So hat Lotti sich das gedacht

„So, Lotti“, murmelte Leo, als sie sich gemütlich in ihrem Strandkorb auf der Fensterbank einmummelte, während der Regen, heute wieder von der Seite kommend, gegen die Scheibe klatschte, „dann wollen wir doch mal sehen, was du dir bei dieser ganzen Sache gedacht hast.“

Vorsichtig entfaltete sie das Papierbriefchen, das sie nun schon seit fast zwei Tagen in ihrer Bauchtasche mit sich herumtrug, immer in Erwartung eines ruhigen Moments, in dem ihr Mitbewohner Fritte garantiert anderweitig beschäftigt oder weggesperrt war. Am besten beides. Das war nun endlich mal der Fall: Da Fritte sich vor dem Abendessen mal wieder sehr aufdringlich und unverschämt benommen hatte, sowohl Leo wie auch der dicken freundlichen Frau gegenüber, hatte keine von ihnen es nach dem Abendessen eilig, ihn wiederzusehen. Und so durfte er sich nun noch ein Weilchen hinter verschlossener Tür im Wohnzimmer mit seinem Fummelbrett beschäftigen oder fernsehen oder ein Nickerchen machen, während die dicke freundliche Frau sich in der Küche ihr eigenes Essen zubereitete und Leo es sich in ihrem Strandkorb bequem machte. Dass die Frau in der Küche war, fand Leo ganz gut. Nicht dass sie ihr nicht vertraute, aber sie wollte doch erst einmal alleine lesen, was Lotti ihr geschrieben hatte.

Während sie das leicht zerknüllte Papier glattstrich und sich zum wiederholten Mal fragte, ob sie langsam eine Lesebrille brauchte, ihre Schwierigkeit, die etwas krakelige Handschrift ihrer Schwester Lotti zu lesen, dann aber doch auf die einsetzende Dämmerung und die Regenwolken draußen schob, versicherte sich Leo noch einmal selbst, dass sie sich stark genug für die geheimnisvolle Nachricht fühlte, egal was drinstand. Sie wollte und würde erfahren, was Lotti sich in Sachen Weltherrschaft vorgestellt hatte und auch, welche Rolle sie ihr, Leo, bei der Umsetzung ihrer Wünsche zugedacht hatte. Sie würde sich gut überlegen, ob sie die Wünsche ihrer Schwester in die Tat umsetzen konnte und wollte – oder ob sie einen eigenen Plan machen musste. Dass sie sich gerade ziemlich verantwortlich dafür fühlte, dass die Weltherrschaft in die richtigen Hände gelangte, das war eine Tatsache, der sie sich nicht entziehen konnte, ob sie nun wollte oder nicht. Schließlich war Fritti keine Option für eine verantwortungsvolle Verwaltung der Weltherrschaft und die dicke freundliche Frau auch nur begrenzt zu gebrauchen: Menschen und die Weltherrschaft, dass das keine gute Kombi ist, das war inzwischen ja wohl eindeutig geklärt.

„Liebe Leo“, las sie etwas mühsam, „wenn du dies liest, dann bin ich wahrscheinlich schon ein Weilchen tot. Du hast ein paar Tränchen verdrückt und wieder getrocknet und vermutlich eine nette neue Katze als Gesellschafterin engagieren können, die mich natürlich niemals ersetzen kann, mit der du aber hoffentlich trotzdem Spaß hast. Kommen wir also zum Wesentlichen: der Weltherrschaft, die Jette mir – warum auch immer! – hinterlassen hat. Ich fand sie ja erst ganz lustig, weil ich beim Pizzabestellen immer bevorzugt behandelt wurde damit, aber seit ich erfahren habe, dass ich die Pizza trotzdem bezahlen muss, bin ich zu dem Entschluss gekommen, dass die Weltherrschaft nichts für mich ist. So, wie ich dich kenne, willst du sie auch nicht. Aber du wirst auch nicht wollen, dass sie in die falschen Pfoten gelangt. Und deswegen wirst du dich genötigt sehen, dich darum zu kümmern, die richtigen Pfoten zu finden. Pfoten wie die von Jette, die eine wunderbare Weltherrscherin war (und sehr hübsche kleine Pfoten hatte). Wo du die richtigen Pfoten finden wirst, weiß ich auch nicht, aber du machst das schon. Schließlich bist du die Schlaue von uns beiden. Ich habe volles Vertrauen in dich, Leo. Sorg dafür, dass es der Weltherrschaft gut geht! Und verspäte dich nicht beim Abendessen. Alles Liebe, deine Schwester Lotti.“

Leo ließ das Briefchen sinken und wischte sich gerührt die Augen. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie ihre Schwester doch ganz schön vermisste, auch wenn sie im Alltag gar nicht so oft an sie dachte. Aber Lotti war so viele Jahre lang ihre engste Vertraute und beste Freundin gewesen. Eben ihre Schwester. Obwohl sie oft etwas oberflächlich und wenig intellektuell gewirkt hatte, hatte sie sich eben doch eine Menge Gedanken gemacht und die ungeliebte Weltherrschaft nicht einfach über ebay vertickert. Und sie hatte ihr Vertrauen in sie, Leo, die schlaue Schwester, gesetzt. Und vielleicht auch in die nette neue Katze, die als Nachfolgerin bei ihr hätte einziehen sollen. Aber stattdessen hatte sie Fritte bekommen. Herrn Frittelbert Frittelby. Das geborene Gegenteil einer netten verantwortungsvollen Katze, zumindest aus Leos Sicht. Aber das konnte Lotti ja nicht wissen, als sie ihre Nachricht schrieb.

„Lotti, wenn du wüsstest, mit was für einem Gurkenkönig ich hier zusammenleben muss“, murmelte sie in Richtung Regenhimmel. „Die dicke freundliche Frau kann nichts dafür. Er war so lange klein und niedlich, bis die Reklamationsfrist abgelaufen war. Aber seitdem geht er mir echt auf die Nerven. Du würdest ihn hassen, da bin ich sicher. Und er wäre das Schlimmste, was der Weltherrschaft passieren könnte, jawohl. Wir müssen uns also was überlegen, was richtig Gutes. Also, ich muss mir was überlegen. Gleich nachdem ich ein kleines Schläfchen gemacht habe. Du hörst von mir, Lotti.“

Und Leo rollte sich, nachdem sie das Briefchen wieder sicher in ihrer Bauchtasche verstaut hatte, gemütlich zusammen, schloss die Augen und ließ die Welt Welt sein, Herrschaft hin oder her.

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