Sechste Woche im Homeoffice: Meanwhile at the Hospiz.

Am Freitag ist für mich wieder eine Begleitung im Hospiz zu Ende gegangen. Im Grunde und offiziell war sie schon etwas länger beendet, aber irgendwie auch nicht. Denn meine Gästin war noch da, sie wollte nur keinen Besuch mehr.

Das war ein eigenartiges Gefühl: Zu wissen, da war diese Frau, mit der ich noch vor wenigen Tagen so angeregte Gespräche geführt hatte und der meine Besuche nie ausführlich genug sein konnten, und nun wollte sie mich nicht und auch sonst niemanden mehr sehen.

Ich hatte Frau X seit Anfang Februar besucht, also über sechs Wochen lang, trotz der beginnenden Corona-Krise und der damit aufkommenden Fragestellungen. Zweimal in der Woche fuhr ich zu ihr und sie erzählte mir aus ihrem nicht sehr spektakulären, aber doch sehr bewegten Leben.

Frau X stammte aus Ghana, lebte aber seit über zwanzig Jahren in Deutschland. Sie sprach gut Deutsch und Englisch, beides mit starkem Akzent, in den man sich erst eingrooven musste. Sie war nur ein paar Jahre älter als ich und hatte sich wohl zu spät und zu wenig um ihre Krebserkrankung gekümmert. Weil sie zu viel zu erledigen hatte. Sie arbeitete als Putzfrau, verdiente nicht viel und gab alles, um ihrem Sohn den Start in ein besseres Leben zu verschaffen. Was ihr, so wie sie die Geschichte erzählte, wohl immerhin gelungen war.

Sie hatte einen starken Glauben, auch wenn sie hier in Deutschland keine Kirche fand, in der sie Mitglied hätte werden mögen. Ihr Gott war einer, der seinen Kindern Prüfungen auferlegt, der sie vor schwierige bzw. unlösbare Aufgaben stellt und erwartet, dass sie daran wachsen. Ein Gott, der offenbar wenig Antworten auf drängende oder Zeichen seiner Liebe schickt. Ein Gott, der die Schraube nach und nach fester anzieht, so kam es mir manchmal vor.
Ihre Schmerzen, ihre zunehmende Schwäche sah sie als Prüfungen. Keine Prüfungen, die man bestehen konnte, offenbar. Nur aushalten. Ausharren. Warten. Nicht mehr fragen: Warum? Einfach nur warten.

Sie erzählte viel und gern aus ihrem Leben in Ghana und in Deutschland. Ein Leben, in dem Armut und Gewalt an der Tagesordnung waren. Gewalt vor allem gegen Frauen, von ihren Vätern und ihren Männern, von Freunden und Fremden. Ein Leben, bestimmt von Arbeit, Mühe und Armut – obwohl ihre Familie von königlichem Geblüt und im Grunde genommen reich war. Ein Leben, in dem die kleinen Freuden von großer Wichtigkeit waren, weil es große Freuden wohl nicht allzu oft gab.

Fast immer, wenn ich am späten Nachmittag bei ihr saß, kam der Abendbrotdienst ins Zimmer und sie bestellte: Eine Scheibe Schwarzbrot, keine Butter, keine Margarine, mit Käse, am liebsten Gouda. Und ein Bier. Sie aß nicht mehr viel, aber wir sprachen gerne über Essen. Über Fufu, Maniok, Süßkartoffeln, Reis, Kaffee, Kakao, Mais, Tomaten, Kochbananen. Und darüber, was sie am liebsten mochte: Ente mit Rotkohl und Salzkartoffeln.

Außer mir besuchte sie nur unsere Koordinatorin, mit der sie auch ein enges Verhältnis aufbaute. Sie genoss es so sehr, dass wir für sie da waren (vor allem, dass ich nur ihretwegen überhaupt kam) und war der festen Überzeugung, wir seien von Gott gesandt.

Gottgesandt, so so. Wir machten das, was erwachsene, reife Frauen mit so einem Kompliment eben machen: Wir kicherten ein bisschen und waren im Übrigen ziemlich stolz darauf.

Unsere gemütliche Routine wurde unterbrochen, als ich plötzlich zum Corona-Kontakt zweiten Grades wurde und vorübergehend nicht mehr ins Hospiz kommen durfte. Als ich mich dann nach symptomfreien zwei Wochen bei unserer Koordinatorin zurückmeldete, erfuhr ich, dass Frau X keinen Besuch mehr wünschte. Jedenfalls keinen, der einen Mundschutz trug und zwei Meter Abstand halten musste. Was ja inzwischen behördllich angeordnet war. Auch unsere Koordinatorin, die natürlich noch viel mehr Zeit mit Frau X verbracht hatte als ich, durfte plötzlich nicht mehr ins Zimmer. Offenbar wurde der bisher ja schon nicht sehr zugängliche Gott noch prüfender und erlaubte Frau X keine Gespräche mehr oder gar Ablenkung.

Ich bedauerte diesen plötzlichen Bruch in der Begleitung sehr und vermisste Frau X Und unsere Gespräche. Aber ich konnte nichts tun außer vielleicht freundliche Gedanken senden.

Ich freute mich sehr, als mir unsere Koordinatorin wieder ein paar Tage später berichtete, dass sie nun doch wieder bei Frau X sitzen durfte und mir sogar Grüße übermitteln sollte. Besuch von mir wollte sie aber weiterhin nicht – sie hatte Sorge, dass ich mich auf dem Weg mit Corona anstecke und sie dann die Schuld hätte. Ließ sich auch nicht vom Gegenteil überzeugen. Sie wurde schwächer und vielleicht etwas weicher, aber ihre einmal gefasste Meinung ließ sie sich bis zum Schluss nicht ausreden.

Scheiß-Corona. Zu jeder anderen Zeit wäre ich doch einfach ins Hospiz gegangen und hätte meinen Kopf ins Zimmer gehalten. So schickte ich nur herzliche Grüße wieder zurück. Und hörte alle paar Tage, dass Frau X immer schwächer wurde und nicht mehr essen mochte. Dass sie wartete und hoffte und betete, dass ihr Gott sich nun endlich erbarmen möge. Unsere Koordinatorin saß bei ihr, wann immer sie konnte und nicht aus dem Zimmer geschickt wurde.

Am Donnerstag dieser Woche nun war ich ohnehin im Büro, druckte mir eine Briefmarke und schrieb Frau X eine Postkarte, die ich abends noch in den Briefkasten steckte.

Vorgestern, am Freitagabend, rief mich eine Kollegin der Pflege an. Sie wisse, dass meine Begleitung eigentlich beendet gewesen sei, wolle mich aber trotzdem darüber informieren, dass Frau X am Nachmittag gestorben sei. Sie sei bei ihr gewesen (unsere Koordinatorin hatte blöderweise an dem Tag frei) und habe ihr meine Karte vorher noch vorgelesen. Es habe keine sichtbare Reaktion mehr von Frau X gegeben, aber das sei ja auch egal. Da war ich ihrer Meinung. Ich hatte mich verabschiedet. Nur mit einer schnöden Karte und wenigen warmen Worten, aber ein Stückchen von mir war noch einmal bei ihr kurz gewesen vor ihrem Tod. Die Pflegekollegin fand das schön und ich auch.

1 Kommentar

Schreibe einen Kommentar zu creezy Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.