Lotti und die Weltherrschaft

„Warum musste es denn mich treffen? Ausgerechnet mich?“

Frl. Lotte Miez saß mit weit aufgerissenen Augen und wirren Haaren auf der Sofalehne und gestikulierte mit beiden Pfoten wild in der Luft herum. Einen kleinen Moment lang, in dem sie sich sehr ausdrucksstark fühlte, dann setzte sie die eine Pfote wieder ab, um in all ihrer Expressivität nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Dann fixierte sie ihre Schwester, die entspannt auf der anderen Seite des Sofas ruhte und sich bemühte, nicht zu sehr zu grinsen, und fragte noch einmal verzweifelt: „Warum ich? Was in aller Welt soll ich denn mit der Weltherrschaft? Was hat Jette sich bloß dabei gedacht?“

Frl. Leonie Mau sah ihrer Schwester dabei zu, wie sie sich nach ihrem Ausbruch wieder etwas gemütlicher hinsetzte, und wartete, bis Lotti aufhörte zu schnaufen. Dann sagte sie ganz ruhig: „Ich glaube, Jette hat etwas in dir gesehen, was sonst niemand in dir sieht. Dein ganzes unentdecktes Potenzial!“ Und wieder musste sie sich große Mühe geben, nicht zu lachen.

Lotti warf ihr einen ungläubigen Blick zu. „Jette hat mein unentdecktes Potenzial gesehen? Das hat sie mich aber nie spüren lassen. Ich hatte immer den Eindruck, sie hält mich für eine eher unterdurchschnittlich begabte, ziemlich faule und überdurchschnittlich verfressene Hauskatze mittleren Alters.“

Frl. Leonie Mau sagte nichts. Aus Gründen der allgemeinen und insbesondere ihrer eigenen Sicherheit.

„Glaubst du nicht eher“, fragte Lotti aufgeregt, „dass Jette einen Fehler gemacht hat? Vielleicht hat sie sich einfach nur verguckt – sie konnte ja nicht mehr so gut sehen zum Schluss – und ist in der Zeile verrutscht. Eigentlich wollte sie mir nur ihre ganzen rosafarbenen Pumps in kleinen Größen vermachen (und nicht nur ein Drittel) und wollte die Weltherrschaft dir übergeben.“

„Mir?“, fragte Leo und ihr Ton war so überrascht, dass eine weniger aufgeregte Gesprächspartnerin als Lotti den Eindruck hätte gewinnen können, sie sei gar nicht überrascht, nicht im Geringsten. „Aber wieso denn mir?“

„Aber Leo“, beharrte Lotti, „du bist doch viel selbstbewusster und kontaktfreudiger als ich und machst dir nicht immer so viele Sorgen. Du hast keine Angst vor fremden Menschen und mit Jette bist du doch auch viel besser ausgekommen. Du wärest eine viel bessere Weltherrschaft als ich. Und bestimmt hat Jette auch dich gemeint in ihrem Testament und sich nur vertan.“

„Ein weiteres Argument dafür, das Testament zu machen, solange man noch alle neun Sinne beieinander hat“, murmelte Leo, „und nicht erst im allerletzten Moment. Aber nichtsdestotrotz hat Jette geschrieben: Ein Drittel meiner rosafarbenen Pumps in kleinen Größen vermache ich meiner lieben Freundin Lotti, zusammen mit der Weltherrschaft, die sie sich schon immer gewünscht hat. – Das ist doch wohl deutlich!“

„Aber was hat sie damit gemeint?“, jammerte Lotti. „Ich habe nie gesagt, dass ich die Weltherrschaft übernehmen möchte. Ich habe nur gesagt, dass ich im Bett neben dem Kopfkissen der dicken freundlichen Frau schlafen möchte und dabei keine weitere Katze in Reichweite haben will.“

„Ungefähr alle fünf Minuten hast du das gesagt bzw. gekreischt“, stimmte Leo ihr zu. „Aber wie Jette ja selbst am besten wusste, gehört zur Weltherrschaft noch einiges mehr.“

„Ansprachen im Fernsehen halten und zu Kongressen reisen…“, zählte Lotti auf, „ganz zu schweigen von Katzenvideos ins Darknet laden und Schutzgelder von Hundehaltern einsammeln. Das könnte ich nie. Ich weiß noch nicht einmal, wie ich ins Darknet komme.“

„Vielleicht wollte Jette einen Witz machen?“, überlegte Leo.

„Einen Witz?“, zeterte Lotti, „der ist aber nicht sehr lustig, dieser Witz!“

Erschöpft ließ sie sich auf die Sofa-Sitzfläche sinken und atmete einige Male tief ein und aus. Leo sah ihr stumm dabei zu.

„Wo bleibt eigentlich die dicke freundliche Frau?“, fragte Lotti als nächstes. „Ich habe schrecklichen Hunger und sie wollte heute doch nicht so lange arbeiten.“

„Vielleicht hat sie wieder den Bus verpasst“, gab Leo zu bedenken. „Du weißt, da draußen am Deich bedeutet das, dass sie eine ganze Stunde auf den nächsten Bus warten muss.“

„Das geht doch aber nicht!“, sagte Lotti mit Bestimmtheit in der Stimme. „In einer Stunde kann eine Katze quasi verhungern. Falls ich jemals in meinem Leben etwas zu sagen haben sollte, werde ich sofort verfügen, dass der Bus auch da draußen am Deich alle zehn Minuten fährt.“

„Lotti…“, sagte Leo gedehnt.

„Ja, Leo, was ist?“

„Falls du jemals etwas zu sagen haben solltest? Lotti, du hast gerade die Weltherrschaft geerbt. Du kannst alles verfügen.“

„Wirklich?“, fragte Lotti mit ungläubiger Stimme (und schwach vor Hunger).

„Wirklich!“, bestätigte Leo mit fester Stimme (obwohl ebenfalls schwach vor Hunger).

Und schon war Lotti am Telefon und wählte die Telefonnummer der Welt.

„Test… Test… Eins zwei drei… Hallo? Ist da die Welt? Hier ist Fräulein Lotte Miez, die Inhaberin der Weltherrschaft. Ich wünsche, dass der Bus da draußen am Deich häufiger fährt. Noch besser, dass er immer an der Haltestelle steht, dort auf meine Menschin wartet und sie dann, wenn sie endlich Feierabend hat, ohne Umwege und Zwischenstopps nach Hause bringt. Und dass sie sofort Feierabend hat. Und dann hätte ich gerne zwei halbe Hähnchen für meine Schwester und mich… Äh je zwei halbe Hähnchen für mich und meine Schwester, und einen großen Diät-Vanille-Milchshake. Natürlich mit Sahne! Blöde Frage. Und Weltfrieden natürlich. Ja… wie lange dauert das? Okay, der Bote soll sich beeilen!“

Erschöpft ließ Lotti das Telefon sinken, drehte sich zu ihrer Schwester um und fragte: „Wie war ich?“

„Perfekt!“, jubelte Leo. „Jette hatte vollkommen recht: Du bist die geborene Weltherrschaft! Du wirst das großartig machen. Warte es nur ab!“

 

 

3 Kommentare

  1. wie immer toll geschrieben!
    Da bubbles ja vom aussehen her eine Schwester der beiden sein könnte, werde ich jetzt immer wenn ich sie anschaue an die Weltherrschaft von Lotti und an Jette denken.
    Vielen Dank!❤️

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