. Von Politikern und Mainstream-Medien werden ja wir angesprochen, die „normale Bevölkerung“. Und wir sollten uns darüber klar sein und uns nicht davon ablenken lassen, dass sehr viele Menschen bereits an Corona gestorben sind. Sie sind tot. Und viele weitere werden noch sterben, sie werden dann auch tot sein.
An Corona sterben die Menschen nicht unter schönen Bedingungen. Sie verrecken vielleicht nicht unter furchtbaren Qualen, denn sie werden schmerzgestillt und sediert. Aber sie durchleben keinen richtigen Sterbeprozess, sie nehmen nicht den Abschied vom Leben, den man ihnen und ihren Zugehörigen wünschen würde. Sie kämpfen, möglicherweise sehr lange, sie verlieren den Kampf und dann sterben sie. Nicht so, wie sie sich ihren Tod vorgestellt oder gewünscht haben. Nicht mal annähernd würdevoll oder gar selbstbestimmt.
An diesem Sterben gibt es nichts zu beschönigen und nichts zu verharmlosen. Es ist kein sanftes Hinübergleiten, kein aktives Den-Löffel-abgeben, kein friedliches Entschlafen. Es sollte auch kein versachlichendes, pseudo-rationalisierendes Versterben sein bzw. so genannt werden. Nicht in unserem Sprachgebrauch und nicht in unserem Denken. Das wird den Fakten nicht gerecht. Und auch den Politikern und der schreibenden/berichterstattenden Zunft sollten wir es nicht durchgehen lassen. So sagt es mir zumindest mein Sprachgefühl.
Ja. Und Ja.
Schlimmer aber noch finde ich (Originalwortlaut): „Papi ist heute mittag eingeschlafen“..
Es war am Dienstag und nein, Papi ist nicht eingeschlafen, „Opa ist tot“ (ebenfalls O-Ton).
Aber wer bin ich, Schwiegermutter im Angesicht des Todes ihren Wortlaut vorzuwerfen??
Ichselbst bevorzuge „…ist gestorben“
Und genau das ist, was passiert ist.
Sorry für das „Vollgequatsche“, ich brauchte gerade ein Ventil und war/bin dankbar, es hier eben öffnen zu können..
Anja / Andrea
Liebe Anja / Andrea,
genau das meine ich. Einen Weg finden zwischen Klarheit und Feingefühl. Und sich der Dinge bewusst sein.
Wenn das Vollquatschen ist, dann weiter so!
Viele Grüße
Bettina