„So wenig wie in diesem Jahr war mir noch selten nach Weihnachten!“, schimpfte Frl. Lotte Miez, während sie sich einen weiteren Schal um den flauschigen Hals wickelte und die Enden ordentlich in ihre hellgrüne Steppweste steckte. Die hellgrüne Steppweste, von der ihre Schwester behauptete, sie lasse Frl. Lotte wie eine etwas schimmelige Leberwurst aussehen, aber das war ihr egal. Hauptsache warm.
Doch das war schwierig in diesem November. Dieser hatte zwar klimawandelig mild begonnen, so dass die Balkonblumen, die eigentlich schon seit Wochen nur noch Gestrüpp waren, das darauf wartete, auf den Müll geworfen zu werden, erneut Blüten bekamen. Dann aber war die Temperatur in kurzer Zeit gefallen, bis unter den Nullpunkt. Dazu kam noch der Wind aus der falschen Richtung und in der Wohnung, in der Frl. Lotte Miez und ihre Schwester Frl. Leonie Mau lebten, war es so richtig klamm und kalt geworden. Das Winterfell der Katzen begann nun zwar wie wild zu wachsen, aber natürlich ging das nicht innerhalb einer Nacht, sondern dauerte einige Tage.
Während es in der schlecht isolierten Altbauwohnung mit den undichten Fenstern immer ungemütlicher wurde, schickte der sogenannte Energieversorger der dicken freundlichen Frau, die mit Frl. Lotte und Frl. Leonie in der Wohnung wohnte, täglich neue E-Mails, in denen er eine Erhöhung der Strom- und Gaspreise ankündigte. Wieder und wieder. Die dicke freundliche Frau versuchte, sich davon nicht verrückt machen zu lassen – ebensowenig wie von den Energiesparappellen zahlreicher Politiker unterschiedlichster Couleur abends im Fernsehen – aber so langsam wurde sie doch nervös und fragte sich, womit sie das eigentlich alles bezahlen sollte. Schließlich hatte sie gerade einen großen Batzen Geld für eine erneute Reparatur der Gastherme in der Küche ausgegeben, nachdem diese schon zum zweiten Mal in diesem Jahr den Dienst versagt hatte, und obwohl sie auch nach der Reparatur noch so klang, als würde sie demnächst endgültig den Geist aufgeben.
„Wir müssen versuchen, Energie einzusparen!“, sagte sie sich selbst und den Katzen immer wieder. „Es kann ja nicht sein, dass wir diesen Gangstern in Russland und bei den hiesigen Strom- und Gasanbietern mehr Geld in den Rachen werfen als unbedingt nötig. Wärme ist ein Grundbedürfnis, okay, aber Essen auch, also brauchen wir auch dafür noch Geld. Deswegen heizen wir so wenig wie möglich und ziehen uns wärmer an.“
Und so hatte Frl. Lotte Miez sich im Internet die hellgrüne Steppweste in Größe XM bestellt und eine eigene dunkelrote Kuscheldecke. Beide standen ihr hervorragend, wie sie fand. Nun brauchte sie nur noch passende Socken, Pink wünschte sie sich, aber es stellte sich heraus, dass irgendeine Katze aus Bremen die gesamten Weltvorräte aufgekauft hatte. Also mussten die Socken warten. Wenn Frl. Lotte Miez die Pfötchen ordentlich unterschlug, dann bekamen sie auch genug von ihrer Körperwärme ab und wurden nicht so furchtbar kalt.
Frl. Leonie Mau wollte keine Steppweste, nicht in hellgrün und auch nicht in einer anderen Farbe. „Das ist für Pussies!“, schimpfte sie. „So was ziehe ich nicht an!“ Sie bewegte sich lieber, um nicht auszukühlen, und so stand sie alle paar Minuten vom Sofa auf und machte Kniebeugen oder rannte ein paarmal in die Küche und zurück, um sich aufzuwärmen. Oder um ein paar Bröckchen Trockenfutter zu mampfen, denn auch das machte ihr ein wohlig warmes Gefühl.
Und trotzdem war es kalt in der Wohnung. Die dicke freundliche Frau schimpfte auch jedes Mal, wenn sie nach Hause kam: Angeblich war es draußen wärmer als drinnen oder zumindest fühlte es sich so an. Sie schimpfte heftig und völlig ohne jede Wirkung, was vielleicht damit zu tun hatte, dass sie ja eigentlich mit sich selbst unzufrieden war. Vielleicht, so dachte Frl. Lotte Miez, lag es auch daran, dass sie vor Kälte schon etwas blöd im Kopf war, denn von allen Bewohnerinnen der kühlen Wohnung war sie mit Abstand die kälteempfindlichste. Und diejenige, die die Heizung hätte einschalten können und sollen. Das aber tat sie nur stundenweise am Abend und nur auf einer niedrigen Stufe.
Und so blieb es ungemütlich in der Wohnung und so unweihnachtlich, wie man es sich überhaupt nur vorstellen konnte. Und das, wo am Sonntag schon der erste Advent sein sollte. Aber nichts in der Wohnung deutete daraufhin, dass Weihnachtsstimmung einzog: Keine Wärme, keine Gemütlichkeit, keine Deko. Nicht einmal weihnachtliche Düfte gab es, denn bisher hatte die dicke freundliche Frau weder Clementinen noch Zimt noch Lebkuchen mitgebracht. Nur Stollenkonfekt, das gab es, aber das futterte sie schon seit Wochen und ihr dabei zuzusehen brachte nicht wirklich etwas Weihnachtliches mit sich. Keine Kerzen, keine Lichterketten, keine Tannenzweige. Nichts.
„Wenn das so weitergeht“, sinnierte Frl. Leonie Mau, „dann vergisst sie womöglich noch, uns Weihnachtsgeschenke zu kaufen!“
„Was?“, fuhr Frl. Lotte Miez aus ihrer Meditation auf. „Keine Leberwurst, keine Hirschstreifen, keinen Sahnepudding? Und was ist mit der Spielzeugmaus, die ich mir gewünscht habe?“
„Bisher hat sie nichts davon bestellt“, sagte Frl. Leonie Mau, „ich habe noch nicht einmal gesehen, dass sie Preise verglichen hätte oder so.“
„Ja, aber… aber… aber…“. Frl. Lotte Miez war fassungslos. „Ohne Geschenke ist es doch kein Weihnachten!“
„Ich weiß“, erwiderte Frl. Leonie Mau, „ich weiß. Der Laserpointer, den ich so gerne haben möchte, ist auch noch nicht in ihrem Warenkorb gelandet. Und dabei wünsche ich ihn mir so sehr.“
„Aber so arm sind wir doch gar nicht“, jammerte Frl. Lotte Miez. „Ich meine, sie arbeitet doch den ganzen Tag. Da muss sie doch auch Geld verdienen, oder?“
„Natürlich verdient sie Geld“, versuchte Frl. Leonie Mau, ihre Schwester zu beruhigen. „Das ist gar nicht das Problem. Ich glaube, sie ist einfach nur müde und ihr ist kalt und sie vergisst immer, was sie eigentlich machen wollte. Zum Beispiel unsere Weihnachtsgeschenke bestellen, uns ein Tütchen öffnen und die Heizung höher drehen.“
„Sie vergisst uns?“
„Nein, ganz sicher nicht. Sie denkt immer an uns und sie kommt ja auch immer so schnell wie möglich nach Hause, um bei uns zu sein. Obwohl es hier so kalt ist. Und sie füttert uns ja auch. Aber dann rattern gleich wieder so viele Sachen in ihrem Kopf herum, dass sie Weihnachten und unsere Geschenke völlig vergisst.“
„Aber das geht doch nicht“, beschwerte sich Frl. Lotte Miez. „Weihnachten, das ist doch die schönste Zeit im Jahr. Die kann sie doch nicht einfach vergessen. Keine Hirschstreifen, keine Leberwurst, keine Geschenke… das geht doch nicht!“
„Vielleicht müssen wir sie daran erinnern“, sagte Frl. Leonie Mau, „und zwar, bevor es zu spät ist. Ja, ich glaube, das müssen wir. Und wir müssen uns nur noch überlegen, wie wir das am besten anstellen.“
„In Ordnung“, sagte Frl. Lotte Miez fröstelnd und zog ihren Schal noch enger um sich. „Dann überlegen wir also. Hoffentlich erfrieren und verhungern wir dabei nicht. Los geht’s.“