Fragen Sie nicht nach dem Sinn. Machen Sie einfach.

Kennen Sie diese Wochen, in denen eigentlich nichts Besonderes anliegt, Sie deshalb unbesorgt mittelwichtige und fast verzichtbare Termine planen? Und auf einmal denken Sie: Scheiße, jetzt ist die nächste Woche schon voll. Was mache ich, wenn jetzt das Hospiz anruft und einen Gast für mich hat?

Sie erinnern sich (oder auch nicht, deswegen erwähne ich es noch mal): Ich habe zwar den Befähigungskurs für ehrenamtliche Hospizarbeit gemacht und darf jetzt Hospizgäste begleiten, aber natürlich schließt sich keineswegs immer eine Begleitung nahtlos an die letzte an. Das Hospiz hat sechzehn Plätze, die auch fast immer alle belegt sind, und mehr oder weniger jedem Gast wird eine ehrenamtliche Begleitung angeboten, aber längst nicht jeder Gast macht von dieser Möglichkeit Gebrauch. Manche Gäste haben auch ohne Hilfe von außen ein funktionierendes soziales Netz und fast durchgehend Besuch. Andere haben das nicht, möchten aber vor allem ihre Ruhe haben. Einige Gäste haben auch nicht wirklich eine Vorstellung davon, wer diese Ehrenamtlichen eigentlich sind, warum sie sie besuchen wollen und was daran das Gute sein soll. Die werden natürlich nicht überredet. Wer mit sich allein sein will, der darf das im Hospiz.

Es gibt Zeiten, da sind ganz viele Ehrenamtliche gleichzeitig im Einsatz, und es gibt Zeiten, da wird irgendwie kaum einer von uns gebraucht. Da die Neuen, also die Gruppe aus meinem Kurs, aber nach Möglichkeit bald nach dem Ende des Kurses auch einen ersten, von den Koordinatorinnen noch sehr engmaschig begleiteten praktischen Einsatz haben sollten, brummte es in der letzten Zeit heftig im Hospiz und einige Gäste, die gerne Gesellschaft hatten oder ohne Gesellschaft eigentlich gar nicht sein mochten, kamen in den Genuss von zwei oder sogar drei verschiedenen Ehrenamtlichen, die sich bei ihnen abwechselten. Auch wurden einige Gäste, die bei oder kurz nach ihrem Einzug ins Hospiz, kein Interesse an ehrenamtlichen Besuchern gehabt hatten, noch einmal gefragt, sofern bei den Hauptamtlichen der Eindruck entstanden war, sie könnten vielleicht doch von einem Ehrenamtlichen profitieren. Manche Gäste, die mittlerweile Vertrauen zu den Mitarbeiten der Pflege und der psychosozialen Betreuung gefasst haben, nahmen das Angebot doch noch an.

Da meine erste Begleitung, die direkt nach dem Kurs begann, nur aus wenigen Besuchen bestand und dann aus „technischen Gründen“ für beendet erklärt wurde (die beiden erwachsenen Kinder des Gastes, die eigentlich im Ausland lebten, hatten sich, um ihren Vater zum Schluss so gut wie möglich zu unterstützen, so gut organisiert, dass wirklich immer einer von ihnen bei ihm sein konnte, und ich wurde überflüssig), war ich nun drei Wochen „spazieren gegangen“. Also, aus Sicht des Hospizes. Aus meiner eigenen Sicht hatte ich nur etwas mehr Zeit, mich um die Auflösung der Wohnung meiner Mutter zu kümmern. Und natürlich den dringend notwendigen Friseurbesuch zu planen – ich sah auf dem Kopf aus wie ein verlassenes Vogelnest und konnte den Termin nicht länger rauszögern. Gleichwohl ahnte ich, dass diese Terminvereinbarung das Tröpfchen sein könnte, dass mein Schicksalsfass mal wieder überlaufen lassen würde. Als dann am Sonntagnachmittag tatsächlich das Telefon klingelte und ich die Nummer des Hospizes im Display sah, ahnte ich, dass die Woche nicht nur voll, sondern supervoll mit Terminen sein würde.

Mein neuer Gast, den ich am Montag zum ersten Mal besuchte, ist in Wirklichkeit gar nicht neu. Er ist nämlich schon seit fast einem halben Jahr im Hospiz. Ein halbes Jahr! Das ist vier- bis sechsmal so lang wie die durchschnittliche Verweildauer dort. Es kommen ja schließlich nur Menschen ins Hospiz, bei denen die Kriterien einer fortschreitenden unheilbaren Krankheit und einer geschätzten Lebenserwartung von Wochen oder Monaten erfüllt sind. Da die unheilbare Krankheit des Gastes – in den allermeisten Fällen eine Krebserkrankung – dort nicht mehr kurativ behandelt wird, sondern der Gast nach den Grundsätzen der Palliativmedizin versorgt wird (Erhaltung der Lebensqualität, z. B. durch Schmerz- und Symptomkontrolle, aber vor allem auch Nähe und Zuwendung), kommt der Tod dann eben früher oder später, je nach Individualität, aber im Durchschnitt nach vier bis fünf Wochen.

Vier bis fünf Wochen. Das ist keine sehr lange Zeit, aber oft lang genug für einen Gast, um dort, an der letzten Station ihres Lebens, anzukommen, sich zu orientieren und zu sortieren. Lang genug, um sich zu verabschieden. Von Menschen, von Dingen und vom Leben an sich. Um sich bereit zu machen für das Sterben und das, was, je nach Weltsicht, danach kommt oder auch nicht.

Viele Hospizgäste erleben kurz nach ihrem Einzug noch einmal ein kleines oder größeres Hoch. Das hat vielleicht mit Ehrlichkeit und „Endlich nicht mehr lügen Müssen“ zu tun, mit Vertrauen und abnehmender Angst vor dem unvermeidlichen Kontrollverlust. Mit dem Gefühl, als Mensch, als Persönlichkeit gesehen und wertgeschätzt zu werden, egal, was kommt. Mit der Gewissheit, nicht die oder der einzige Sterbende unter so vielen Gesunden und voll im Leben Stehenden zu sein.

Nach diesem Hoch kommt dann vielleicht schon die Entspannung, das Loslassen. Zunehmende Schwäche, Müdigkeit, irgendwann kann man nicht mehr aufstehen, nicht mehr essen. Der Tod kommt Schritt für Schritt, mal schneller, mal langsamer. Jeder Mensch ist individuell, im Leben und auch im Sterben.

Vier bis fünf Wochen, das ist der Durchschnitt. Aber es gibt auch die Ausreißer, die die Statistik aufmischen. Gäste, die ins Hospiz einziehen und in der ersten Nacht dort sterben. Gäste, die nicht sterben – ja, es kommt sogar vor, selten allerdings, dass Gäste wieder nach Hause oder ins Pflegeheim können. Und Gäste, die nicht mehr nach Hause können, weil sie zu krank, zu schwach, zu pflegebedürftig sind, die aber trotzdem nicht sterben. Wo man den Eindruck bekommt, der Tod wäre schon durchs Zimmer gegangen, mehrmals vielleicht sogar, hätte dann aber das Interesse verloren, warum auch immer, und sich wieder verzogen.

So ein Gast ist mein neuer, mein zweiter Gast. Ein schlichter, bodenständiger Mensch, körperlich stark beeinträchtigt, aber geistig durchaus auf der Höhe. Seit fast einem halben Jahr lebt er im Hospiz, mal besser, mal schlechter. Aufstehen kann er nicht mehr und essen auch nicht mehr so richtig. Er ist bereit zum Sterben, sagt er, und fragt sich, warum das hier alles so lange dauert. Er hat erwachsene Kinder, die ihn jeden Tag besuchen, so dass er bisher keine Ehrenamtliche brauchte bzw. wollte. Er weiß auch nicht ganz genau, was eine Ehrenamtliche eigentlich ist.

Das Alleinsein zwischen den Besuchen seiner Kinder macht ihn aber zunehmend unruhig und unglücklich. Er mag Gesellschaft, auch wenn er sich nicht unbedingt unterhalten möchte und noch viel weniger vollgequatscht werden. Bei schönem Wetter lässt er sich gerne im Rollstuhl durch die Nachbarschaft fahren, er ist gerne draußen. Dann kann er auch in Ruhe rauchen, ohne jemanden zu belästigen. Das Aprilwetter ist allerdings oft zum Spazierengehen zu unbeständig und auch auf dem Balkon wird es ihm leicht kalt.

Ich habe ihn in dieser Woche zweimal besucht. Einmal haben wir in der Abendsonne auf dem Balkon gesessen und das zweite Mal haben wir zusammen ferngesehen. Eine Tiersendung auf arte, immerhin. Viel geredet haben wir nicht, immer mal kurze, knackige Bemerkungen hin und her, kurz gegrinst, das muss genügen. Er hat kein Interesse an tiefschürfenden Gesprächen und Fragen nach dem Sinn interessieren ihn auch nicht. Aber er freut sich, wenn er Gesellschaft hat.

Gesellschaft leisten kann ich. Fernsehen auch und Rauchen ertrage ich. Die Klappe halten und jemanden nicht vollsabbeln kann ich auch. Ich freue mich, wenn mein Gast in meiner Gegenwart ein bisschen entspannter und zufriedener wirkt als sonst. Es geht ja schließlich um ihn und er gibt vor, was gemacht wird. Für tiefschürfende Gedanken habe ich den Feedback-Bogen, den ich unseren Koordinatorinnen nach jedem Besuch bei meinem Gast hinterlasse und in dem ich um Rücksprache bitten kann. Aber bisher ist alles gut. Irgendwie sind die Besuche im Hospiz gleichzeitig Ruhe- und Höhepunkte einer sonst eher nervigen und anstrengenden Woche und ich freue mich schon auf die Besuchstermine, die ich für die nächste Woche vereinbart habe.

PS: Am Donnerstag kam zu allem Überfluss auch noch Rauchmeldercontrolman, ganz am Ende des langen Zeitfensters, für das ich extra früher Feierabend gemacht hätte. Beide Rauchmelder funktionieren perfekt, aber das wusste ich auch schon vorher, schließlich gehen sie jedes Mal los, wenn ich koche.

PPS: Der Friseurbesuch am Freitag war so lala. Ich war ein bisschen zickig und meine Haare wohl auch. Meine Friseurin hätte den Wirbel auf der linken Seite zum Schluss vor Verzweiflung fast abgeschnitten.

PPS: Warum mein neuer Gast schon so lange im Hospiz ist und warum er nicht stirbt, weiß keiner. Er nicht und die Fachwelt auch nicht. Aber vielleicht ist die Frage auch gar nicht so wichtig.

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