Missglücktes Familientreffen und Je mehr man sich etwas wünscht, desto schiefer kann es gehen.

Sicher kennen Sie auch diesen eigentümlichen Hang des Schicksals, manche Dinge, die man sich besonders innig wünscht, einfach nicht geschehen lassen zu wollen. Je mehr wir uns wünschen, einen bestimmten Zustand, eine Zufriedenheit zu erreichen, und je mehr wir darauf hinarbeiten, desto blöder werden die Zu- und Unfälle, die es verhindern. Murphy’s Law, sagen Sie? Stimmt, das hat sicher damit zu tun. Bei uns in der Familie hieß dieses übrigens „Das Prinzip der größtmöglichen Schikane“ und wurde allen Angehörigen, Freunden und Haustieren von frühester Jugend an als Grund fast allen Übels vorgestellt.

Meine Familie ist im Grunde keine Horrorfamilie. Sicher, ein paar kleine Reibereien gibt es immer mal und nicht Mitglieder der Familie alle haben sich untereinander lieb, aber die Familie als Ganzes und vor allem, wenn es darauf ankommt, hat bisher immer funktioniert.

Und so ahnte ich absolut nichts Böses, als mein Vater bei einem unserer ersten Spaziergänge rund um das Hospiz, vorschlug, doch noch einmal ein Essen mit der ganzen Familie zu planen, und zwar in dem nahegelegenen tibetanischen Restaurant, in dem er früher häufiger mit meiner Mutter gewesen war. Schöne Idee, dachte ich und fing gleich an, die Familie für den nächsten Sonntagmittag zusammenzutrommeln.

Erstaunlicherweise sagten alle sofort zu: Mein Freund, meine Mutter, mein Bruder nebst Frau und Tochter. Wir reservierten einen Tisch und freuten uns sehr auf dieses gemeinsame Essen.

Bis mich am Abend vorher, ich war gerade von meinem Vater nach Hause gekommen, meine Mutter anrief. Sie erzählte mir, dass mein Bruder das Essen um eine Stunde auf nunmehr vierzehn Uhr verschoben habe, weil er vorher noch seine Tochter zu einer Geburtstagsfeier bringen müsse. Weil dieser Geburtstag irgendeine spezielle Indoor-Party-Sonstwas-möglicherweise- im-Dunkeln-Geschichte mit festen Zeiten sei, ginge das leider nicht anders.

„Ach“, sagte ich, „und die Einladung kam heute völlig überraschend?“

„Ich weiß nicht“, sagte meine Mutter. „Vielleicht wusste auch nur dein Bruder noch nichts davon, als er das Mittagessen zugesagt hat… Jedenfalls haben wir den Tisch schon umgebucht auf vierzehn Uhr.“

„Toll“, sagte ich. „Und weiß Papa das schon?“

„Ich glaube nicht“, erwiderte meine Mutter, „meinst du, ich sollte ihn heute noch anrufen?“

Ich überlegte kurz. Mein Vater war, was Termine und deren Einhaltung anging, in den letzten Tagen recht pingelig geworden und fühlte sich bei Änderungen und Absagen immer sehr verunsichert.

„Nein“, befand ich dann. „Sag es ihm heute nicht mehr, sonst denkt er die ganze Nacht darüber nach. Ich gehe ja morgen Vormittag sowieso hin, um ihn abzuholen, dann erfährt er es noch früh genug. Wird ihn sicher nicht freuen, auch weil er im Hospiz ja meistens schon um zwölf Mittagessen bekommt.“

Meine Mutter war froh, mir diese Angelegenheit überlassen zu können. Die erste Woche im Hospiz einschließlich ihrer Versuche, dort mit öffentlichen Verkehrsmitteln selbstständig an- und abzureisen, hatte sie schon zur Genüge angestrengt. Außerdem hatte sie den Pan, am Sonntag nach dem Essen mit meinem Vater mal wieder ein therapeutisches Gespräch zu führen. Deswegen waren für diesen Nachmittag keine weiteren Besucher vorgesehen.

Ich stand am Sonntagmorgen um elf bei meinem Vater im Kalender. Der Plan war gewesen, dass mein Freund gegen halb eins dazukäme, um uns bei schlechtem Wetter mit dem Auto zum Restaurant zu bringen und sonst den Rollstuhl zu schieben. Nachdem ich ihn auf halb zwei verlegt hatte, wurde mir klar, dass ich dann volle zweieinhalb Stunden mit meinem Vater, der sicher nicht glücklich über die Terminverschiebung sein würde, allein verbringen durfte. Und das war, bevor das große Familienessen überhaupt begonnen hatte. Hurra.

Am Sonntagmorgen regnete es natürlich. Nicht durchgehend, aber immer mal wieder und dann auch kräftig. Ich kam überpünktlich im Hospiz an und wurde von meinem ungeduldigen Vater schon im Gang erwartet.

„Bettina! Da bist du ja endlich!“ rief er mir entgegen.

„Hallo Papilein“, rief ich zurück. „Da bin ich ja endlich. Bestens in der Zeit!“

„Ich weiß“, sagte er. „Aber ich habe mich doch so auf dich gefreut.“

„Wie schön. Ich freue mich auch. Und du freust dich dann sicher noch mehr, wenn ich dir sage, dass wir noch eine Stunde mehr miteinander haben. Das Essen ist nämlich auf vierzehn Uhr verschoben.“

„Was?“ rief mein Vater. „Warum das denn?“

Ich erklärte so knapp wie möglich: Bruder 1, Schwägerin 1 und Kind 1. Ich vor vollendete Tatsachen gestellt. Alle informiert. Tisch umgebucht auf vierzehn Uhr. Keks dazu?

Mein Vater wollte keinen Keks. Mein Vater war aufgeregt und musste sich bewegen. Ich half ihm, seine Jacke überzuziehen und drückte ihm meinen Schirm in die Hand. Dann schoben wir ab ins Freie. Als wir etwa hundert Meter vor dem Haus waren, brach der nächste Regenschauer los, mein Vater spannte den Schirm auf und wir hasteten zurück ins Hospiz.

Nachdem wir diese Übung etwa drölftausendmal wiederholt hatten, war ich nass und erschöpft, mein Freund kam um die Ecke und die Sonne zwischen den Wolken hervor. Im Hospiz hatte inzwischen das  Mittagessen stattgefunden, natürlich gab es einen schönen Sonntagsbraten und mein Vater saß etwas traurig und sehr hungrig daneben und musste warten. Die Stimmung war bestens oder wie das heißt, wenn man sich am liebsten gar nicht mehr unterhält, weil man Angst hat, dass man dann zu schreien oder zu weinen beginnt.

Wir machten uns umgehend auf den Weg zum Restaurant. Erstens weil gerade die Sonne schien und zweitens weil alles besser war als noch in der Hospiz-Wohnküche zu sitzen, wenn demnächst vermutlich schon der Sonntagnachmittag-Kuchen aufgefahren würde.

Im Gegensatz zu meinem Vater hatte ich nicht gefrühstückt und war jetzt extrem hungrig. Immerhin schien mittlerweile die Sonne und im Restaurant hatte man den besten Tisch für uns vorbereitet. Es war kurz vor zwei und weder meine Mutter noch mein Bruder nebst Frau waren da. Gut, dachten wir, dann bestellen wir eben schon mal ein Getränk und freuen uns einen Moment aufs Essen.

Bis etwa zehn nach zwei war die Vorfreude groß, dann sank sie langsam wie ein angestochener Ballon in sich zusammen. Als um viertel nach zwei Bruder 1 und Schwägerin 1 um die Ecke kamen, war die Stimmung meines Vaters schon wieder umgeschlagen. Er mochte es nicht, wenn man ihn warten ließ, aber das war ja eigentlich nichts Neues. Als nächstes rief meine Mutter an, die zu Hause vor Erschöpfung auf dem Sofa eingeschlafen war und ihre Bahn verpasst hatte, sich nun aber auf dem so gut wie direkten Weg befand.

„Toll“, murmelte ich zu meinem Freund, „wie das wieder alles klappt!“ Und laut zu den anderen: „Wir bestellen dann jetzt schon mal die Vorspeisen, damit wir nicht verhungern!

Noch während wir auf die Vorspeisen warteten, stand mein Vater auf und fing an, im Restaurant auf- und abzulaufen. Wenn er zwischendurch mal am Tisch saß, war er nicht sehr gesprächig und machte auch keinesfalls den Eindruck, als würde er sich gut amüsieren.

Ich unterhielt mich mit meinem Freund und versuchte dabei, meinen Vater aus dem Augenwinkel im Blick zu behalten. Nicht, dass er sich noch heimlich davonmachte oder mal in die Küche ging, um dort nach dem Rechten zu schauen.

Ungefähr in dem Moment, in dem meine Mutter endlich das Restaurant erreichte, sagte Schwägerin 1 halblaut zu meinem Bruder, man müsse nun auch bald gehen, um Kind 1 von der Geburtstagsfeier wieder abzuholen. Das war der Moment, in dem ich beschloss, Schwägerin 1 für den Rest des Tages zu ignorieren. Ich kann es ja zwar nicht verhindern, mich für den Rest der Bande verantwortlich zu fühlen, aber mit der Frau meines Bruders bin ich schließlich nicht verwandt. Und mein Bruder hat durch Heirat mit ihr wenigstens einen Teil seiner Rechte auf Beglucktwerden verwirkt, also ignorierte ich auch ihn.

Das Essen ging weiter, übrigens war es köstlich. Meine Mutter brauchte etwas Zeit, um sich von ihrer Aufregung zu erholen, bevor sie das Essen ein bisschen genießen konnte. Als sie sich dann endlich halbwegs beruhigt hatte, hatte mein Vater schon seinen Hauptgang verschlungen (oder wenigstens einen Teil davon) und wollte zurück ins Hospiz. Dringend. Eigentlich war er schon so gut wie unterwegs.

„Okay“, sagte ich zu meiner Mutter. „Wir bringen jetzt Papa zurück ins Hospiz und du isst in Ruhe zu Ende. Bruder 1 und Schwägerin 1 leisten dir sicher noch so lange Gesellschaft.“

„Aber“, protestierte meine Mutter mit vollem Mund, „ich bin heute Nachmittag mit Papa verabredet. Wir wollen ein Gespräch führen.“

„Ich weiß“, erwiderte ich. „Das könnt ihr ja auch tun. Wir bringen ihn nur zurück und gehen dann sofort nach Hause, sobald du auch da bist.“

Gesagt, getan. Mein Freund schob meinen Vater im Rollstuhl gemütlich zurück ins Hospiz. Die Sonne schien jetzt ganz freundlich, aber meinen Vater hatte keinen Sinn mehr für seine Umwelt oder Gespräche. Er wirkte unzufrieden und etwas geistesabwesend.

Am Hospiz angekommen, entschieden wir, uns auf die Terrasse vor dem Haus zu setzen und auf den Rest der Familie zu warten. Mein Freund und ich waren satt und recht erschöpft, mein Vater hingegen wirkte wie angestochen. Er konnte nicht im Rollstuhl sitzen, nicht auf einem Gartenstuhl, er musste aufstehen und eine Runde um den Tisch drehen. Wieder hinsetzen, kurz in sich zusammensinken, mit den Hufen scharren, sich wieder hochstemmen und noch eine Runde drehen. Und von vorne. Und noch einmal.

Es dauerte, bis meine Mutter, mein Bruder und Schwägerin 1 endlich auftauchten. Wir saßen noch immer vor dem Haus, aber inzwischen hatte sich Frau S., die großartige Sozialpädagogin, zu uns gesetzt, die meinen Vater durch Berührungen und vorsichtiges Befragen zu seiner Unruhe tatsächlich ein bisschen aus seiner Zurückgezogenheit gelockt hatte. Meine Mutter kapierte das zunächst gar nicht, sie fuhr an diesem Tag irgendwie komplett ihren eigenen Film und wollte, nachdem sie ja schon so viel Zeit verloren hatte, weil sie nach dem Essen nicht in die Gänge gekommen war, nun sofort mit meinem Vater aufs Zimmer. Und offenbar auch diese fremde Therapeutin abschütteln, die sie nicht bestellt hatte. Erst langsam merkte sie, dass die fremde Therapeutin meinem Vater offensichtlich gut tat, so dass das therapeutische Gespräch dann ein flotter Dreier wurde.

Als mein Freund und ich ungefähr vierzig Millionen Jahre später als geplant endlich im Auto saßen, war ich total kaputt und wieder einmal in meiner Annahme bestätigt, dass ich mich als Entenmutter oder Hütehund eigentlich überhaupt nicht eignete. Trotzdem fühlte ich mich wie immer dafür verantwortlich, eine Gruppe zusammenzuhalten und sicherzustellen, dass sich alle gut amüsierten. Das hatte ja auch heute mal wieder wunderbar nicht funktioniert.

Später, viel später würde mir klar, dass es vermutlich gar nicht Murphys größtmögliche Schikane gewesen war, die dieses Mittagessen so schwierig gemacht hatte. Jedenfalls nicht, was die Tatsache betraf, dass mein Vater sich zwar sehr auf dieses Familientreffen gefreut hatte, es dann aber gar nicht genießen konnte. Ihm muss bei dieser Gelegenheit – und zwar viel mehr als bei unseren normalen Besuchen und Unternehmungen – sehr deutlich geworden sein, dass er zwar noch mit uns in ein Restaurant gehen konnte, aber eigentlich nicht mehr richtig zur Gruppe gehörte. Zur Gruppe derer, die noch ein Leben führten und eine Perspektive über dieses Mittagessen hinaus hatten. Dass er diese Zugehörigkeit auch nicht vortäuschen konnte oder wollte.

Mein Vater war auf einem Weg, den er trotz aller Liebe und Bereitschaft seiner Umwelt, ihn zu begleiten, letztendlich alleine gehen musste. Er hatte ja schon vor Wochen seinen Abschied von den Dingen in seinem Leben genommen; auf die Palliativstation und ins Hospiz hatten ihn nur praktische Gegenstände des täglichen Bedarfs begleitet, keine Fotos, keine Erinnerungen, keine Bücher, keine Musik. Die Menschen in seinem Leben, die bedeuteten ihm mehr als jemals zuvor – aber so geballt und mit der Erwartung, gemeinsam eine gute Zeit zu verbringen, überforderten ihn auch die Menschen. Diese Erkenntnis kam für ihn selbst sicherlich überraschend und ich vermute, dass sie ihn auch sehr traurig machte bzw. ein Gefühl der Einsamkeit in ihm hervorrief, von dem er sich in dem Moment nicht befreien konnte.

Ich war an diesem Abend auch sehr traurig. Wie gesagt, ich konnte die Ereignisse damals noch nicht so benennen und einordnen wie heute, das ist in der Nachschau sehr viel einfacher. Schließlich begleitete ich zum ersten Mal einen Menschen in dieser letzten Phase des Lebens und mein Vater wusste ja selbst oft nicht, was da mit ihm geschah. Er hatte es nicht vorhersehen können, dass gerade ein eigentlich schönes Ereignis ihn so runterziehen und auf sich selbst zurückwerfen würde. Hätte ich, hätten wir es ahnen können oder gar müssen? Aber woher denn? Ich kam zu dem Schluss, dass keiner von uns sich etwas vorzuwerfen hatte. Aber traurig war ich trotzdem. Sehr traurig.

 

Ich fasste an diesem Abend den Entschluss, von mir aus keine größere Aktivität bei meinem Vater mehr anzuregen. Wir konnten ihn mit solchen Angeboten nicht mehr ins Leben zurückholen. Und schließlich besaß ich die Fähigkeit (und mir wurde klarer und klarer, dass das eine sehr wichtige Fähigkeit ist), Dinge und Situationen auszuhalten, sie nicht ändern zu müssen und weder mich noch andere, vor allem meinen Vater, unter Druck zu setzen. Ich konnte einfach bei ihm sein, für ihn da sein und mit ihm zusammen aushalten, dass es nichts mehr zu tun gab. Dass er sich im Sterbeprozess befand und eines Tages – bald! – von dieser Welt gehen würde. Dass er das selbst und allein tun musste. Dass es ihm dafür egal sein musste, wie es mir ging. Letztendlich. Dass ich ihm aber sehr wohl sagen konnte, dass es mir gut ging und dass ich weiterleben würde. Auch ohne ihn. Dass er keine Rücksicht mehr nehmen musste, auf niemanden. Weil er sterben würde. Alleine. Ob wir nun dabei waren oder nicht. Es war sein Leben und es war sein Sterben.

 

 

 

 

 

1 Kommentar

  1. „Ich konnte einfach bei ihm sein, für ihn da sein und mit ihm zusammen aushalten, dass es nichts mehr zu tun gab…“

    Ich bin schwer beeindruckt, von Dir!
    Du hilfst mir mit Deinen tollen Texten ungemein, mich und meine Empfindungen, während des Sterbens meiner Ma etwas zu reflektieren.
    Dankeschön.
    Liebe Grüße,
    Jule

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