Mein Schaalsee. Der Beginn einer Liebesgeschichte.

In dem Aufsatz neulich über meinen Urlaub hatte ich Ihnen ja schon von meiner großen Freude darüber berichtet, dass der Schaalsee, genauer gesagt auch die Ostseite des Schaalsees, nun im Einzugsbereich des Hamburger Verkehrsverbundes HVV liegt und nicht mehr ausschließlich mit dem Auto zu erreichen ist. Warum und wieso das so großartig ist, habe ich aber nur angedeutet – und seitdem wächst in mir der starke Drang, Ihnen mehr über diesen meinen Sehnsuchtsort erzählen zu müssen. Was ihn für mich, aber auch ganz objektiv gesehen so besonders macht. Ein Blogpost wird dafür nicht reichen, fürchte ich, aber da müssen wir jetzt durch. Sie und ich, gemeinsam.

Es muss im Sommer 2005 gewesen sein, dass wir den Schaalsee entdeckten. Rein zufällig, aber genau im richtigen Moment, auf der Durchreise, die eigentlich vielleicht doch eher eine Suche war.

Sie kennen den Schaalsee? Nur etwa eine Autostunde von Hamburg entfernt, links neben der Autobahn nach Berlin, erste Abfahrt nach der ehemaligen innerdeutschen Grenze, halb Schleswig-Holstein, halb Mecklenburg-Vorpommern? Einer der schönsten, naturbelassensten Seen Norddeutschlands, den man aber – verdammt noch mal! – so gut wie nie richtig sehen kann, weil er sich hinter Bäumen, Büschen und Gestrüpp verbirgt? Und weil es kaum Wege gibt, die bis an Wasser führen?

Sie kennen den Schaalsee nicht? Das tut mir leid. Andererseits ist das vielleicht auch ganz gut so, denn er ist nicht für große Besuchermengen geeignet und soll ohnehin ein Geheimtipp bleiben.

Damals, also 2005, waren mein damaliger Freund und ich mit dem Auto auf Tour. Wie so oft. Er fuhr einfach gerne in der Gegend herum und ich, die von Ostdeutschland auch 15 Sommer nach der Grenzöffnung noch immer viel zu wenig kannte, fand das großartig. Meistens hatten wir kein besonderes Ziel, sondern fuhren den blauen Flecken am Himmel nach oder einem interessanten Ortsnamen auf einem Wegweiser. Auf diese Weise entdeckten wir großartige Orte und Ortschaften, von denen zumindest ich sonst wohl bis heute noch niemals gehört hätte.

Es war ein wunderbarer, heißer Sommerabend und wir waren schon eine ganze Weile unterwegs gewesen. Erst angetrieben von Entdeckerdrang, mittlerweile eher motiviert von Durst, Hunger und dem Bedürfnis, gemütlich und mit schöner Aussicht im Schatten zu sitzen.

Wir kamen von Norden (vielleicht waren wir an dem Tag an der mecklenburgischen Ostsee gewesen?) und landeten auf der Ostseite des Sees. Was uns aber zunächst gar nicht klar war, denn von einem See war weit und breit nichts zu sehen. Trotzdem war die Gegend wunderschön, romantisch, sparsam besiedelt und nicht gerade von Besuchern überlaufen. Wir fuhren von Ort zu Ort, ohne einen einzigen Supermarkt, Bäckerladen oder Landgasthof zu sehen. Was die Abwesenheit von Besuchern ja durchaus erklären könnte.

Wovon leben die Menschen hier? fragten wir uns. Und antworteten uns selbst: Wahrscheinlich von dem, was in ihrem Garten wächst. Gelegentlich tauschen sie dann mit ihren Nachbarn Rüben gegen Eier.

Hinter der nächsten Ecke, sagte ich mehrmals, hinter der nächsten Ecke, da kommt er: Der Gasthof mit kühlen Getränken und Blick auf den See. Na gut, hinter der übernächsten. Jetzt aber. Gleich, hinter der Kurve da. Irgendwo muss es doch hier was geben, das kann doch alles nicht sein! Und mein Freund immer so, leicht dehydriert und mit irrem Blick: In Ordnung.

Und dann geschah es: Wir fuhren durch eine Ortschaft, die nur aus einer Hauptstraße und einigen kleinen Abzweigen zu bestehen schien, gesäumt von nicht sehr spektakulären Backsteinhäusern und Resthöfen, blumigen Vorgärten, aber immerhin auch einer Schule, einer stillgelegten Meierei und einer langfristig geschlossenen Dorfkneipe. Hundert Meter weiter tatsächlich ein Schild, auf dem was von Biergarten und Seeblick stand. Ein Gasthof! Nicht sonderlich ansehnlich von der Straßenseite aus betrachtet, Feldsteinfundament und grauer Putz, kein Vorgarten, dafür Parkplatz direkt vor der Tür. Links am Haus vorbei führte der Weg zum Biergarten, Bäume waren verschwommen zu sehen, Fahrräder, Autos und irgendwo im Gegenlicht tatsächlich eine Terrasse oder ein Garten. Tische, Menschen, kühle Getränke.

Siehste, rief ich, während ich schon aus dem Auto sprang, mich umschaute und einen kräftigen Zug lauer Sommerluft nahm. Ich wusste doch, dass es hier was geben muss!

Und was es hier gab! Der kurze Weg an dem langgestreckten, etwas angegammelt aussehenden grauen Zweckbau vorbei führte uns in einen auf einem sanft abfallenden Hügel angelegten Biergarten, hinter dem sich grüne Wiesen, Baumreihen und weiter hinten doch tatsächlich blau glitzernde Wasserfläche ausbreiteten. Zu unserer Linken tauchte plötzlich eine kleine Feldsteinkirche auf, die, obwohl nur ein paar Meter vom Gasthof entfernt, hinter den großen Bäumen und einem kleinen Wohnhaus zunächst nicht sichtbar gewesen war. Vor der Kirche, die nicht viel größer zu sein schien als die verlassene Bushaltestelle am Ortseingang, ebenfalls auf sanft abfallendem Grund, ein Friedhof. Ein Friedhof mit sowas von einem Seeblick.

Oh mein Gott, sagte ich, ich ziehe auf diesen Friedhof. Tot oder lebendig.

In Ordnung, sagte mein Freund, aber erstmal trinken wir hier was.

Es gab vielleicht acht oder zehn Tische damals, zwanglos in die Landschaft gestellt. Die Plätze im Schatten des Walnussbaumes waren alle schon belegt, aber neben dem mannshohen Johannisbeerstrauch war noch was frei. Entspannt aussehende Menschen saßen an etwas schiefen Tischen, Kinder spielten auf der saftig aussehenden Wiese davor und eine Kellnerin, die auf dem Weg zwischen Freiluftgaststube und Küche sicher jeden Tag mehr als hundert Kilometer zurücklegte, begrüßte uns freundlich und fragte nach unseren Getränkewünschen.

Wir nahmen Platz und richteten unsere Nasen in Richtung des Sees aus, der hinter Wiesen, Bäumen und Büschen wie verrückt glitzerte und schimmerte. Wir bestellten Getränke und Essen, geschmolzenen Ziegenkäse mit Spinat und Bratkartoffeln, und es schmeckte so köstlich, so unvergesslich, so gut.

Wir sprachen nicht viel, seufzten nur von Zeit zu Zeit behaglich und ließen die Atmosphäre auf uns wirken.

In der Ferne spielten auf einer Wiese plötzlich zwei Füchse. Zwei Füchse. Ich witzelte herum, dass die sich jetzt gegenseitig gute Nacht sagen mussten, weil sie den Hasen dummerweise zum Abendbrot gegessen hatten. War gebannt von der Tatsache, dass da, in vielleicht gerade mal hundert Meter Entfernung, zwei Füchse zu sehen waren.

Nach dem Essen gingen wir hinunter zum See, den kleinen Trampelpfad vom Biergarten aus entlang. Das Ufer war von großen Bäumen so fest umsäumt, dass man das Wasser erst sah, wenn man an der einzigen zugänglichen Stelle direkt davor stand. Ungefähr fünf Meter Sandstrand und ein Holzsteg zum Baden. Klares, kühles Wasser im Abendlicht. Kein Mensch weit und breit. Wenn ich mich nicht schon in den Friedhof verliebt gehabt hätte, hätte ich sicherlich mit meiner Schrankwand auf dem Holzsteg einziehen wollen.

Auf dem Rückweg vom See zum Auto nahmen wir den offiziellen Weg von der Hauptstraße zur Badestelle und kamen nun direkt an der kleinen Dorfkirche vorbei. Diese vereint auf sehr engem Raum die verschiedensten Zeitalter und Baustile sowie Materialien, es gibt Feldsteinmauern aus dem 13. Jahrhundert, eine Ziegelmauer, Holzfassaden und Fachwerk. Den kleinen Turm schmückt ein goldener Wetterhahn auf einer goldenen Kugel. An diesem Abend war die Tür, wie bei evangelischen Kirchen üblich, verschlossen, so dass wir uns mit der Außenansicht begnügen mussten, was aber schon vollkommen ausreichend war. Die Kirche ist auf drei Seiten von hohen Bäumen umgeben, nur in Richtung See sollte natürlich nichts die grandiose Sicht verstellen. In der Tat gehört der kleine Friedhof zu den besten Aussichtspunkten der Gegend. Alles in allem ein komplett magischer Ort, der mich sofort in seinen Bann zog.

Die Sicht, die Luft, das Lebensgefühl – unvergleichlich. Dass uns die Sonne, die sich langsam bereit machte, auf der Westseite des Sees unterzugehen, uns beim meditativen Glotzen auf den See direkt ins Gesicht schien, war egal. Der Abend war verzaubert und wir mit ihm. Wir hatten gefunden, was wir nicht gesucht hatten, und wir wussten, wir würden wieder hierher kommen. Sehr bald wieder und noch sehr oft.

Anmerkung der Redaktion: Wenn Sie den Schaalsee kennen, wissen Sie es: Wir waren in Lassahn, einem Örtchen, das zwar recht eigenständig in der Landschaft liegt, seit einigen Jahren aber zum ebenfalls wunderschönen Städtchen Zarrentin am Schaalsee gehört. Der erwähnte Landgasthof ist der Seeblick Lassahn, der damals noch einen anderen Betreiber und eine andere Speisekarte hatte als heute (ach, „Ziege-Spinat“, wie fehlst du mir!). Dafür hat er inzwischen aber einen Holzpavillon mit Stufen im Biergarten, von dem man wunderbar auf den See und in den Sonnenuntergang glotzen kann. Die Dorfkirche heißt St. Abundus und sieht, soweit ich weiß, noch immer so aus wie 2005. Ich werde demnächst auch noch etwas über ihr Innenleben erzählen. Und weitere spannende Geschichten aus der Geschichte von Lassahn.
Dummerweise hatte ich damals noch kein Smartphone (und keine Kamera, die kaufte ich erst, als die Katzen 2008 bei mir einzogen), so dass ich bei all den vielen Besuchen in den folgenden Jahren leider überhaupt keine Fotos von diesem magischen Ort gemacht habe.

1 Kommentar

  1. Sie wissen sicher, die besten Plätze auf einem Friedhof mit Meer- oder Seeblick bekommen immer die Kapitäne, deswegen findet man oft die Bezeichnung `Kapitänsfriedhof`, also schnell ein Kapitänspatent erwerben und schon ist der Platz mit Blick auf den See kein Problem!
    Ganz ohne Quatsch, unsere Schwägerin fand ihre letzte Ruhe an der Friedhofsmauer mit weitem Blick über Wald und Feld und wir waren uns alle sicher, sie hatte diesen Platz geliebt.

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