Kleine Meditation über das Arbeitsleben

Eine meiner Lieblingskolleginnen geht zurück nach New York. Dagegen lässt sich leider nicht viel sagen; sie stammt aus New York, hat jetzt zehn Jahre lang in Europa gelebt, studiert und gearbeitet und möchte nun wieder in der Nähe ihrer Eltern sein. Die nicht jünger und gesünder werden, auch wenn die Kollegin noch recht jung ist, gerade mal dreißig. Außerdem war ihr Job bei uns befristet, eine Schwangerschafts- und Elternzeitvertretung.

Einen Job hat sie in New York noch nicht, aber verschiedene Möglichkeiten, von denen sich, so vermute ich, sicherlich recht bald eine realisieren wird. Oder sie entscheidet sich, noch schnell ihre Doktorarbeit in Musikwissenschaft zu schreiben, natürlich an einer der Ostküstenuniversitäten von Weltrang. In Deutschland, ja sogar in Hamburg, gab es durchaus Jobangebote, aber keins, das ihr so wichtig war, deswegen nicht wieder in die Nähe ihrer Eltern ziehen zu wollen.

Hatte ich erwähnt, dass meine junge Kollegen absolut großartig ist? Hervorragend ausgebildet sowieso. Sprachbegabt wie ein Babelfisch, schon jetzt spricht sie mehr Sprachen, als ich aufzählen kann. Unglaublich interessiert und lernbegierig, sie inhaliert Informationen wie andere Menschen Pizza. Gutmütig, geduldig, hilfsbereit und immer optimistisch. Klein, quirlig und trotzdem das genaue Gegenteil von niedlich. Möglicherweise genau deswegen unglaublich süß. Bestens vernetzt und mit einem sehr gesunden Selbstbewusstsein ausgestattet. Sie weiß, wer sie ist, und hat es nicht nötig, sich unter Wert zu verkaufen.

Ich habe mich bestens mit dieser begabten jungen Frau verstanden und freue mich über die gemeinsame Zeit. Dass sie sich bei unserer Verabschiedung dafür bedankt hat, dass sie so viel von mir lernen durfte, macht mich ein bisschen stolz. Ich werde sie furchtbar vermissen, unsere Gespräche über den Opernbetrieb im Allgemeinen und im Besonderen, aber auch und vor allem unsere privaten Unternehmungen. In der Cocktailbar, die schnell meine liebste in ganz Hamburg wurde, war ich mit ihr zum ersten Mal. Ich werde also immer an sie denken, wenn ich dort einen Zitronenblitz bestelle.

Natürlich denke ich in diesem Zusammenhang auch daran zurück, wie es mir mit dreißig ging. Das sah längst nicht so gut und klar und vielversprechend aus. Meine nach und nach ausprobierten Studiengänge Germanistik, Geschichte, Italienisch und Musikwissenschaft waren im Laufe von zehn Jahren alle irgendwie im Sande verlaufen. Stattdessen hatte ich parallel den irrwitzigen Plan verfolgt, Opernsängerin zu werden. Leider ohne Hochschulstudium, denn ich konnte zu keiner Zeit in diesen zehn Jahren auch nur annähernd gut genug singen, um eine Aufnahmeprüfung zu bestehen. Verschiedene private Gesangslehrer und Coaches, einige besser, andere weniger gut, versuchten sich an mir. Ich besaß eine große kräftige Stimme, hatte – rein theoretisch – den Stimmumfang für einen dramatischen Sopran und mehr technische Probleme als der Mechaniker, der jede Woche wieder versucht, die Aufzüge in unserem Bürogebäude zum Laufen zu bringen. Nur, dass es für meine Stimme nicht mal in Korea Ersatzteile gab.

Mit dreißig hatte ich meine Stimme endlich soweit im Griff, dass ich gelegentlich in Kirchen singen durfte, bei Gottesdiensten, Trauungen und Trauerfeiern. Ja, für Geld (wenig). Ja, ohne dass die Besucher schreiend und mit Tinnitus die Kirche verließen. Nein, meinetwegen sind keine Bräute geflohen und keine Toten wiederauferstanden. Alle dahingehenden Behauptungen sind Fake News!

Gleichzeitig war mir klargeworden, dass ich keine hauptberufliche Sängerin werden würde. Ich hatte keine Schauspielausbildung, null Bühnenerfahrung und viel zu viele Selbstzweifel, um in diesem Geschäft überleben zu können. Aber immerhin hatte ich einen Punkt erreicht, an dem ich halbwegs zufrieden mit meinem Gesang und mir war, und genau deswegen konnte ich realistisch genug sein zu akzeptieren, dass in diesem Beruf nicht meine Zukunft lag.

Der Abschied von meinem jahrelang gehegten Traum fiel dann erstaunlich leicht – obwohl ich keine Alternative hatte. Ich war noch immer als Studentin immatrikuliert und arbeitete 20 Stunden pro Woche in einem CD-Geschäft. Das war nett, aber nichts, was ich lebenslänglich tun wollte. Allein, die wirklich zündende Idee, was ich mit meinem Berufsleben anfangen wollte, fehlte mir. Social Media, Webdesign und andere Internetjobs, die mich sicher interessiert hätten, gab es damals noch nicht.

Nach einiger Überlegung entscheid ich mich dann für eine Ausbildung zur Fremdsprachensekretärin.

(Für die jüngeren Leser: Fremdsprachen kennen Sie natürlich. Sekretärinnen, das waren so Leute, meist Frauen, die alles wussten, was ihre Chefs auch wussten, und dieses Wissen nicht gegen ihre Chefs verwendeten. Sie waren Sekretärinnen und das wollten sie auch bleiben. Das unterschied sie von den heute bekannten Persönlichen Assistenten und Referenten, die – mit dem Ziel, möglichst schnell selbst Chef zu werden – ihre Aufgabenbereiche mittlerweile übernommen haben und die Sekretärin als Berufsbild quasi verschwinden ließen.)

Fremdsprachensekretärinnen waren damals noch sehr gesucht. Chefs waren nicht unbedingt gut in Fremdsprachen, schreiben konnten sie schon mal gar nicht (weder auf einer Schreibmaschine noch auf diesen neuen Dingern, den Personal Computers, die den Schreibtisch verschandelten und nie taten, was sie sollten) und sie waren noch daran gewöhnt, dass ihre Sekretärin alles für sie regelte und sie in kleinen, sichthüllenverpackten Häppchen über die Planung für die nächsten 24 Stunden informierte. Fremdsprachensekretärinnen gab es in allen Bereichen des Berufslebens; die Aussichten, letztendlich in einer Firma zu arbeiten, mit deren Produkt man sich identifizieren konnte, waren also relativ gut.

Lustigerweise klappte das dann auch. Als ich zum Ende meiner anderthalbjährigen Ausbildung an der Fremdsprachenschule in die Stellenanzeigen schaute, war meine Stelle tatsächlich ausgeschrieben: Die Staatsoper Hamburg suchte eine Sekretärin für den Künstlerischen Betrieb. Ich bewarb mich, hatte das kürzeste Vorstellungsgespräch aller Zeiten (13 Minuten) und bekam den Job. Hauptsächlich wegen meiner sehr guten Englischkenntnisse. Menschen, die sich mit Musik und Oper mindestens so gut auskannten wie ich, hatten sich durchaus mehrere beworben – und viele von denen hatten im Gegensatz zu mir bereits an einem Theater gearbeitet. Aber Englisch konnten sie halt nicht richtig und das war mein Glück.

Was mir damals nicht wirklich klar war: Weil ich als Sekretärin eingestellt wurde und nicht als Assistentin oder „Mitarbeiterin“, bekam ich keinen Künstlervertrag, sondern einen normalen Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst, so als würde ich in einer Hamburger Behörde arbeiten. Was das wirklich bedeutete, wurde mir erst nach und nach klar: Ich gehörte zu einer kleinen Gruppe von Kollegen, die im künstlerischen Bereich tätig waren und trotzdem sichere Jobs hatten (nachdem die Probezeit erst einmal abgelaufen war). Die Kollegen mit den Künstlerverträgen müssen nämlich schlappe fünfzehn Jahre in ihren Jobs überstehen, bevor sie endlich unkündbar werden. Das ist am Theater so üblich und soll gewährleisten, dass künstlerischer Wandel möglich ist, z. B. wenn die Leitung eines Hauses wechselt und ein neuer Intendant gerne einige Schlüsselpositionen mit Mitarbeitern seines Vertrauens neu besetzen möchte.

Damals war mir der sichere Job ziemlich egal. Ich hätte lieber mein Gehalt frei verhandelt und nur der Sicherheit wegen in einem Job zu bleiben, der mir möglicherweise irgendwann keinen Spaß mehr macht, erschien mir ohnehin nicht erstrebenswert. Zum Glück machte er mir aber Spaß, sehr viel Spaß sogar. Die Frage, ob ich die Unkündbarkeit aufgeben und irgendwo anders noch einmal – besser bezahlt vielleicht (die Angebote, die ich gelegentlich bekam, waren nicht schlecht) – von vorne anfangen will, stellte sich also nicht. Zumindest nicht in den ersten zwanzig Jahren.

Tja. Nun bin ich nun schon einundzwanzig Jahre in meinem Job. Um mich herum haben die Kollegen fast alle mehrmals gewechselt, auch meine Chefs. Ich bin noch da. Mein Job macht mir noch immer Spaß, wenigstens meistens. Ich komme mit meinen Kollegen gut aus und es hat schon lange niemand mehr versucht, mir das Arbeitsleben zu vermiesen. Das letzte gute Angebot, das ich hatte, nämlich mit meinem damaligen Chef nach Berlin zu gehen, liegt nun gut drei Jahre zurück – ich konnte es nicht annehmen, weil zu der Zeit mein Vater krank wurde und ich nicht aus Hamburg weg konnte.

Die Zeiten haben sich geändert auf dem Arbeitsmarkt, bekanntlich nicht wirklich zum Guten. Ich bin über fünfzig, habe dem Theater meine besten Jahre geschenkt, bin dabei grau geworden und habe bei meinem letzten Umzug offenbar das Abschlusszeugnis von der Fremdsprachenschule verloren. Nur falls ich mich noch einmal woanders bewerben wollte, wäre das irgendwie eine uncoole Kombi, schätze ich. Mal davon abgesehen, dass kein Arbeitgeber mehr Sekretärinnenjobs ausschreibt.

Verstehen Sie mich nicht falsch! Ich will meinen Job gar nicht wechseln. Es geht mir ja gut. Aber der Gedanke, ich müsste bis zur Verrentung (nein, ich habe die Anzahl der Tage bis dahin noch nicht berechnet!) bleiben, wo ich bin, einfach nur weil ich keine anderen Möglichkeiten mehr habe und weil die blöde Sicherheit wichtiger ist als alles andere, der gefällt mir überhaupt nicht. Ich meine, dafür war ich doch nicht das schwererziehbare Kind und der aufsässige Teenager, als den mich so viele Weggefährten in Erinnerung behalten haben!

Ich wünsche meiner jungen Kollegin in New York (und an den vielen anderen Orten, an denen sie sicher noch landen wird) alles Gute. Und ich beneide sie ein bisschen. Um ihre diversen Möglichkeiten, aber auch um die Notwendigkeit, Pläne für ihre Zukunft zu entwickeln und diese zu verfolgen. Sie wird sich anstrengen müssen und vieles erreichen. Vielleicht nicht alles und nicht immer sofort, so dass sie auch Plan B und Plan C ausarbeiten muss. Daran wird sie wachsen und ihren Wirkungskreis noch erweitern. Und eines Tages, vermutlich mit Plan D und der Hilfe einiger erfahrener Katzen, übernimmt sie vielleicht ein Stückchen von der Weltherrschaft. Nicht zu früh, nicht zu einfach und auch nur ein Stückchen. Vielleicht holt sie mich dann ja in ihr Beraterteam. Und völlig egal, wie alt und grau und faul ich bis dahin bin: Den Job nehme ich an. Das verspreche ich. Ihr und mir.

2 Kommentare

  1. Ach ja, mir geht es ähnlich. Für den künstlerischen Beruf hat das Talent doch nicht ausgereicht, auch fehlten gewisse körperliche Voraussetzungen, dann bin ich in ein Fachgebiet hineingerutscht, was ich gut kann, aber nicht mehr so gerne mag. Und die 50 liegen seit kurzem auch schon hinter mir… Ich versuche, das Leben trotzdem zu genießen.

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