Plötzlich und unerwartet. (Für A.)

Der Tag, an dem du plötzlich tot bist. Ich spüre es gleich, als du nicht wie erwartet im Büro sitzt, an diesem Samstag, an dem du alleine den Wochenenddienst bestreiten solltest. Eigentlich schon kurz vorher, als ich von unterwegs bei dir anrufen will und fragen, was du vom Bäcker möchtest. Das Telefon klingelt eine Weile in deinem leeren Büro und ich stehe auf der Straße und fühle mich plötzlich beklommen. Sehr beklommen.

Der Tag, an dem du plötzlich tot bist. Nach einem Feierabenddrink zu zweit, der doch erst zwölf Stunden zurückliegt.

Der Tag, an dem du plötzlich tot bist. Der Tag, an dem wir dich zu erreichen und zu finden versuchen. An dem dein herbeitelefonierter Chef und ich erst den Bürodienst erledigen (am Theater muss die Show immer weitergehen) und eine dritte Kollegin bei dir an die Haustür hämmert und mit dem Fahrrad deinen Heimweg von gestern abfährt.

Der Tag, an dem du plötzlich tot bist. Wir fragen bei der Polizei, ob sie dort irgendwas wissen. Man prüft ein paar Datenbanken, kann sonst nicht viel tun und empfiehlt uns, irgendwie in dein Haus zu kommen, jemanden mit einem Schlüssel zu finden.

Der Tag, an dem du plötzlich tot bist. Wir sind nun zu dritt, es ist früher Nachmittag. Wir stehen vor dem Haus, in dem du wohnst und nun tot liegst, und kommen nicht rein. Bis wir einen Hausmeister finden, vergehen Ewigkeiten. Der Hausmeister hat keinen Schlüssel für deine Wohnung. Im Keller steht dein Fahrrad. Uns allen dreien geht der Arsch auf Grundeis, aber wir funktionieren und sprechen weiter mit den Menschen, mit dem Hausmeister, mit der Nachbarin. Mit der Nachbarin, deren Balkon vor deinem Schlafzimmerfenster liegt. Die Rollos sind unten, wie immer, aber eine von uns hat die gute Idee, dich von hier aus anzurufen.

Der Tag, an dem du plötzlich tot bist. Der Tag, an dem wir auf dem Balkon deiner Nachbarin stehen und im Schlafzimmer dein Telefon klingeln hören. Unseren Anruf. Dich hören wir nicht, denn du bist tot. Nur dein Klingelton ist da, ganz nah. Wir schlagen nicht die Scheibe ein. Wir rufen die Polizei an. Mein Kollege erklärt sachlich und klar, was bisher geschah. Was wir befürchten. Die Polizei kommt.

Der Tag, an dem du plötzlich tot bist. Der Tag, an dem wir wortlos im Treppenhaus warten, während Polizei und Feuerwehr deine Wohnungstür öffnen, deine Wohnung betreten und dich finden. Tot. Der Tag, an dem ein Polizeibeamter aus der Wohnung tritt und uns bestätigt, was wir doch schon wissen: „Ihre Kollegin ist heute Nacht verstorben.“

Der Tag, an dem du plötzlich tot bist. Wir sitzen vor deiner Tür, die Polizei ist wieder gegangen. Du liegst drinnen, tot. Wir haben nichts mehr zu sagen, aber einfach gehen können wir auch nicht. Ich bin wie erschlagen und fühle weder meinen Körper noch irgendetwas anderes. Du bist tot. Ganz plötzlich. Unwiederbringlich und für immer. Wir stehen vor deiner Tür und versuchen, dich zu spüren. Wenigstens verabschieden wollen wir dich, aber du bist ja schon fort.

 

 


 

Dieser Text hat eine lange Zeit in meinem Kopf und meinen Entwürfen festgesteckt. Erst jetzt, anlässlich des fünften Jahrestages, bin ich wirklich bereit, ihn zu teilen. Mit Menschen aus meinem sogenannten wirklichen Leben und Menschen aus dem Internet. Ich brauchte, um an diesen Punkt zu kommen, viel Abstand und erneutes Annähern, viel Denken, Sprechen, Schreiben an und über den Tod.

A. wurde nur 38 Jahre alt. Sie starb an einem rupturierten Aortenaneurysma. Sie fehlt vielen Menschen. Sehr.

Der Tag, an dem A. starb,  ist mir heute noch so präsent wie damals. Er hat mich bewegt und geprägt, ebenso wie A. selbst in der Zeit, die ich mit ihr verbringen durfte. Die beiden Kollegen, die mit mir auf der Suche nach A. waren, und mich wird er für immer verbinden – auf eine traurige und doch gute Weise. 

11 Kommentare

  1. Hat dies auf ilseluise rebloggt und kommentierte:
    Danke für Deine berührenden und nahegehenden Erinnerungen, sehr präsent!, wirklich, ich lese Deine Worte und es ist, als wäre ich dabei gewesen. Du lässt mich teilhaben an Deiner Verstörung und Trauer. danke.

  2. Seit mein Mann vor zwei Jahren – ebenso plötzlich und unerwartet und aus dem Nichts heraus – eines Morgens nicht mehr aufgewacht ist, habe ich mit vielen Menschen gesprochen, die Ähnliches durchgemacht haben. Aber schon in meinen jungen Jahren habe ich Vergleichbares erlebt: Die Schwester meines Schwagers, damals Anfang 20, wachte eines Morgens ebenfalls nicht mehr auf, einfach so. Ihre Eltern haben es bis zu ihrem Tod nicht wirklich verarbeiten können. Vielleicht sollten wir uns öfter bewusst machen, dass es nichts Erwartbareres gibt als den Tod. Er trifft uns alle irgendwann, mit einer Wahrscheinlichkeit von 100 Prozent. Und ob es besser ist, vorher jahrelang pflegebedürftig zu sein, erscheint zumindest zweifelhaft. Manchmal ist es schwer zu beten „dein Wille geschehe“, und doch hilft letztlich nur das.

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