Unterwegs mit der Bahn

Ein Freitagabend im Mai, kurz vor acht Uhr, herrlichstes Frühsommerwetter. Nach einem faulen Urlaubstag in Bremen mit dem großen freundlichen Mann und dem Halbdackel wird es Zeit für die Heimfahrt nach Hamburg, wo die Fritte und das Fräulein bestimmt schon ganz eingefallen aussehen vor Hunger.

Der große freundliche Mann hat mit seiner Wohnsituation in Bremen ja grundsätzlich viel Glück gehabt. Eins der besten Features ist in meinen Augen die Nähe zur Bahnstation Bremen-Oberneuland, die es mir ermöglicht, ziemlich stressfrei und unter Umgehung des Bremer Hauptbahnhofs in den Metronom zu steigen, der mich dann zum Hamburger Hauptbahnhof bringt, den auf dem Weg zur Bushaltestelle zu durchqueren, für meine Nerven schon völlig ausreicht. Bremen-Oberneuland ist so ziemlich das Gegenteil eines Hauptbahnhofs: Drei Gleise in der Landschaft, zwei Bahnsteige außerhalb der Gleisanlage, auf jeder Bahnsteig eine kleine elektronische Anzeige, ein Fahrkartenautomat und ein Unterstand mit Bank. Wenig Betrieb, zumindest zu den Zeiten, zu denen ich unterwegs bin – wenn außer mir mehr als drei Menschen auf dem Bahnsteig stehen, kommt es mir schon voll vor.

Auch heute ist nicht viel los, als wir am „Bahnhof“ eintreffen, der Mann, der Hund und ich. Zwei oder drei Menschen am anderen Ende des Bahnsteigs in Richtung Hamburg, sonst nichts. Ich nehme auf der Bank im Unterstand Platz, Mann und Hund schnüffeln so um mich rum.

Auf der anderen Seite der Gleisanlage, auf einer kleinen Straße mit wenig Verkehr, sitzt ein etwas verloren aussehender Typ auf einem Bordstein, glotzt vor sich hin und nimmt regelmäßige Schlucke aus einer Bierflasche. Tja, denke ich, anderswo trifft sich die Dorfjugend zum Trinken noch an der Tankstelle, aber Oberneuland ist wohl nicht diese Art von Dorf. Und außerdem ist hier keine Tankstelle in der Nähe.

Inzwischen haben zwei weitere Menschen den Bahnsteig betreten, einer davon eine junge Frau mit sehr hübscher Figur und großen Kopfhörern auf dem Kopf, die sich etwa zwanzig Meter entfernt von uns hinstellt und weiter auf ihr Handy starrt. Obwohl sie ganz offensichtlich keinen Kontakt mit ihrer Umwelt wünscht, ist der Typ auf dem Bordstein auf der anderen Seite der Gleise anscheinend fasziniert von ihr und versucht, durch Rufen und Winken auf sich aufmerksam zu machen. Dabei wird deutlich, dass er erstens kein Jugendlicher, zweitens der deutschen Sprache nicht mächtig und drittens mehr als angetrunken ist. Auch die zwei Sechserpacks Bier, die er um sich herum schwenkt, sprechen eine relativ klare Sprache.

Die junge Frau ignoriert den Typen vernünftigerweise. Er ruft und winkt weiter. Ich frage mich und den großen freundlichen Mann, wo wohl mein Metronom bleibt. Der sollte nämlich in diesem Moment hinten am Horizont auftauchen und den Bahnhof Bremen-Oberneuland ansteuern. Am Horizont ist aber nichts zu sehen oder zu hören.

Ich schaue in die Fahrplan-App, die mir anzeigt, dass der Metronom pünktlich um 20.06 Uhr fährt. Das wird schwierig, denke ich, denn es ist jetzt 20.06 Uhr und kein Metronom in Sicht.

Wir warten weiter und unterhalten uns leise über Zeug. Die junge Frau ignoriert weiterhin ihre Umwelt und der Typ mit den zwei Sechserpacks auf der anderen Seite der Gleise wird unruhig. Nimmt noch einen kräftigen Schluck aus seiner Pulle, stemmt sich hoch und bewegt sich, Sixpacks inklusive, nicht ganz gradlinig auf den Zaun, der die Straße von der Gleisanlage trennt, zu.

„Der Metronom könnte nun mal kommen“, finde ich, „nicht, dass der Typ noch hier rüberkommt.“

Genau das hat der Typ nun aber anscheinend vor. Über den Zaun will er aber nicht. Der offizielle Weg von seinem augenblicklichen Standpunkt aus auf das Gleis Richtung Hamburg wäre ein Stück parallel zum Gleis, dann durch die Unterführung, und dann wieder knapp hundert Meter in unsere Richtung. Das scheint ihm zu aufwendig zu sein und so findet er die Lücke im Zaun bzw. die Stelle, wo der Zaun aufhört und man direkt die Gleisanlage betreten kann.

„Der will doch nicht etwa…?“, frage ich noch, da betritt er schon das erste Gleis. Ich schaue noch einmal hastig in die Fahrplan-App, noch immer soll der Zug um 20.06 Uhr fahren bzw. gefahren sein. Hm. Da höre ich in der Ferne etwas, das klingt wie ein Zug. Zu sehen ist nichts, aber das Geräusch ist eigentlich eindeutig.

Ich schaue wieder nach rechts, wo der Typ noch immer – schwankend – auf dem ersten Gleis steht und zu uns rüberglotzt.

„Geh zurück, du Idiot, da kommt gleich ein Zug!“, schreit da jemand und bei genauerer Betrachtung bin ich das. „Geh zurück!“

Der Typ antwortet brüllend/lallend irgendwas, was ich nicht verstehe, ist aber offensichtlich über meine Sorge um seine Person nicht erfreut. Ich überlege, ob er Rumänisch spricht und ob Fritte jetzt dolmetschen könnte.

Ein Blick nach links ergibt, dass das soeben gehörte Geräusch tatsächlich auf einen Zug hindeutet, und zwar auf einen Güterzug, der mit viel Getöse auf unserem Gleis vorbeirattert. Wie es bei Güterzügen so ist, dauert es eine Weile, bis er dann ganz an uns vorbei und die Sicht frei ist. Der Typ steht mittlerweile  auf dem mittleren Gleis.

Immerhin, so denke ich, erklärt der Güterzug, warum der Metronom noch nicht gefahren ist. Andererseits: Seit wann haben Güterzüge Vorfahrt? Aber wenigstens höre ich jetzt das Geräusch eines sich nähernden Metronoms. Ein Blick nach links ergibt allerdings nichts. Ein Blick nach rechts ergibt, dass der Metronom von rechts kommt, ein schneller Metronom, der in Oberneuland nicht hält, auf dem mittleren Gleis. Auf dem mittleren Gleis, auf dem eben noch der Typ mit den zwei Sechserpacks stand.

Nun brüllen ziemlich viele Menschen auf dem Bahnsteig, ich eingeschlossen. Bevor ich mir die Augen zuhalte, sehe ich den Metronom von rechts kommen und den zurückstolpernden Typen, der dem Zugführer mit einer lässigen Handbewegung die Vorfahrt gewährt.

Obwohl ich fest damit rechne, im nächsten Moment von Blut und Hirnmasse getroffen zu werden, die herumspritzen, passiert nichts dergleichen. Der Metronom rast vorbei und der Typ steht noch immer auf dem Gleis rum, ungeduldig, seinen Weg auf unsere Seite fortzusetzen. Ich überlege, wo das nächste Polizeirevier ist und ob ich hier warten muss, bis der Streifenwagen da ist, wenn ich da anrufe. Ich möchte jetzt weg hier und das so schnell wie möglich. Außerdem sollten ja eigentlich in den letzten Minuten zwei Zugführer „Personen im Gleisbett“ gemeldet zu haben.

Der Typ hat es jetzt unfallfrei auf unsere Seite geschafft und ist vom Gleis auf den Bahnsteig gekrabbelt. Seine Sechserpacks wie Handtaschen tragend und gelegentlich aus seiner Bierflasche nippend setzt er nun seinen Weg in Richtung der jungen Frau fort, rufend und gestikulierend. Der Weg führt leider an unserer Bank vorbei und der Halbdackel, der sich durch diese seltsame Gestalt verunsichert und provoziert fühlt, beginnt zu bellen. Der Typ gibt Widerworte und macht einige Schritte auf den Halbdackel zu. Der große freundliche Mann stellt sich ihm in den Weg, wird deutlich größer und signifikant weniger freundlich als sonst, und brüllt den Typen an, er solle sich verp*ssen. Schön laut und wütend. Der Halbdackel und ich sehen ihn bewundernd an.

Der Typ nölt Unverständliches zurück, geht aber zum Glück weiter. Die junge Frau tut mir leid, aber sie hat inzwischen Verstärkung durch andere Wartende bekommen und der Typ prallt auch weiterhin an ihr ab.

Es ist jetzt 20.22 Uhr und eine Lautsprecherstimme informiert alle Interessierten und einen nach wie vor aufgeregt knurrenden und bellenden Halbdackel darüber, dass der Metronom mit etwa 20 Minuten Verspätung unterwegs sei.

Dann müsste er ja bald kommen, denke ich. Und: Hoffentlich fährt der Typ nicht mit. Ich sollte mir besser einen Sitzplatz in einem belebten Wagen suchen und nicht, so wie sonst immer, nach dem Wagen mit den wenigsten Passagieren drin suchen.

Endlich fährt der Metronom nach Hamburg in den Bahnhof ein. Ich verabschiede mich vom großen freundlichen Mann und dem Halbdackel, die beide noch immer etwas größer aussehen als normal. Oben im Fahrradwagen sitzen bereits genug Menschen, um mir das Gefühl von Sicherheit zu geben. Ich winke dem großen freundlichen Mann und dem Halbdackel durchs Fenster zu und sehe, wie sie sich in Bewegung setzen, um den Bahnsteig zu verlassen. Soweit ich sehen kann, ohne einen brüllenden Betrunkenen an den Hacken. Ein Glück. Vielleicht schaffe ich es ja doch nach Hause, bevor die Fritte und das Fräulein verhungern.

Die Fahrt nach Hamburg verläuft ohne größere Unannehmlichkeiten. Der Typ lässt sich nicht blicken; keine Ahnung, ob er es überhaupt in den Zug geschafft. Mann und Hund melden sich erst nach ihrem abendlichen Gassigang, der hoffentlich blutdruckregulierende Wirkung hatte. Ich versichere beiden, dass ich sehr stolz auf sie bin, weil sie einander und mich so gut beschützt und verteidigt haben. Auch bin ich ganz froh, nicht von Blut und Hirnmasse getroffen worden zu sein. Der Schutzengel des Typs mit den zwei Sechserpacks beantragt zeitgleich eine Kur, nehme ich an. Oder gleich Erwerbsminderungsrente. Ich hätte jetzt gerne ein Bier, wenngleich nicht von dem Typen, aber der Metronom fährt ja zum Glück alkoholfrei und außerdem trinke ich ja auch gar keinen Alkohol mehr.

 

 

3 Kommentare

  1. Puh, das war ja spannend. Und nervenaufreibend. Gut, dass nichts weiter schlimmes passiert ist! Und Fritte und das Fräulein sind auch nicht dem Hungertod erlegen währenddessen??

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