Stoppis Weihnachtsgeschichte 2022, Teil 2

„Kann schon sein, dass anderswo die Katzen nicht nur frieren, sondern auch noch hungern“, maulte Frl. Lotte Miez, „aber wenn ich so darüber nachdenke, könnte ich wirklich auch einen kleinen Snack vertragen. Aber die dicke Frau hat uns, obwohl ich sie darum gebeten habe, wieder keine geöffneten Tütchen hinterlassen und das Trockenfutter ist längst alle. Hoffentlich kommt sie bald nach Hause, sonst findet sie nur noch einen kleinen ausgehungerten Eisklumpen auf meinem Platz vor.“

„Wohl eher einen großen ausgehungerten Eisklumpen“, erwiderte Frl. Leonie Mau grinsend, „aber dein subjektives Empfinden hat natürlich Vorrang, klar. Aber wenn du dich lange genug beschwert hast, dann denk doch mal an die armen Katzen und Hunde, die überhaupt kein Zuhause haben, nicht mal im Tierheim, sondern überhaupt keins. Wo niemand abends nach Hause kommt und sich für die Verspätung entschuldigt. Wo es nicht mal eine Heizung gibt, die man höher drehen könnte, und auch keine hellgrünen Steppwesten in deiner Größe. Überhaupt keine Steppwesten, nicht einmal in Beige.“

„Beige steht mir nicht“, sagte Lotti und schaute zufrieden an ihrem hellgrünen Lieblingskleidungsstück, das nur an ganz bisschen an den Hüften spannte, herunter. „Welche Katze soll denn bitteschön Beige tragen?“

„Das ist nicht der Punkt“, gab Leo mit einem etwas verschärften Unterton zurück. „Der Punkt ist, dass es viele Katzen gibt – und andere Tiere und sogar Menschen – die kein gemütliches Zuhause mit Heizung und drei bis acht Mahlzeiten am Tag haben. Manche von ihnen wohnen in Gegenden, in denen es noch viel kälter wird als hier in der Hamburger Innenstadt. Einige, die richtig Pech haben, leben sogar in Kriegsgebieten. So wie man es manchmal in der Tagesschau sieht: Ohne Strom, ohne Wasser, dafür aber mit ganz viel Angst vor Soldaten und Bomben und Panzern.“

„Schrecklich“, stimmte Lotti ihr zu. „Deswegen gucke ich bei der Tagesschau meistens gar nicht mehr hin. Aber können diese Hunde und Katzen und Menschen nicht umziehen, irgendwohin, wo es nicht so ungemütlich ist?“

„Das versuchen sie ja“, erklärte Leo, „jedenfalls ziemlich viele von ihnen. Meistens mit ihren Hunden und Katzen, was ich sehr anständig von ihnen finde. Manche kommen ja sogar nach Hamburg. Aber dann sind sie hier und haben nicht viel, jedenfalls nicht viel Geld, um sich erstmal ein schönes Hotelzimmer zu buchen, während sie sich ganz entspannt überlegen, wie es jetzt weitergehen soll. Sie brauchen Unterstützung, wenigstens am Anfang.“

„Wir könnten ihnen die Lammtütchen schenken, die wir beide nicht mögen!“, schlug Lotti vor. „Wäre das nicht eine Idee? Der große freundliche Mann hat ja neulich mal welche mit nach Bremen genommen und dort an Streunerkatzen verschenkt, aber es sind aber noch ein paar da. Und es werden ständig mehr, weil wir ja täglich wieder welche nicht mögen.“

„Das ist gar keine schlechte Idee“, befand Leo und machte sich Notizen auf ihrem Tablet. „Dafür brauchen wir aber den großen freundlichen Mann mit seinem Auto.“

„Vielleicht können wir auch Jette in Bremen überreden, ein paar von ihren rosa Socken zu spenden? Ich meine, was will sie mit den gesamten Weltbeständen an rosa Socken? Sie übertreibt wirklich gerne.“

„Ja, sie hat da einen kleinen Spleen“, stimmte Leo zu. „Wir müssen mal mit ihr reden. Wir sind morgen mit ihr und Jehan zum Zoomen verabredet, da sollten wir das Thema zur Sprache bringen.“

„Jehan, der alte Wüstling…“, kicherte Lotti. „Er hat mir schon wieder so lustige Fotos von sich geschickt, mit Schlafzimmerblick und so.“

„Lenk jetzt nicht vom Thema ab“, sagte Leo streng. „Denk an die Katzen, die weder ein Schlafzimmer noch ein Smartphone haben, um dort ihre Wüstlings-Blicke zu fotografieren!“

„Kein Schlafzimmer?“, fragte Lotti verwirrt. „Aber wo schlafen die Katzen denn dann? Im Wohnzimmer?“

„Oder in einer Garage oder einem Schuppen oder, wenn es ganz schlimm kommt, unter einem Baum.“

„Aber das ist ja schrecklich. Und bestimmt ziemlich kalt.“

„Davon rede ich ja die ganze Zeit.“

„Und wer füttert sie da?“

„Lotti?“, fragte Leo, während sie sich mühsam beherrschte, „hörst du mir eigentlich zu?“

„Eigentlich schon“, versicherte ihr Lotti, „aber mir ist so kalt und ich habe so Hunger, da fällt es mir schwer, mich zu konzentrieren. Hoffentlich kommt die dicke freundliche Frau bald.“

Leo startete die Kristallkugel-App auf ihrem Tablet und starrte konzentriert hinein.

„Sie ist auf dem Weg“, versicherte sie ihrer aufgeregten Schwester dann, „aber der Bus hat vier Minuten Verspätung!“

„Orrrrr!“, schimpfte Lotti, „immer wenn es dringend ist!“

„Das ist wohl so“, stimmte Leo ihr zu. „Aber bei dir ist es ja auch immer dringend.“

„Und der Bus hat immer Verspätung.“

„Tja.“

„Tja.“

Die beiden Schwestern hatten sich nach dem Blick auf das Tablet schon vom Sofa erhoben und in den Eingangsbereich der Wohnung begeben. Dort nahmen sie nun wieder Platz, Lotti strategisch günstig auf der Schwelle zur Küche und Leo kurz hinter der Wohnungstür, denn sie fand es immer sehr sehr lustig, sich direkt nach dem Aufschließen durch die Öffnung und an der dicken freundlichen Frau vorbeizuzwängen und blitzschnell die Treppe hochzurennen, bis nach oben vor dem Dachboden. Da war es zwar auch langweilig und kalt, aber die dicke freundliche Frau gab sich immer sehr viel Mühe, sie wieder nach unten zu locken, denn sie hasste es, die ganzen Treppen selbst hochsteigen zu müssen. Und so rief und lockte sie sehr engagiert und klapperte mit der Leckerli-Dose. Wenn Leo es geschickt anstellte, konnte sie eine Menge Leckerlis futtern und sich trotzdem von ganz oben bis in den ersten Stock hinuntertragen lassen, denn sie war einfach viel schlauer und schneller – und natürlich auch gefährlicher! – als die dicke freundliche Frau. Diese war dann hinterher immer stinkesauer, mindestens dreieinhalb Minuten lang.

Während Leo sich ihren äußerst lustigen Tagträumen von Treppen, Verfolgungsjagden und Leckerlis hingab, lauschte Lotti angestrengt. Unten im Haus war die Haustür auf- und zugegangen. Und richtig, da hörte man auch schon schwere Schritte auf der Treppe und das Quietschen des Geländers: Die dicke freundliche Frau war im Anmarsch.

„Eingefallen aussehen!“, zischte Lotti aufgeregt, „aber sofort!“

Leo kicherte, zog die Backen ein und ging hinter der Tür in Stellung.

Lotti zog die Backen und den Bauch ein und legte sich mit mitleiderregendem Blick auf die Schwelle zur Küche.

Ein Schlüssel wurde ins Schloss gesteckt und gedreht. Die Tür öffnete sich einige Zentimeter weit, Leo setzte zum Sprung an und… wurde durch eine ihr entgegenkommende Handtasche ausgebremst, die sie unerbittlich zurückschob.

„Das hast du dir so gedacht, du kleine Gangsterpüppi!“, schimpfte die dicke freundliche Frau, während sie sich durch den schmalen Spalt schob und die Tür schnellstmöglich hinter sich schloss, während Leo noch immer durch die Handtasche davon abgehalten wurde, ihren geplanten Ausflug anzutreten. „Aber nicht mit mir. Jedenfalls nicht heute.“

„Pah“, murmelte Leo, „wenn ich es ernst meine, trickse ich dich noch jederzeit aus.“

„Hunger!“, rief Lotti mit schwacher Stimme von der Küchentür aus. „Hunger. Wenn du mich noch lebend antreffen willst, dann solltest du jetzt keine Zeit verlieren.“

„Hallo, meine Lieblingsmitbewohnerinnen!“, begrüßte die dicke freundliche Frau die beiden aufgeregten Katzen liebevoll, während sie schnell ins Badezimmer ging, um sich die Hände zu waschen (eine Unsitte, die sich seit März 2020 angewöhnt hatte). „Gleich geht es los mit dem Abendessen. Ihr seht ja wirklich schrecklich eingefallen aus. Sehr warm ist es hier auch nicht. Hättet ihr nicht mal die Heizung höher drehen können?“

„Weißt du was?“, fragte Lotti, während sie aufgeregt zwischen Bad und Küche hin- und hertrippelte. „Ich glaube, ich würde die dicke freundliche Frau doch essen, wenn sie tot wäre. Oder krank. Oder wenn sie morgens nicht aufstehen und mich füttern will.“

„Natürlich würdest du das“, gab Leo zurück. „Schließlich sind wir Raubtiere, auch wenn man das nicht auf den ersten Blick sieht. Und gefährlich. So was von gefährlich.“

„Genau“, rief Lotti. „Raubtiere, jawohl. Und wir…“

„So, ihr flauschigen Flauschmäuse“, mischte die dicke freundliche Frau in die Unterhaltung ein, „möchtet ihr vielleicht ein Tütchen? Oder zwei?“

„Drei, drei!“, rief Lotti und drückte sich an die Beine der dicken freundlichen Frau. „Ich liebe dich. Füttere mich!“

„Mich auch“, drängte sich Leo dazwischen, „aber nicht die ollen Lammtütchen. Und dann drehen wir die Heizung höher.“

„Und vielleicht drehen wir auch die Heizung höher“, überlegte die dicke freundliche Frau laut. „Nur für ein Stündchen.“

„Wir fressen sie, sobald sie die Heizung höher gedreht hat“, schlug Lotti vor.

„Gute Idee!“, bestätigte Leo. „So machen wir es. Und jetzt lass mich essen. Omnomnom.“

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