Über Briefe, Lederwesten und den Sieg des gesundes Menschenverstandes

Mein Geburtstag letzte Woche ging sehr gut. Ostersonntag ist eben doch ein netterer Tag als Karfreitag – an einem Karfreitag wurde ich damals geboren. Kein großer Spaß damals für meine Mutter, weniger wegen des Tanzverbots als wegen der Nabelschnur, die ich mir um den Hals gewickelt hatte. Ohnehin kam ich einen Monat zu früh und dann musste eben alles noch ein bisschen schneller gehen als gedacht, damit ich nicht so furchtbar blau im Gesicht rauskomme.

Nun ja, es ging alles gut. Meine Mutter war heilfroh und überglücklich und auch mein Vater bemühte sich, mehr Freude als Schreck, Unsicherheit und das dumpfe Gefühl, dass das Leben, wie er es bis dahin gekannt hatte, nun wirklich vorüber war, zu empfinden.

Seitdem habe ich meine Eltern, soweit ich mich erinnern kann, eigentlich an jedem meiner Geburtstage gesehen, wenigstens kurz zwischendurch auf einen Kaffee und zur Geschenk- bzw. Geldübergabe. Einmal, vor gut dreißig Jahren, verbrachte mein Vater gerade ein Jahr beruflich in der Schweiz und konnte an meinem Geburtstag nicht in Hamburg sein. Er schrieb mir aber einen Brief, in dem sehr viele tolle Sachen standen. Ein Brief, der mich rührte, aber auch sehr verunsicherte. Den ich nur einmal las und dann zur Seite legte. Den ich aber natürlich aufbewahrte, in einen der Ordner mit persönlichen Papieren steckte, so dass ich den Umschlag bei jeder einzelnen Suche nach Impfausweis oder Studiennachweisen immer mal wieder in der Hand hielt. Dreißig Jahre lang. Ich habe ihn nie wieder gelesen. Letzte Woche, am Tag nach meinem Geburtstag, dem ersten ohne meinen Vater, habe ich den Brief gesucht. Und nicht gefunden. Dabei bin ich sicher, dass ich ihn vor gar nicht so langer Zeit gesehen habe. Aber es war wie verhext. Dabei hätte ich ihn jetzt so gerne gelesen. Sicher taucht er irgendwann wieder auf. Hoffentlich. Wehe, wenn nicht.

Aber weiter im Text. Schließlich wollte ich ja erzählen, wie mein Vater im letzten Sommer dann doch ins Krankenhaus kam. Also:

Am Montag nach dem Super-Gau-Wochenende traf sich die Familie wieder im Haus meiner Eltern. Mein Bruder, der ja die letzten Tage nicht miterlebt hatte, war ziemlich mitgenommen vom Zustand meines Vaters, gab sich aber große Mühe, sich nichts anmerken zu lassen. Mein Vater schluckaufte so vor sich hin und war unglaublich müde. Das Wort „Fatigue“ haben er und meine Mutter nie in den Mund genommen, aber er war wirklich eine personifizierte Fatigue. Meine Mutter bemühte sich, ihre Angst unter Kontrolle zu halten und sich nicht selbst ein schlechtes Gewissen einzureden, weil sie am Morgen ihren Hausarzt angerufen und um einen Hausbesuch gebeten hatte. Ich war… ja, wie ging es mir eigentlich? Ich fühlte mich angespannt, aber auch verhalten zuversichtlich. Zuversichtlich, dass mein Vater nicht einfach nur verreckte, sondern dass er vielleicht doch eine Chance haben könnte, Abschied von seinem Leben zu nehmen. Abschied von uns – und wir von ihm.

Am frühen Nachmittag kam dann der Arzt und bestätigte auf den ersten Blick gleich meine schlimmsten Befürchtungen. Ein großer, hagerer alter Kerl, sicher in der Theorie gutaussehend für sein Alter, aber mit langen, wirren Haaren, einem Kurzarmhemd und einer Lederweste. Ich wiederhole: Einer Lederweste. Ich würde mich ja nicht als besonders vorurteilsbeladen beschreiben, aber ein Dorfarzt in einer Lederweste erweckt in mir den Eindruck, er sei von RTL2 als Dorfarzt besetzt worden. Oder hätte sich gerade zu einem Casting bei RTL2 angemeldet.

Der Arzt war sicher nicht begeistert, dass mein Vater auf sein Anraten hin nicht uns vor die Tür schicken wollte, ließ sich aber nichts anmerken. Er bat meinen Vater, seinen Zustand zu beschreiben, und mein Vater nahm sich zusammen und berichtete knapp und sehr nüchtern, dass er seit fast einer Woche nichts gegessen und sehr wenig getrunken habe, dass sein Magen sich aber einfach nicht beruhigen wolle. Er stecke eigentlich noch mitten in einem Chemotherapie-Zyklus, aber im Moment gehe es ihm zu schlecht, um damit weiterzumachen, und möglicherweise sei dies ja auch der Anfang vom Ende.

Ich fand meinen Vater sehr mutig und bewunderte, dass er die Dinge einfach so auf den Punkt bringen konnte. Es war nicht nötig, dass einer von uns seine Ausführungen ergänzte.

Der Arzt hörte sich den Bericht an und sagte: „Sie können nicht essen und nicht trinken. Ja, dann machen Sie das doch einfach so weiter.“

Mir muss in diesem Moment so ziemlich alles aus dem Gesicht gefallen sein. Welcher Teil der Ausführungen meines Vaters brachten diesen RTL2-Doktor auf die Idee, dass mein Vater sich freiwillig und gerne zu Tode hungerte? Ich hatte diesen Teil nicht gehört. Ich guckte kurz in die Runde. Mein Bruder sah so schockiert aus wie ich sicherlich auch. Meine Mutter verwirrt. Mein Vater wirkte ein wenig überrascht von der Empfehlung des Arztes.

Ich trat mich im Geist selbst in den Hintern und sagte: „Vielleicht gibt es doch noch andere Optionen? Wissen Sie, es ist nicht so, dass mein Vater freiwillig fastet, und auch nicht so, dass es ihm damit gut ginge!“

„Ja“, sagte der Arzt, „aber in ein Krankenhaus wollen Sie doch nicht, oder?“

Das „sagt Ihre Frau“ verkniff er sich immerhin. Aber ich fand diese Bemerkung auch so schon eine Anmaßung sondergleichen. Schließlich hatte Dr. Lederweste meinen Vater vor gut einem Jahr zum letzten Mal gesehen und war seitdem nur von meiner Mutter ab und zu in ihre Sorgen und Gedanken eingeweiht worden. Nichts gegen die Sorgen meiner Mutter, sie waren alle berechtigt, aber von einem seriösen Arzt erwarte ich schon, dass er sich in so einer existentiellen Situation selbst ein Bild macht und seinen Patienten, sofern dieser noch dazu in der Lage ist, nach seiner Meinung und seinen Wünschen befragt.

„Nun ja“, sagte mein Vater, „nicht unbedingt. Aber es ist schon schwierig hier, wenn es mir so schlecht geht. Für meine arme Frau bin ich eine furchtbare Belastung, wissen Sie?“

Dr. Lederweste brachte noch immer nicht viel Begeisterung auf, fragte aber immerhin, ob mein Vater schon eine Plegestufe habe, ob schon mal ein Pflegedienst dagewesen sei und ob er nicht vielleicht mit einem Toilettenstuhl seine Lebensqualität ganz gewaltig verbessern wollte.

Mein Vater wollte nicht. Auch das Angebot, ihm eine Toilettensitzerhöhung und einen Rollator zu verordnen, konnte ihm keine Begeisterung entlocken.

„Vielleicht“, mischte ich mich also wieder ein, „hättest du es doch im Krankenhaus besser. Nicht in einem normalen Krankenhaus natürlich. Aber ich dachte immer, dass es gerade für Menschen wie dich Palliativstationen gäbe!“

„Eine Palliativstation!“ rief mein Vater. „Ja, natürlich!“

„Genau“, sagte Dr. Lederweste, „das wollte ich auch gerade vorschlagen. Eine Palliativstation. Oder Sie gehen in ein Hospiz.“

Ich überlegte kurz, ob ich den Typen vielleicht treten könnte. Oder anschreien. Verkniff es mir dann aber, weniger aus Schüchternheit als aus Rücksicht auf meine Mutter.

„Ich denke“, unterbrach ich den Arzt, „dass mein Vater durchaus eine ärztliche Behandlung im Krankenhaus brauchen könnte. Insofern wäre eine Palliativstation, wo jeden Tag ein Arzt kommt, wohl besser geeignet als ein Hospiz, wo der Arzt nur bei Bedarf kommt.“

Mein Vater wurde jetzt tatsächlich etwas munterer. „Mein Bruder“, erzählte er, „der war auf der Palliativstation im Krankenhaus in Hamburg-Rissen. Das ist schon lange her, da war die gerade erst eröffnet worden und kein Mensch wusste, was eine Palliativstation ist. Da war es ganz, ganz toll!“

Endlich begriff auch Dr. Lederweste, dass sich hier gerade eine Tendenz abzeichnete. Wir verhandelten noch ein bisschen hin und her… mein Eindruck, dass mein ergoogeltes Wissen über Palliativ- und Hospizeinrichtungen in und um Hamburg deutlich größer und aktueller war als das des Fachmanns, bestätigte sich mehrfach. Aber das war nun auch egal. Dr. Lederweste war ja kein böser Mensch und durchaus bereit, nicht nur eine Einweisung auf die Palliativstation auszustellen, sondern auch selbst dort anzurufen und sich mit dem dortigen Chefarzt zu besprechen. Er versprach dies für denselben Nachmittag, wenn er seine Besuchsrunde hinter sich habe – wir würden dann später am Tag von ihm oder direkt vom Krankenhaus hören.

So weit, so immerhin. Nachdem der Arzt gegangen war, besprachen wir uns kurz innerhalb der Familie. Es war sehr auffällig, dass mein Vater plötzlich wieder etwas mehr Energie hatte und nicht mehr so traurig und resigniert wirkte wie in den letzten Tagen. Es gab eine Option und mit etwas Glück auch schon bald. Die Tatsache, dass er die Rissener Palliativstation schon kannte und sich daran erinnerte, dass sein Bruder dort seine letzten Tage in großem Frieden verbracht hatte, schien ihm deutlich die Richtung zu weisen. Hoffentlich hatten die da nun auch ein Bett für ihn! Ich schaute mir im Internet noch einmal die Seite der Palliativstation im Klinikum Rissen an. Dort stand deutlich, dass eine ärztliche Einweisung zwar notwendig sein würde, darüber hinaus aber auch die Kontaktaufnahme durch Patienten oder Angehörige durchaus möglich und erwünscht war.

Ich wählte also die auf der Website angegebene Telefonnummer und landete direkt auf der Palliativstation bei Schwester Gabi. Schwester Gabi war sehr freundlich und entspannt und ich wunderte mich, dass ich – als anständige Twittererin natürlich mit einer heftigen Abneigung gegen das Telefonieren behaftet – so ruhig und effektiv alle wichtigen Dinge besprechen konnte. Sie wirkte überhaupt nicht wie eine normale Stationsschwester, sie war zuständig, hatte Zeit und machte einen völlig kompetenten Eindruck. Sie befragte mich über meinen Vater und seine bzw. unsere Situation und fand es ganz richtig, dass wir parallel zu den Aktivitäten unseres Arztes auch selbst tätig werden wollten. Ein Bett hätte man dort auch für meinen Vater – wenn alles klappte, dann könnte er morgen kommen! Ich gab ihr alle Telefonnummern von meiner Mutter und mir und verabschiedete mich mit der Hoffnung, diese nette Schwester vielleicht schon bald persönlich kennenlernen zu können.

Den Nachmittag verbrachten wir damit, auf den Rückruf des Arztes oder des Krankenhauses zu warten. Bis dahin dauerte es natürlich ewig und ich war dann doch schon auf dem Weg nach Hause, als meine Mutter endlich anrief, um mir zu sagen, dass mein Vater am nächsten Morgen um zehn direkt in der Palliativstation ankommen sollte. Damit könne er die mühsame und langwierige Aufnahme über die offizielle Aufnahme des Krankenhauses umgehen. Der Krankentransport sei bereits für neun Uhr bestellt. Ich versprach meiner Mutter, pünktlich da zu sein, um mitfahren zu können, verabredete mich noch kurz mit meinem Bruder und ging mit einem bangen, aber auch erwartungsvollen Gefühl ins Bett.

(Noch mal was in eigener Sache – obwohl dieses Blog ja sowieso meine eigene Sache ist: Meine Mutter und mein Bruder sind auch nicht doof und sie haben ebenfalls sehr viel für meinen Vater getan. Wenn es hier gelegentlich so klingt, als sei ich das einzige Familienmitglied gewesen, das meinen Vater verstanden und jemals einen konstruktiven Vorschlag gemacht hätte, dann liegt das selbstverständlich an meiner extrem subjektiven Darstellung. Und meiner Erinnerung. Aber Sie können meine Mutter fragen: In diesen Tagen, in denen klar wurde, dass es bei meinem Vater wirklich ans Sterben geht und Entscheidungen über das Wo, Wie und Wann getroffen werden müssen, war ich ganz klar die treibende Kraft. Ich folgte meinem Gefühl und meinem Verstand, die sich wunderbarerweise gerade mal einig waren.)

3 Kommentare

  1. Ich glaube, das ist im Sterben – leider ein unangenehmes Mitbringsel der heutigen Gesellschaft – für viele Menschen die größte Tragik: den Menschen, die man liebt, so viel abzuverlangen, weil man selber nicht mehr kann. Man hört förmlich aus Deinem Text heraus, wie sehr Deinen Vater das beschäftigt haben muss. Und man hört auch heraus – in der Klarheit seiner Ansprache – dass das größte Problem bis zu diesem Zeitpunkt wohl gewesen sein muss, es auszusprechen. Also über das Ende zu sprechen. In meiner Familie wurde das nie getan, dabei gibt es im Angesicht des Endes noch so viel zu sagen. ,-(

    1. Danke für deine Texte über deinen Vater und das Sterben. Ich bin jedes Mal sehr berührt und möchte an manchen Stellen sagen: Ich kenne den Moment und das Gefühl.

      Dass deine Texte eine rein subjektive Betrachtung auf die Situation sind, setze ich voraus. Jeder kann nur eine, nämlich seine erlebte Sicht dokumentieren. Alles andere wäre gar nicht machbar. So sehr ich mir selbst oft gewünscht habe, dass alles mal für einen Tag aus der Sicht meines Vaters zu betrachten, und vielleicht versuchte mir seine Gedankenwelt vorzustellen, so wenig funktioniert es – hätte vielleicht sogar alles nur noch schlimmer gemacht. Denn für alle Seiten ist das Sterben schwer. Ich bin sehr froh darüber, dass du davon erzählst, andere daran teilhaben lässt und dieses Thema sichtbar machst!

      Vielen Dank,
      Gruß Sarah

      1. Liebe Sarah,
        vielen Dank für deinen Kommentar und deine Rückmeldung (ich sehe gerade, dass meine Antwort von vor einer Woche darauf wohl irgendwo im Nirwana gelandet ist – sorry!). Ich habe mich sehr gefreut, von dir zu hören. Schließlich lese ich dein Blog auch mit großer Freude und bin immer sehr berührt von deinen Worten.
        Du hast sicher recht: Wir können uns nur sehr begrenzt in die Gedanken, Vorstellungen und Bilder anderer Menschen hineindenken, egal, wie sehr wir uns das wünschen würden. Das ist es ja, was Kommunikation und Interaktion so schwierig äh interessant macht. Und unter diesen Aspekt sind subjektive Betrachtungen dann eben auch die relevantesten.
        Danke und viele Grüße
        Bettina

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