Ich hasse den Winter. Jawohl.

Ich hasse den Winter. Ich hasse den Winter auf ganzer Linie und sehr intensiv. Romantische Züge nimmt er in meiner Gegenwart nicht an.

Wann immer ich im Winter aufwache, aus dem Fenster schaue oder das Haus (im Allgemeinen unfreiwillig) verlasse, ist es dunkel: Morgens und abends auf jeden Fall und oft genug auch mittags, wenn ich kurz zum Essen oder Einkaufen unterwegs bin. Sollte aus irgendeinem Grunde doch mal die die Sonne scheinen, dann steht sie so tief am Himmel, dass sie direkt durchs Auge auf den Migränepunkt im Hirn trifft.

Es ist kalt. Draußen sowieso, aber in meiner Wohnung auch. Schließlich wohne ich in einem dekorativen, charaktervollen Altbau mit hohen Decken, undichten Fenstern und Etagen-Gasheizung. Die Gastherme in der Küche kocht durchgehend auf mindestens mittlerer Stufe vor sich hin und macht dabei gerne Geräusche, als würde sie entweder demnächst in die Luft gehen oder einen Wurf junger Gasthermen zur Welt bringen. Ich weiß nicht genau, was ich unpraktischer finden würde. Trotzdem schalte ich die Heizung nicht aus, weder nachts noch wenn ich die Wohnung verlasse. Erstens würden die Katzen sie doch nur wieder einschalten und zweitens würde die Wohnung in kürzester Zeit so auskühlen, dass wir  möglicherweise ins Hotel umziehen müssten.

Die Fenster meiner Wohnung sind von innen mit einer Thermofolie beklebt, die eine Doppelverglasung simulieren soll. Die Folie ist, wenn man sie nach dem Ankleben, schön glatt föhnt, auch fast durchsichtig  und man kann die Menschen, die draußen den Elementen ausgesetzt, fast deutlich sehen. Viel wärmer wird es durch diese Maßnahme nicht, aber jedes Grad zählt.

Drinnen sitzen wir, die Katzen, mein Freund und ich, mit Rolkragenpullis, dicken Socken und ein paar Bettdecken auf dem Sofa. Sehr warm ist es trotzdem nicht, aber wenigstens friert man sich nicht versehentlich ein paar Zehen ab oder so.

Da meine Wohnung im ersten Stock und in einer engen Straßen- und Hinterhofsituation liegt, scheint die Sonne nur sehr selten hinein und wärmt die Luft kaum an. Die Heizperiode dauert also mindestens von September bis April. Von Mai bis August schalten wir die Heizung immerhin stundenweise ab, auch wenn es dann drinnen oft kälter als draußen ist. Man gewöhnt sich aber im Laufe der Jahre daran, Mäntel, Mützen und Schals beim Heimkommen anzuziehen und beim Rausgehen wieder abzulegen.

Jetzt, im Winter, brauchen wir die warmen Klamotten gar nicht an- und auszuziehen, wir behalten sie einfach durchgehend an. Das heißt, wenn wir welche hätten. Leider mag ich keine Winterklamotten,  weil ich sie unbequem und hässlich finde, deswegen gelingt es mir nur selten, welche zu kaufen. Den einen warmen Pulli, den ich besitze, muss ich also immer im Auge behalten, damit die Katzen sich daraus nicht wieder ein Nest bauen.

Meine Katzen stammen ja aus Südspanien. Das Hamburger Wetter ist für sie eine ziemliche Herausforderung – und das, obwohl sie ja reine Wohnungskatzen sind und nicht rausgehen. Katze 2, die ohne wärmendes Unterfell zur Welt gekommen ist, ist ziemlich anfällig, verkühlt sich leicht und fängt schon bei kurzzeitigem Temperaturanfall an zu niesen. Bedrohlich zu niesen, versteht sich. Katze 1 hat flauschiges Unterfell und ist weniger empfindlich, aber sie ruft jedes Mal den Tierschutzverein an, wenn ich im Schlafzimmer kurz das Fenster auf Kipp stelle, um mal durchzulüften.

Was ich am Winter noch mehr hasse, als Dunkelheit und Kälte, sind Schnee und vor allem Eis. Alle Niederschläge und vor allem die Teile der Niederschläge, die auf dem Boden liegenbleiben, hasse ich. Und sie machen mir Angst. Richtig viel Angst, die bei genauer Betrachtung eine ganze Menge mit Panik und Hysterie zu tun hat. Sobald Straßen und Gehwege mit irgendeiner Art von gefrorenem Wasser bedeckt sind, möchte ich am liebsten zu Hause bleiben, und zwar bis alles restlos abgetaut ist.

Blitzeis, wie es gestern in Hamburg und großen Teilen Norddeutschlands zu finden war, ist in meinen Augen eine Erfindung des Teufels. Eine Erfindung, mit der ich nicht umgehen kann. Ich habe alle möglichen Stiefel mit Profilen wie Traktorreifen… und dennoch rutsche ich. Ich besitze mindestens drei Paar Umschnallspikes… keins davon kann ich auf der Straße, also normalerweise im Stehen, sicher an meinen Schuhen befestigen; ich bin also nicht sicher, ob sie die Unfallgefahr nicht vielleicht noch erhöhen. Meine Testläufe mit über die Schuhe gestreiften Socken endeten bisher immer mit erfrorenen Socken, die mit einer Eisschicht überzogen das Rutschen auch nicht verhinderten. Mit einer Tüte Streusand oder Katzenstreu, das man vor sich auf den Weg streut, kann man auch keine längeren Wege zurücklegen.

Ich habe sehr große Angst davor, auszurutschen und hinzufallen. Der größte Teil meines Körpers fällt nach wie vor entspannt und ohne sich wehzutun, aber mein linkes Knie macht da leider nicht mehr mit. Es ist seit einem ziemlich dämlichen Sportunfall mit Bänderriss vor etwa vierzig Jahren und einem spektakulären Badezimmerunfall vor zwanzig Jahren irreparabel lädiert bzw. instabil und sozusagen meine Achillesferse. Jahrzehntelanges Übergewicht half natürlich auch nicht und das letzte Röntgenbild ergab heftige Arthrose im Gelenk. Das Knie nimmt mittlerweile jeden kleinen Fehltritt übel und bei größeren Fehltritten wie zum Beispiel Ausrutschen macht es so lustige Sachen wie Sich-Verdrehen und Überdehnen aller möglichen Bänder.

Dieses zum letzten Mal vor ziemlich genau sieben Jahren, auch in einer Blitzeis-Situation. Ich war auf dem Weg nach Hause von einer nachmittäglichen Theateraufführung quer durch Hamburg und schon fast am Ziel. An der großen Kreuzung, fünfzig Meter von meiner Wohnung entfernt, stieg ich aus dem Bus und machte mich ans Überqueren der Hauptstraße. Als ich mitten auf der Straße bemerkte, dass diese höllisch glatt war, flog ich auch schon mit Schwung durch die Luft, mein Knie drehte sich gefühlt einmal um sich selbst und zurück, und ich landete auf meinem dicken Hintern. Ungefähr auf der Mittellinie der vierspurigen Straße. Diese war zum Glück nicht sehr befahren – normalerweise sehr ungewöhnlich, aber offenbar hatten alle anderen Verkehrsteilnehmer im Gegensatz zu mir bereits bemerkt, dass es glatt war, und waren zu Hause geblieben. Ich war also nicht direkt in Not. Dachte ich zumindest im ersten Moment, bis ich merkte, dass ich nicht aufstehen konnte. Mein Knie tat höllisch weh und ließ sich nicht beugen, die Straße war wirklich schweineglatt.

Ein Mann, der an der gegenüberliegenden Bushaltestelle wartete, erbarmte sich schließlich meiner, zog mich hoch und half mir an den rettenden Straßenrand. Dort behauptete ich dann, alleine zurechtzukommen, bedankte mich und humpelte mühsam nach Hause. Aus Erfahrung wusste ich, dass die Schmerzen noch schlimmer werden würden, das Knie anschwellen würde und möglicherweise später auch noch eine Art Schockzustand einsetzen würde – und bis dahin wollte ich unbedingt nach Hause, die Katzen gefüttert haben und in meinem Bett liegen. Das klappte auch, aber unter sehr erschwerten Bedingungen. An der Treppe in die erste Etage wäre ich fast gescheitert.

Am nächsten Tag hatte das Knie ungefähr doppelten Umfang (und es ist schon im Normalzustand nicht eben schlank) und ich war komplett bewegungsunfähig. Am übernächsten Tag schleppte ich mich runter, ließ mich mit dem Taxi zum Arzt fahren und bekam einen Tapeverband. Der stabilisierte das Gelenk zumindest etwas. Es dauerte aber viele Wochen, bis ich wieder schmerzfrei gehen konnte, und der Winter in dem Jahr (2010), der bis in den April hinein dauerte und die Fußwege glatt hielt, hat meine Lebensqualität erheblich eingeschränkt.

Seitdem fürchte ich mich noch mehr als vorher vor Glatteis und allen klimatischen Symptomen, die darauf hindeuten könnten, dass es Glatteis geben könnte. Derer gibt es nicht wenige und die ständige Sorge macht mich, so denke ich manchmal, wirklich mürbe und auch unleidlich. Schließlich möchte ich jedem, der sich über Schnee oder Kälte oder auch Weihnachtsmärkte freut (und diese gerne in der Gruppe besuchen möchte, also auch mit mir, wenn es „schön kalt“ ist), eine reinhauen. Ohne Ansehen der Person.

Dass Winter auf Fotos oder Postkarten, von mir aus auch im Kino, hübsch aussehen kann, bestreite ich nicht. Aber das heißt doch nicht, dass ich persönlich am Winter teilnehmen möchte. Ich weiß auch nicht, warum das nicht mal vernünftig geregelt werden kann! Ich meine, von mir aus kann ja in einschlägigen Orten wie diesen sogenannten „Wintersportgebieten“ so viel Schnee liegen wie möglich. Dort ist man auch auf Minusgrade wesentlich besser eingerichtet, denn dort kommen die Eingeborenen schließlich noch mit intaktem Winterfell nebst Unterfell zur Welt. Wenn es unbedingt sein muss, könnten ja auch in Norddeutschland ein paar Winterdörfer installiert werden – aber eben an Orten, die niemandem im Weg sind, der einfach nur von einer Stadt in die nächste möchte. Diese künstlichen Rodelbahnen und Indoor-Ski-Dingsis sind ja vielleicht ein bisschen albern und unromantisch, aber im Prinzip doch eine gute Erfindung. Man sollte nur konsequent dazu übergehen, den Winter nur noch an diesen dafür vorgesehenen Orten stattfinden zu lassen, finde ich. Und die Menschen, die sich über den Winter freuen, können da ja hinfahren. Oder auch hinziehen. Und dann von mir aus jeden Tag rodeln gehen und anschließend auf dem Weihnachtsmarkt Glühwein trinken. Ist mir ja recht – aber lasst mich und die Stadt, in der ich lebe, damit einfach in Ruhe, okay?

 

 

 

 

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