Es ist noch hell draußen, als ich am Silvesternachmittag im Hospiz eintreffe. Um 16 Uhr sind wir, die ehrenamtliche Silvestertruppe, zum Schnittchenschmieren bestellt. Jetzt ist es kurz vor halb vier, denn ich will vorher noch meinen Gast besuchen.
Im Gepäck habe ich außer meinem berühmten veganen Nudelsalat mit Asiatouch (der besser schmeckt als er klingt) noch zehn Schachteln Zigaretten für meinen Gast. Um diese zu besorgen, musste ich morgens doch noch aus dem Haus, obwohl ich das eigentlich nicht vorgehabt hatte, und dann auch noch zu Lidl. Dort kaufe ich normalerweise nie ein, ich mag keine Discounter und es gibt auch keinen Lidl bei mir im Stadtteil. Aber mein Gast raucht eine Lidl-Eigenmarke und gegen jahrhundertelange Gewohnheiten bin ich natürlich machtlos. Und heute Morgen ist ihm eingefallen, dass er für den Jahreswechsel unbedingt noch Rauchwaren braucht. Ich war also fluchend und motzend und mit vielen anderen Menschen am Silvestermorgen bei Lidl, juhu. Außerdem habe ich für meinen Gast noch – mit leichter Verspätung, aber ich war in den letzten Tagen erkältet und wollte keine Ansteckung riskieren – ein Foto von Katze 1 und Katze 2 dabei. Mit Weihnachtsmützen.
Ich deponiere den Nudelsalat im Wohnküchen-Kühlschrank und gehe zunächst zu meinem Gast. Der freut sich. Über mich, über die Zigaretten und am allermeisten über das Katzenfoto. Er hat schon eins, das ich ihm vor drei Wochen zum Geburtstag mitgebracht habe – und er versicherte mir, dass das das schönste Geschenk seit langem sei. Das Foto, auf dem Katze 1 und Katze 2 mit (fotomontierten) Mützen wie zwei Kastenbrote auf dem Sofa sitzen, findet er jetzt natürlich auch ganz allerliebst. Er stellt es sich so auf die Fensterbank, dass er es von seinem Sessel aus immer anschaut, ohne den Kopf drehen zu müssen, und redet mit den Katzen. Ausführlich und sehr vertraut. Okay, denke ich, dann kann ich auch Schnittchen schmieren gehen. Mein Gast hat versprochen, heute auch mal zum Essen in die Küche zu kommen, also werden wir uns später sowieso noch sehen.
In der Wohnküche im zweiten Stock treffe ich die zwei anderen Ehrenamtlichen und die hauptamtliche Kollegin, mit der zusammen wir heute die mobile Silvestertruppe bilden. Wir bauen zunächst ein bisschen um, wobei die Frage, wie man einen Tisch für zwanzig Personen, davon mehrere mit Rollator oder Rollstuhl, in die nicht allzu große Wohnküche bekommt, ohne damit die Tür zu barrikadieren, etwas Zeit und Ausprobieren braucht. Eine ideale Lösung gibt es offenbar nicht, es ist eng, die Tür ist auf jeden Fall im Weg und wahrscheinlich auch der eine oder andere Stuhl. Egal. Es wird schon irgendwie passen.
Umfragen des Pflegepersonals bei den Hospizgästen und ihren Angehörigen haben ergeben, dass ungefähr zwanzig Menschen gegen 18 Uhr zumEssen in die Küche kommen werden. Einige andere bleiben lieber in ihren Zimmern, freuen sich aber über den Besuch des „Partywagens“ mit einer Auswahl unserer erlesenen und kreativ dekorierten Schnittchen.
Wir machen uns ans Werk. Ganz wichtig ist es natürlich, in dieser Umgebung immer mit bestens gewaschenen und desinfizierten Händen tätig zu werden und Brotbelag etc. am besten nur mit Handschuhen anzufassen. Daran erinnern wir uns gegenseitig immer wieder.
Obwohl wir zügig arbeiten, vergeht die Zeit wie im Fluge und bevor wir richtig Zeit haben, uns darüber abzusprechen, wer jetzt eigentlich was macht und warum, ist es schon kurz vor sechs und die ersten Gäste stehen vor der Tür. Ein lustiges Spiel, so ähnlich wie die Reise nach Jerusalem, nur irgendwie anders, entspinnt sich: Für jeden Gast, der durch die Tür kommt und sich einen Platz an der langen Tafel sucht, müssen drei Stühle und zwei Menschen bewegt werden. Mindestens. Sobald ein Rollstuhl mit von der Partie ist, eher fünf Stühle und vier Menschen. Und die Tür. Ein Riesenspaß. Die Kollegen schaffen es gerade noch, den prächtigen Partywagen auf den Flur zu ziehen, bevor er gänzlich zugeparkt wird.
Die Gäste und ihre Angehörigen sind erwartungsvoll und guter Stimmung, die meisten haben sich sogar festlich angezogen. Ich verteile Erstgetränke und bemühe mich darum, jeden Eintretenden freundlich zu begrüßen. Außer meinem Gast kenne ich zwar noch niemanden, aber das wird sich im Laufe des Abends ja vielleicht ändern. Es kommen Einzelpersonen und Paare – und manchmal dauert es etwas, bis mir klar ist, wer bei einem Paar jetzt der Hospizgast ist und wer der Angehörige. Wobei das eigentlich egal ist, sie sind alle eingeladen und herzlich willkommen. Eine angehörige Dame, so stelle ich später fest, kommt im Laufe des Abends sogar mehrmals alleine vorbei: Ihr Mann in seinem Zimmer schläft offenbar tief und fest und ihr ist langweilig.
Mir ist nicht langweilig. Noch immer kommen Gäste, die einen Platz am Tisch finden möchten. Wir bauen fröhlich um, tragen Stühle und Rollatoren hin und her, bis endlich alle sitzen. Die Stimmung ist gut, sogar ein bisschen erwartungsvoll. Schnell wird mir klar: Die Umstände sind jetzt gerade mal egal, hier wird das Leben gefeiert.
Die Schnittchen und der Nudelsalat werden gerne gegessen und auch das Waldbeeren-Tiramisu meiner ehrenamtlichen Kollegin findet großen Anklang. Sekt und Wein, Apfelsaft und Wasser gehen ebenfalls gut weg. Es wird fröhlich geplaudert und gelacht, während wir den Fernseher in Stellung bringen.Um zwanzig vor acht gibt es Dinner for one, das ist doch eine gute Zeit. Mit großem Hallo werden Miss Sophie und Butler James begrüßt. Wie immer sitzen Menschen am Tisch, die den ganzen Sketch auswendig mitsprechen können, und welche, die ihn offenbar noch nie gesehen haben. Der Austausch der beiden Fraktionen ist ziemlich lustig.
Nachdem Sophie und James sich – „I’ll do my very best!“ – ins obere Stockwerk zurückgezogen haben, verlassen uns auch die ersten Gäste wieder. Zwei Stunden in der Wohnküche mit so vielen Leuten sind ja auch nicht unanstrengend. Ein harter Kern aus zwei Paaren, zwei einzelnen Damen und einem Herrn bleibt uns aber erhalten. Nachdem bei den meisten nun der Hunger gestillt ist, haben wir Zeit, uns auch dauerhaft mit an den Tisch zu setzen und an den Gesprächen zu beteiligen.
Auf dem Balkon vor der Wohnküche bringt währenddessen ein Kollege die ersten Feuerwerksraketen in Stellung. Sehr charmant erklärt er den Anwesenden, dass wir hier und jetzt ihre persönliche Rakete in den Himmel steigen lassen – sofern sie dies wollen. Nach und nach gehen alle Anwesenden mit ihm auf dem Balkon und beobachten den Abflug ihrer vorher ausgewählten persönlichen Rakete. Der weitere Verlauf bzw. die Flugkurve bleibt dann meistens unklar, weil der Wind so steht, dass die Flugkörper sofort über und hinter dem Haus verschwinden. Egal.
Ich bin kein Freund von Feuerwerk und würde mir persönlich nicht einmal Wunderkerzen kaufen, geschweige denn Rakete widmen lassen. Die Freude der Hospizgäste allerdings über diese kleine Aktion ist bedeutsam und anrührend, das steht mal fest.
Als nächstes steht Wachsgießen, der legale Nachfolger des Bleigießens, auf dem Programm. Das Wachs brennt auf dem Löffel, es ist ein bisschen wie einen wildgewordenen Nachtisch zu flambieren, und zum Schluss fischt man dann etwas aus dem Wasser, das aussieht wie zersplitterte Kuhfladen und sich auf gar keinen Fall mit den angeblich gießbaren Figuren auf der Packung in Verbindung bringen lässt. Auch hier erschließt sich mir der Sinn nicht, aber wer bin ich schon, etwas gegen liebgewordene Rituale und Traditionen zu sagen?
Gegen zehn ziehen sich dann nach und nach auch die letzten Gäste in die Privatheit ihrer Zimmer zurück und wir räumen auf. Nicht ab, denn vielleicht kommt ja noch jemand vorbei. Aber wir bauen die lange Tafel ab und die normale Esstischgruppe wieder auf, richten das noch vorhandene Essen auf der Kücheninsel an und starten die erste Spülmaschine voller Gläser. Es geht sehr entspannt zu und gemütlich. Gerne würde ich jetzt ein Glas Wein trinken, aber ich kenne mich: Wenn ich nicht um Mitternacht schlafend unterm Tisch liegen will, bleibe ich besser beim Wasser. Hunger habe ich auch noch, aber die wenigen Käseschnittchen habe ich schon alle gegessen und nun gibt es nur noch Wurstbrote. Nun ja.
Zwischen elf und zwölf sitzt dann unsere Silvestertruppe zusammen mit den beiden diensthabenden Pflegerinnen gemütlich zusammen. Wir trinken, plaudern und spielen ein Spiel, wo jeder eine Frage aus dem Hut ziehen und dann beantworten muss. Nicht sehr ernsthaft, aber konzentriert genug, um interessant zu sein. Ab und zu kommt die einsame Ehefrau des noch immer schlafenden Gastes vorbei und sitzt ein paar Minuten bei uns. Für mehr fehlt ihr die Ruhe. Ansonsten ist alles ruhig, während draußen die Intensität des Feuerwerks allmählich zunimmt.
Wir befinden uns übrigens in einem Hospiz, das zwischen einer Kirche und einem Seniorenheim steht. In der Nähe all dieser Einrichtungen wäre im Prinzip die Silvesterknallerei verboten, aber das scheint niemanden außer mir zu stören. Nun ja. Über meine Catcam beobachte ich Katze 1 und Katze 2, die – gänzlich unerschrocken – in unserem Wohnzimmer sitzen und ihre eigene Silvesterparty feiern. Sie verschwinden nicht mal um Mitternacht, als der Lärm seinen Höhepunkt erreicht, aus dem Blickfeld. Ich bin sehr froh, dass sie so entspannt bleiben.
Wir stoßen um Mitternacht miteinander an und tauschen gute Wünsche aus. Die beiden Pflegekräfte machen eine Runde durch die Zimmer und bieten all denen, die mehr oder weniger freiwillig wach sind, Sekt an. Die Stimmung scheint gut zu sein, aber es kommt niemand mehr zu uns in die Küche. Was mir auch recht ist, denn inzwischen bin ich ganz schön müde. Von mir aus darf die Party jetzt langsam auslaufen. Zufrieden bin ich auch. Ich habe mich den ganzen Abend über wohlgefühlt und noch dazu das Gefühl, etwas halbwegs Sinnvolles gemacht zu haben.
Kurz vor eins stehe ich auf der Straße und finde sogar sofort ein Taxi. Hurra. Zu Hause warten zwei hungrige und ansonsten völlig unbeeindruckte Katzen auf mich. Leider habe ich kein Brot mehr, das habe ich bei der überstürzten Lidl-Einkaufsaktion blöderweise vergessen. Ich liege schon hungrig im Bett, als mir einfällt, dass sich im Kühlschrank ja noch ein Rest des Nudelsalats befindet, der nicht mehr in die Transportschüssel passte. Halleluja. Das Jahr fängt besser an als erwartet: Mit Nudelsalat auf der Bettkante gegen halb zwei am Neujahrsmorgen. Happy Happy.
Das schien für alle Beteiligten ein gelungener Abend gewesen zu sein.
Vielleicht ist für die Zukunft das #Neujahrsklecksen von @rot_grad ja eine sinnvolle Alternative zum Wachsgiessen…
Noch ungefährlicher und genauso lustig und orakelig!
Ach so. Ganz tolles Text übrigens, hat mich sehr berührt!
Vielen Dank! Neujahrsklecksen ist sicher lustiger, ich werde es vorschlagen.
Super Engagement deinerseits und ein schöner Text!
Danke dir für die tollen Anregungen. Ich arbeite seit einem halben Jahr im Hospiz (das wurde erst im Juli eröffnet) und entsprechend mager sind meine/unsere Erfahrungen mit solchen besonderen Situationen. Der Kreis ist auch deutlich kleiner. Von unseren 8 Gästen können maximal 4 an den Tisch kommen, evtl. noch einer mit dem Bett ranfahren. So viel Platz ist Luxus, gell?
Jedenfalls kann ich mir jetzt einen Plan machen. Die Schnittchen und das persönliche Feuerwerk sind schon mal in die nächste Runde gekommen 🙂
Lieben Dank dafür und auch lieben Dank für dein Engagement im Hospizdienst. Solche Menschen gibt’s leider viel zu wenig.