Stoppis Adventsgeschichte. Teil 1.

Obwohl überall in der Stadt weihnachtliche Lichter leuchteten, war die Stimmung gar nicht feierlich an diesem Samstagabend, dem Abend vor dem ersten Advent. Kalt war es geworden und ein bisschen feucht, obwohl es gar nicht regnete. Die kalte Luft krabbelte den vielen Menschen, die eilig durch die Straßen hasteten, überall hin: Unter die Mütze, in die Mantelärmel und unter die Alltagsmasken.

Ungemütlich. Echt ungemütlich. Nicht einmal stehenbleiben und bei einem Becher Kakao oder Glühwein mit Schuss ein bisschen ausruhen und in Stimmung kommen durfte man. Die Corona-Eindämmungsverordnung erlaubte es nicht und viele Menschen hatten sich nach vielen Wochen mit Abstandgebot und Kontaktbeschränkungen auch schon so daran gewöhnt, sich gegenseitig aus dem Weg zu gehen, dass sie sich gar nicht mehr vorstellen konnten, es jemals wieder schön zu finden, dicht gedrängt und leicht angetrunken auf einem Weihnachtsmarkt herumzulungern.

Die kleine weiße Katze, die sich nicht mehr genau erinnerte, wann und wo sie einer müde und genervt wirkenden Frau aus der Einkaufstasche gefallen oder eventuell auch gesprungen war, saß eingeschüchtert und orientierungslos auf einem Poller, der wohl verhindern sollte, dass Autos direkt in die hell erleuchteten Geschäfte fuhren. Ein bisschen außerhalb des Weihnachtslichter-Radius, deswegen bemerkte sie kaum einer der Menschen, die es alle eilig zu haben schienen.

Die kleine weiße Katze fror ganz schrecklich, obwohl sie ein weiches flauschiges Plüschfell besaß. Aber gegen diese kriechende Kälte konnte das Fellchen nicht viel ausrichten. Sie fühlte sich richtig durchgefroren, so, als käme die Kälte aus ihr und nicht von draußen. Hunger hatte sie auch und Angst. Was sollte sie tun? Wo konnte sie hingehen? Wenn sie hier sitzen blieb, dann würde sie über Nacht erfrieren, da war sie sicher. Und morgens würde die Stadtreinigung sie einfach aufkehren und entsorgen.

Ein Schauder durchfuhr die Katze. Sie war doch noch so jung, sie wollte nicht sterben. Und schon gar nicht auf so eine unweihnachtliche Weise. Sie musste hier weg, irgendwohin, wo es warm war und hell. Zu freundlichen Menschen vielleicht oder, noch besser, zu freundlichen Katzen.

Sie musterte die vielen Menschen, die nur wenige Meter von ihr entfernt ihre geschäftigen Wege verfolgten, aufmerksam. Schwierig, sie schienen es alle eilig zu haben, ihre Körpersprache sagte: „Sprich mich bloß nicht an!“ und ob sie vielleicht lächelten oder wenigstens zu einem Lächeln bereit waren, das konnte man wegen ihrer Masken auch nicht sehen.

„Hallo“, rief die kleine weiße Katze versuchsweise. „Hallo! Ich bin hier. Ich brauche Hilfe!“ Ihre Stimme klang schwach und ging im allgemeinen Rauschen des Verkehrs und Gemurmel der Menschen unter. Niemand schien sie zu hören. Niemand blickte auch nur in ihre Richtung.

„Hallo!“, rief die Katze noch einmal, so laut es ging. „Hallo! Hilfe! Freibier!“

„Wuff“, sagte eine dunkle Stimme neben ihr. „Wer bist du denn und warum brüllst du hier so rum? Freibier? Was für ein Unsinn. Frei-Glühwein, damit könntest du die Menschen anlocken.“

Die Katze war ziemlich erschrocken. Der Hund, der neben ihr stand, war mindestens hundertmal so groß wie sie und er sabberte. Ohne Maske. Aber er sah freundlich aus, immerhin. Und er war offenbar ihre einzige Chance auf Hilfe.

„Hallo“, sagte die Katze, „danke, dass du mich bemerkt hast. Ich bin verloren gegangen und weiß nicht, wo ich bin. Und mir ist so schrecklich kalt, dass ich gar nicht mehr denken kann.“

„Hm“, erwiderte der Hund nachdenklich. „Das ist nicht gut. Wenn du hier im Dunkeln sitzt, dann haben deine Leute ja fast gar keine Chance, dich wiederzufinden. Du musst ins Helle, dahin, wo man dich sehen kann.“

„Bitte nicht!“, wehrte die kleine weiße Katze entsetzt ab. „Ich habe gar keine Leute. Und da vorne im Licht, da werde ich ja zertrampelt von den vielen Menschen. Du siehst ja, sie schauen nicht nach Links und Rechts, sie stampfen einfach so mit der Menge mit.“

„Das stimmt“, sagte der Hund, „sie sind wie eine Schafherde. Schafe mit Alltagsmasken, die nach Desinfektionsmittel stinken. Blöd, aber nicht ungefährlich, wenn man so klein ist wie du. Deswegen habe ich mich ja auch verdrückt und meine Menschen vorübergehend sich selbst überlassen.“

„Wirklich?“, fragte die Katze erstaunt. „Du bist freiwillig abgehauen? Und wie findest du deine Menschen wieder?“

„Ich habe eine sehr gute Nase“, erwiderte der Hund stolz und schnupperte ein paarmal an der kalten Innenstadtluft, um zu demonstrieren, wie ein Experte sich orientiert, „und außerdem kenne ich ja den Weg nach Hause. Ich wohne nicht weit von hier.“

„Du hast es gut“, sagte die Katze traurig. „Ich habe leider kein Zuhause, das ich wiederfinden könnte.“

„Hm“, sagte der Hund noch einmal, „Katzen ohne Zuhause sind in dieser Jahreszeit am besten im Tierheim aufgehoben, glaube ich. Es ist gar nicht so übel da, jedenfalls gibt es regelmäßige Mahlzeiten. Viele meiner Kumpels von der Hundewiese und auch die Katzen von der Mama von meinen Menschen sind für eine Weile im Tierheim gewesen, bevor sie von ihren Menschen adoptiert wurden.“

„Adoptiert?“, fragte die Katze. „Was ist das denn?“

„Das machen die Menschen, wenn sie keine eigenen Hunde oder Katzen bekommen können“, erklärte der Hund geduldig. „Dann gehen sie ins Tierheim oder zu einem Tierschutzverein und adoptieren einen Hund, der keine Menschen und kein Zuhause hat. Oder eine Katze. Und damit ist allen geholfen.“

„Das ist ja toll“, sagte die kleine weiße Katze. „Und wie komme ich da hin?“

„Mit dem Bus“, erwiderte der Hund, „mit dem Bus Nr. 112. Neun Stationen von hier aus.“

Er zeigte mit seiner großen haarigen Pfote auf die Bushaltestelle in etwa zwanzig Meter Entfernung und tatsächlich, auf einem Schild stand unter anderem die Nummer 112.

Die kleine weiße Katze war unschlüssig. Bus fahren? Ganz alleine? Und an der neunten Station aussteigen? Nicht, dass sie nicht zählen konnte, bis ungefähr zehn konnte sie das sehr gut, aber sie war noch nie Bus gefahren und ihr wurde doch so leicht übel.

„Ich würde dir ja gerne anbieten, mit zu uns zu kommen“, sagte der Hund, der ihr Zögern bemerkte, bedauernd, „aber mein Mensch hat blöderweise eine Katzenallergie. Das kann ich leider nicht machen.“

„Okay“, sagte die Katze und versuchte, ein entschlossenes Gesicht aufzusetzen. Ihre Stimme zitterte nur ein ganz bisschen, als sie leise hinzufügte: „Dann fahre ich eben mit dem Bus ins Tierheim.“

„Hab keine Angst“, sagte der Hund, „du schaffst das. Und so hübsch, wie du bist mit deinem weißen Fell, den rosa Ohren und den grünen Augen, wollen dich bestimmt ganz viele tolle Menschen adoptieren. Komm, ich bringe dich zur Haltestelle.“

Ganz vorsichtig nahm der große Hund die kleine weiße Katze zwischen seine riesigen Zähne, natürlich ohne sie zu beißen, und trug sie die zwanzig Meter zur Bushaltestelle. Er versuchte dabei sogar, nicht zu sabbern. Die kleine weiße Katze bekam vor Angst fast keine Luft, aber andererseits war sie so froh darüber, an diesem schrecklichen Abend doch immerhin einen Freund gefunden zu haben, der ihr mit Rat und Tat zur Seite stand, dass sie schon alleine deswegen fast geweint hätte.

Kaum hatte das ungleiche Paar die Haltestelle erreicht, da hielt neben ihnen auch schon der Bus und öffnete mit Quietschen und Fauchen seine Türen. Der Hund sprang, völlig furchtlos und überaus reaktionsschnell, mit der Katze im Mund hinein, setzte sie vorsichtig unter einer Sitzbank ab und drängelte sich dann an den ganzen Menschen, die in den Bus einsteigen wollten, vorbei, um schnell wieder auszusteigen, bevor sich die Türen wieder schlossen.

„Nicht vergessen: Neun Stationen!“, rief er der kleinen Katze noch zu. „Du schaffst das, da bin ich sicher.“

„Neun Stationen!“, rief die kleine Katze aufgeregt zurück. „Danke dir, du bist mein Held. Wie heißt du eigentlich und wie kann ich dich wiederfinden?“

„Ich heiße Lumpazivagabundus“, brüllte der Hund durch den kleinen offenen Schlitz zwischen den sich schließenden Bustüren, „und ich wohne in der …“

BOING. Da waren die Türen zu und der Bus fuhr ab.

Lumpazivagabundus. Was für ein Name. Was für ein Hund. Aber wie sollte sie ihn jemals wiederfinden ohne Adresse?

Schaudernd kauerte sich die kleine Katze unter dem Sitz zusammen. Ihr war noch immer sehr kalt und ihr kleiner Magen knurrte schrecklich. Sie fuhr mit dem Bus Nr. 112 ins Tierheim. Sie hatte weder eine Fahrkarte noch eine Mund-Nasen-Bedeckung. Dafür aber Hundesabber im Plüschfell. Sie konnte nur hoffen, dass niemand sie bemerkte. Und zählen, damit sie ihre Station nicht verpasste. Was für ein Abenteuer.

Fortsetzung folgt.

2 Kommentare

  1. Stoppi, muß (darf) ich jetzt etwa eine Woche warten, bis ich erfahre, wie es mit der Kleinen weitergeht, wie soll ich das denn aushalten? Die Geschichte ist so schön, ein bissi traurig auch und ich bin sehr gespannt, wie sie weitergeht. Danke<3!
    Herzliche Grüße an Dich und an Deine drei Mitbewohnerinnen alles Liebe, Martina
    (Falls Bettina mitliest, wovon ich, warum auch immer, ausgehe – da gibt es ja mächtig Schriftstellerkonkurrenz…)

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