Wenn Sie es leid sind, ewig lange auf Facharzttermine zu warten, dann ziehen Sie doch ins Seniorenheim. Dort hat man Kontakte zu allen Fachärzten dieser Welt und es ist überhaupt kein Problem, zeitnah einen Termin zu bekommen. Und mit „zeitnah“ meine ich „Können Sie sofort kommen?“ oder zumindest „Lassen Sie mich kurz schauen; ich bin sicher, wir finden noch in dieser Woche einen Termin!“
Ich habe keine Ahnung, ob das in allen Seniorenheimen so gut flutscht, aber in der neuen Heimstätte meiner Mutter ist es wirklich überhaupt kein Ding. Die Pflege schlägt Ihnen vor, Ihre Mutter mal mit der Neurologin, die regelmäßig Haus- äh Heimbesuche macht, bekannt zu machen, Sie nicken unentschieden und das nächste, was Sie hören, ist: „Die Neurologin war gestern da und hat ein paar Tests mit Ihrer Mutter gemacht. Wir waren alle sehr überrascht.“
Überrascht nicht über den Besuch der Neurologin, sondern darüber, dass meine Mutter bei den verschiedenen Demenztests immer recht gut abschneidet oder jedenfalls nicht so, dass es zu ihrem sonstigen Auftreten und den sich doch verdichtenden Anzeichen einer demenziellen Erkrankung passen würde.
Also, die Neurologin kam vorbei und beim Zahnarzt war meine Mutter vor zwei Wochen auch, nachdem sie um einen Termin gebeten hatte. Ich war beeindruckt und erkundigte mich bei der Pflege, ob es vielleicht auch einen Augenarzt in der Nähe gäbe, zu dem das Heim gute Beziehungen pflegt. Aber natürlich, so sagte man mir, und man würde gerne einen Termin für meine Mutter ausmachen.
Sehr gut, dachte ich, denn ich wollte sehr gerne den vor Monaten vereinbarten Augenarzttermin in der Nähe der Wohnung meiner Mutter absagen. Erstens, weil meine Mutter dafür durch die halbe Stadt hätte fahren müssen, und zweitens, weil er – nicht von mir – für morgens um acht ausgemacht war (und ich auch durch die halbe Stadt gemusst hätte).
Nachdem ich ein paar Tage nichts gehört hatte, fragte ich meine Mutter, ob schon mal jemand mit ihr über einen Augenarzttermin gesprochen habe.
„Nein“, sagte meine Mutter, „aber stell dir vor: Ich war doch neulich beim Zahnarzt. Der war sehr nett und ich wollte wieder dorthin, aber sie haben mich dann zu einem anderen Zahnarzt gebracht, den ich gar nicht so nett fand!“
„Aha“, machte ich unverbindlich, „vielleicht eine Praxisgemeinschaft oder so etwas? Aber ist ja auch egal, mir geht es um den Augenarzttermin. Das ist ja wichtig.“
Eine weitere Woche verging, niemand erwähnte auch nur die Spur eines Augenarztes. Auf Fragen meinerseits antwortete meine Mutter meistens mit Berichten über unterschiedliche Zahnärzte und ihre Unzufriedenheit damit, dass man sie nicht wieder zu dem netten Zahnarzt gebracht hatte.
Vor ein paar Tagen fragte ich nun im Heim nach dem Augenarzttermin und wurde am nächsten Tag von der Wohnbereichsleitung zurückgerufen. Ob meine Mutter schon wieder zum Augenarzt solle? Sie sei doch gerade erst dagewesen und alles sei gut und überh…
„Moment mal!“ unterbrach ich die freundliche Dame. „Meine Mutter war beim Augenarzt?“
„Ja, letzte Woche.“
„Aber sie hat mir nichts davon erzählt, obwohl ich sie extra danach gefragt hatte. Stattdessen erzählt sie mir nur ständig von einem zweiten Zahnarzt, zu dem man sie angebl… Oh.“
„…“ (Akustisches Pendant zu: Nichts, außer vielleicht unterdrücktem Kichern. In der Ferne bellt ein Hund.)
„Sie meinen, der zweite Zahnarzt war vielleicht gar kein Zahnarzt, sondern ein Augenarzt?“
„Könnte sein, oder?“
Wir fingen dann beide im selben Moment an zu lachen. Wahrscheinlich weil wir uns simultan vorstellten, wie der Arzt zu meiner Mutter sagt: „So, und nun bitte mal ganz weit aufmachen! – Nein, gnädige Frau, nicht den Mund! Die Augen!“
Aber es gibt auch Gutes zu berichten: Zum Beispiel hatte ich am Freitag einen Termin beim Einwohnermeldeamt, um meine Mutter an ihrem neuen Wohnsitz anzumelden. Die Termine kann man in Hamburg inzwischen ganz bequem online vereinbaren und muss dann im Kundenzentrum tatsächlich auch nicht mehr lange warten (zwischen Terminvereinbarung und Termin liegen nur halt ungefähr vier bis sechs Wochen). Ich hatte mir brav die Wohnungsgeberbestätigung im Heim geben lassen und das Ummelde-Formular runtergeladen und ausgefüllt sowie meine Vollmacht kopiert. Am Dienstag war ich dann bei meiner Mutter, um mir ihren Personalausweis abzuholen.
Der Ausweis war natürlich im März abgelaufen.
„Verdammt!“ murmelte ich. „Dann muss ich gleichzeitig mit der Anmeldung einen neuen Personalausweis für dich beantragen.“
„Muss ich dann so ein schreckliches Foto machen lassen?“ fragte meine Mutter entsetzt.
„Ich fürchte ja“, erwiderte ich, „aber vielleicht können wir das nachreichen. Ich muss das mal googeln.“
„Ich möchte aber nicht fotografiert werden“, sagte meine Mutter.
„Ich weiß“, sagte ich. „Vielleicht können wir auch ein Katzenfoto abgeben.“
Es war Dienstagabend, ich war sehr müde und wusste, dass ich an den nächsten beiden Tagen keine Zeit für eine lange Mittagspause, in der ich mit meiner Mutter zu einem Fotografen hätte gehen können, finden würde. Ich wusste aber auch, dass kein Automat, der auf sich hält, ein Foto von meiner Mutter machen würde. Weil diese nicht wüsste, wo sie das Geld reinschieben, hingucken, draufdrücken und Fotos entnehmen sollte.
Zu Hause googelte ich panisch Dinge wie „Ausweis beantragen ohne Foto“, „Ummeldung ohne Personalausweis“, „mildernde Umstände wegen dementer Mutter“ und „Kettensägenmassaker im Ortsamt“.
Und stieß zu meinem Erstaunen auf: „Befreiung von der Ausweispflicht“. Die gibt es tatsächlich, und zwar für Personen, die z. B. in ein Pflegeheim ziehen und nicht mehr unbegleitet im Draußen unterwegs sind. Und deren Ausweis gerade abgelaufen ist.
Das las sich für meine Begriffe sehr ermutigend, auch wenn von „sehr individuellen Voraussetzungen“ der Fall war. Was mich hingegen irritierte, war die Aufforderung, telefonischen Kontakt zum Einwohnermeldeamt aufzunehmen. Bisher war ich – wie die meisten Einwohner Hamburgs auch – immer davon ausgegangen, dass es irgendwas zwischen „unmöglich“ und „verboten“ ist, auch nur nach einer Telefonnummer für ein individuelles Kundenzentrum zu fragen. Stattdessen gibt es eine allgemeine Behördentelefonnummer, die man anrufen kann und die einen dann, mal mehr und mal weniger kompetent, berät, unterstützt oder abwimmelt.
Immerhin gelang es mir, nach einigem Hin und Her und knapp zwei Stunden, die ich damit verbracht hatte, ein Telefon in einem vermutlich leeren Büro klingeln zu lassen, der allgemeinen Behördennummer auch eine Mailadresse zu entlocken. Dort bekam ich sogar sehr schnell eine Rückmeldung in Form eines Antragsformulars für die Befreiung von der Ausweispflicht. Dieses musste aber selbstverständlich entweder vom Arzt oder vom Heim mitunterschrieben werden. Ich galoppierte also in meiner Mittagspause endlich mal wieder ins Seniorenheim – immer an der Wand lang, in der Hoffnung, nicht plötzlich meiner Mutter zu begegnen – und ließ mir in der Verwaltung einen Stempel auf das Formular machen. Uff.
Am Freitag, dem 13., ging ich nun – mit einem Papierstapel, der etwa zwei Zentimeter stark war, zu meinem Termin ins Kundenzentrum. Tatsächlich musste ich nur wenige Minuten warten; die Zeit hätte nicht einmal zum Ausfüllen des Meldeformulars ausgereicht. Eine sehr freundliche Dame nahm dann die Ummeldung meiner Mutter vor und fragte eine weitere sehr freundliche Dame, ob diese ihr bei der Befreiung von der Ausweispflicht behilflich sein könne. Sie hatte das nämlich noch nie gemacht. Die Kollegin aber schon, sie führte meine Kundenberaterin durch den Vorgang und schwuppdiwupp durfte ich zwölf Euro für die Ummeldung bezahlen, bekam zwei Bestätigungen sowie Wünsche für ein schönes Wochenende mit auf den Weg und stand wieder auf der Straße.
Angenehm überrascht und erleichtert, dass dann doch auch mal was klappt, ging ich zurück ins Büro. Sieh mal an, dachte ich mir, und das, obwohl heute Freitag der 13. ist. Bestimmt hat die schwarze Katze, die in meiner Handtasche immer von rechts nach links läuft, geholfen! Immer gut, ein Maskottchen zu haben. Oder einen Termin beim Facharzt, der prüft, ob Ihre Zähne noch richtig gucken und Ihre Pupillen noch ordentlich kauen können.
Glückwunsch zur gelungenen und entspannenden Erledigung dieser To-dos. Das fühlt sich doch immer sehr schön an… Die Amtsgeschichte passt zu der, die der Newsletter des Berliner Tagesspiegel neben diversen Stadtplaudereien und Ämterhorror führt mit dem Titel „Amt, aber glücklich“ – das gibt einem immer mal wieder Hoffnung, wenn was Amtliches ansteht, dass es gar nicht so schlimm sein muss… (Mein neuer Perso lief neulich auch gut. Ich hatte Fotos mit, aber die hatten sogar einen Fotoautomaten im Bürgeramt.)
sollte heißen: „… passt zu der Rubrik…“
Ja, manchmal klappts, man muss nur hartnäckig bleiben. Nachdem ich von der Möglichkeit der Befreiung von der Ausweispflicht las und mich per Mail mit der Personalausweisausstellfachabteilung in Verbindung setzte, sah es noch nicht so gut aus. Angeblich waren manigfache Vorraussetzungen zu erfüllen, um eine Befreiung zu erreichen.
Erst eine komplette Linksammlung mit den Internetauftritten der Städte die besser informiert waren und mein Hinweis, dass meine Mutter keiner terrorristischen Vereinigung angehört, überzeugten schließlich die Personalausweisausstellungsfachangestellten.
Schließlich reichte der Hinweis aus: Meine Mutter kann sich nicht mehr eigenständig in der Öffentlichkeit bewegen.
Dazu ein formloses Attest des Hausarztes, welches diese Tatsache bestätigte.
Das Leben könnte so einfach sein!
Also in dem Pflegeheim, in dem meine Oma seit neuestem lebt, ist das auch sehr kompetent organisiert. Der Allgemeinmediziner kommt turnusmäßig für etliche Bewohner, im Akutfall wird der Hausbesuchsdienst gerufen.
Bei Kardiologen und Augenarzt wurden Termine im Juni vereinbart. Was o.k. ist, das sind normale Kontrolltermine.
Ansonsten, die Beschreibung Deiner Mutter ähnelt sehr dem Verhalten meiner Oma.
Diese hat nämlich eine sehr selektive Wahrnehmung entwickelt, und merkt sich praktisch nichts mehr. Sie kann Dir punktgenau sagen, das die eine Schwester doof und gemein ist (weil die Oma duschen musste), wenn man sie fragt, was es zum Mittagessen gab, dann kommt ein hat nicht geschmeckt….
Insgesamt ist die Großmutter eine schwierige Person, und man darf auch echt nicht alles glauben, was sie behauptet. Das war aber schon die letzten Jahre zu Hause so.
Keine Demenz! Ihr Gedächtnislücken haben andere Ursachen.