Der Frühling ist da. Die Sonne lacht vom Himmel und hat auch schon richtig Wumms. Okay, im Schatten und nachts – da ist es im Allgemeinen ja auch schattig – ist es noch kalt, aber es wird. Abends wird es nicht mehr so früh dunkel und insgesamt werden die Nächte wieder deutlich kürzer als die Tage. Demnächst werden dann auch wieder die Uhren auf die Sommerzeit umgestellt – wie immer in den letzten Jahren mit einem geraunten „vielleicht zum letzten Mal“ als Begleitmusik – für mich ist das ja gut, weil ich morgens ohnehin schlafe und selbst wenn man mich mit viel zu früh geplanten Terminen zum Wachsein zwingt, ist mir das Tageslicht piepegal. Abends aber nicht, da freue ich mich über die Helligkeit.
Die Katzen werfen das Winterfell ab, ständig und überall, und sprechen wieder über Bikinifiguren und anderen Unsinn. Frl. Leonie Mau ist das ähnlich wurscht wie mir, aber Frittimir Frittschuk fragt, ebenso wie der große freundliche Mann beim Videoteleonieren, gerne mal: „Hast du ein bisschen zugenommen?“ Die korrekte Antwort, so Leo, lautet in jedem Fall: „Nein. Du?“
In den Vier- und Marschlanden sind die Storchennester, an denen mein Bus zum Deich-Hospiz vorbeifährt, alle wieder belegt. Die Storchenpaare sind nacheinander eingetroffen, habe ihre Horste auf Vordermann gebracht und inzwischen wohl auch schon mit Eierlegen begonnen. Ich freue mich über jede Storchsichtung und hoffe immer, dass mal ein Storch nah genug ist, um im Vorbeifahren fotografiert zu werden.
Im Hospizgarten haben wir leider kein Storchennest, aber häufig fliegen mal Störche vorbei, um sich auf angrenzenden Feldern und Äckern niederzulassen, auf denen sie in dieser Jahreszeit offenbar problemlos genug Futter finden, auch wenn sie saisonalen Leckereien mit Schwärmen von Wildgänsen und – schwänen teilen müssen, die sich hier auch sehr wohlfühlen.
Was wir im Hospizgarten aber haben oder diese Woche hatten, waren junge Feldhäschen. Von ihrer Mutter nicht unterirdisch, sondern in einer Steinmulde direkt an der wärmenden Hauswand abgelegt, kuschelten sich dort, kaum sichtbar auch ohne schützendes Nest, vier kleine Häschen aneinander. Häschen werden ja im Gegensatz zu Kaninchenbabys bereits so gut wie voll funktionsfähig mit offenen Augen, Ohren und Fell geboren und haben meistens sturmfreie Bude, weil die Hasenmutter nur ab und zu mal zum Säugen vorbeikommt. Faszinierend, was die Natur sich so alles ausdenkt. – Die Hospizhunde müssen jetzt eben mal an der Leine und auf der anderen Seite des Gartens bleiben, ebenso wie die Open-Air-Gymnastikrunde der Hospizgäste, angeleitet von unserer Physiotherapeutin. Eine Gymnastikrunde übrigens, für die man nicht zwangsläufig mobil sein muss, geschweige denn sportlich: Wer will, wird auch im Bett auf die Terrasse geschoben, kann sich die Sonne auf die Nase scheinen lassen und „nur“ dabei sein. Gelebte Teilhabe, ganz einfach.
Im Hospizgarten wird es auch bunt, die ersten Kübel mit Stiefmütterchen, aber auch kleine Guerilla-Pflänzchen leuchten aus den sonst noch kahlen Beeten. Nächste Woche ziehen auch die ersten Stiefmütterchen auf meinen Balkon und ich muss noch Katzengras aussäen (hier bitte einen Knoten im Ohr imaginieren).
Mit dem Gedächtnis ist es ja so eine Sache. Früher konnte ich mir problemlos alles merken, wirklich alles, aber inzwischen haut das nicht mehr so richtig hin. Eine normale Alterserscheinung oder eine Nebenwirkung der Tabletten? Egal. Jedenfalls vergesse ich ganz schön viel, was ich nicht sichere, auch Wichtiges wie z. B. Katzengras. Um so überraschender, auf gute Weise, wenn ich mich plötzlich, im Vorbeigehen getriggert, wieder an Dinge erinnere, an die ich jahrzehntelang nicht gedacht habe. Zum Beispiel an die Lieder von Klaus Hoffmann, Liedermacher, Chansonnier und Schauspieler, die mir in meiner Jugend, also vor 40 bis 50 Jahren, eine Welt bedeutet haben. Ich muss vierzehn oder fünfzehn gewesen sein, als mir N., den ich aus der Kirche kannte und für den ich schwärmte, zum ersten Mal „Gerda“ von dem Live-Album „Ich will Gesang, will Spiel und Tanz“ vorgespielt hat. Ich war sofort am Haken und fortan spielte ich dieses Album und nach und nach alle anderen, die es zu kaufen gab, Tag und Nacht auf meinem orangefarbenen Kinderplattenspieler. Mit sechzehn war ich zum ersten Mal in einem Klaus-Hoffmann-Konzert in der Hamburger Laeiszhalle, die damals noch Musikhalle hieß und in deren Nachbarschaft ich seit 27 Jahren wohne. Hier ist Klaus Hoffmann im letzten November wieder einmal aufgetreten, was ich, die ich diesen für meine Entwicklung ach so wichtigen Künstler völlig aus den Augen verloren hatte, erst im Nachhinein durch einen Bericht beim NDR mitbekam. Nur so, um mal zu hören, ob mir seine Musik noch immer gefällt, suchte und hörte ich „Gerda“ bei Youtube, dann „Wenn ich sing“, „Blinde Katharina“, „Die Ballade von den Seeräubern“ und „Berlin“. Und merkte in der folgenden Nacht, dass ich diese Lieder nicht nur noch immer auswendig kann, Text und Musik, sondern dass ich sie noch immer (und wahrscheinlich für immer) in mir trage. Wochenlang bestimmte ein Klaus-Hoffmann-Soundtrack meine nächtlichen Träume. Nicht schlimm, denn die Lieder sind immer noch verdammt gut. Viele Konzerte habe ich besucht, die Platten in Dauerschleife gespielt, mir gewünscht, für die Filme „Die neuen Leiden des jungen W.“ und „Die Kameliendame“ einen Videorecorder zu besitzen, und wieder und wieder bedauert, 1977 nicht in „Kabale und Liebe“ im Thalia Theater gewesen zu sein, obwohl ich die Karte dafür quasi schon hatte.
Und heute diese schöne Feststellung: Das war keine Teenager-Geschmacksverirrung damals, der Kerl war einfach gut, vor allem live, und die Lieder, die er sang, egal ob seine eigenen oder die von Jacques Brel, können mit allen von mir seitdem gemachten Hörerfahrungen und Weiterentwicklungen locker Stand halten. Klaus Hoffmann, inzwischen über siebzig, tourt noch immer mit verschiedenen Programmen durch die Weltgeschichte. Wenn er mal wieder in Hamburg vorbeischaut und in der Laeiszhalle spielt, dann gehe ich vielleicht mal wieder hin. Und dieses Vorhaben vergesse ich hoffentlich nicht wieder.
Bis dahin wird es Frühling. Endlich. Der Winter war zwar nicht besonders lang oder kalt, aber eben doch ganz schön grau. Und so ist es an der Zeit für Licht und Farbe. Nicht bei den kleinen Feldhäschen, die wollen ja nicht auffallen, aber sonst geht es jetzt richtig los mit Grün und Blüh’n. Draußen und drinnen, vorausgesetzt, ich gehe jetzt ohne Umwege in die Küche und kümmere mich um das dringend notwendige Katzengras. Also: Auf geht’s.
So warm und hoffnungsfrühlingshaft sonnig geschrieben. Danke. Den Liedermacher werde ich nun (neugierig wie ich bin) selbst erkunden.
Einen wundervollen Frühling allen Zwei- und auch allen Vierbeinern.
Vielen Dank für die Erinnerung an Klaus Hoffmann. Ich hatte bei den Titeln sofort die Lieder im Kopf. Und „Die neuen Leiden des jungen W.“ habe ich geliebt
Klaus Hoffmann, oh ja. Ich mochte ihn von Anfang an, aber mit „Katharina“ hatte er mich endgültig. Vielleicht sollte ich den auch mal wieder ausgraben, allerdings muss er sich meine Ohren und Erinnerungen dann mit Georges Moustaki und Rosenstolz teilen, die bei mir grade rauf und runter laufen.
(Erinnerungen sind toll, aber was war das noch, was ich gestern beim Einkaufen vergessen hab? Ich komm einfach nicht drauf … 😀 )
Wunderbar geschrieben.
Und die neuen Leiden des jungen W. – einfach großartig.
Mich hat es ja vor Jahren und ohne konkreten Anlass auf ihr Blog verschlagen und dann hat mich die Mischung aus Katzengeschichten und wunderbarer Erzählweise, aber auch die Auseinandersetzung mit Leben und Tod gehalten. Nicht immer regelmäßig aber immer mal wieder und sehr gern.
Und jetzt sitze ich hier und in der Küche versteckt sich die allerste Katze meines Lebens – und auch dem armen Kerl fehlen schon Zähne und der ganze Rest soll nun auch noch gezogen werden. Zufälle gibt’s- ich bin jedenfalls angesichts der OP einen Hauch beruhigter weil ich Dank ihnen immerhin weis, dass es Katzen so auch gutgehen kann.
Jedenfalls vielen Dank fürs Schreiben und liebe Frühlingsgrüße!