Von der Notaufnahme in die Kurzzeitpflege

Mein Bruder ist ein guter Mensch. Ich durfte nach dem Tag in der Notaufnahme, wie erhofft, irgendwann spät am Donnerstagabend nach Hause zu meinen Katzen und in mein eigenes Bett. Das hatte ich nach dem Tag auch bitter nötig und die Katzen sahen vor Hunger bereits völlig eingefallen aus, als ich endlich zu Hause ankam. Sie aßen ein deftiges Abendessen und kuschelten sich dann im Bett an mich und halfen mir, mich langsam wieder zu beruhigen.

Mein Bruder blieb über Nacht bei meiner Mutter. Ich weiß nicht, ob er sich auf den Teakholz-Zweisitzer legte oder auf den Teppich (ein Gästebett gibt es in der Wohnung noch nicht). Viel Gelegenheit zum Schlafen bekam er in der Nacht ohnehin nicht, denn meine Mutter brauchte ihn im Durchschnitt alle siebzehn Minuten, weil sie ins Badezimmer musste, etwas zu trinken brauchte oder darüber sprechen wollte, wie sie ihre Bücher in den Bücherschrank einsortieren wollte.

Ich hatte angeboten, meine Mutter am Freitagmorgen wieder zu übernehmen, aber mein Bruder bekam noch am Abend die Nachricht eines guten Freundes, der Chefarzt in einem Krankenhaus auf der anderen Seite Hamburgs ist, dass man meine Mutter dort gerne noch einmal untersuchen und nötigenfalls den Arm auch operieren würde. Da mein Bruder mit diesem Angebot auch die Hoffnung verband, dass man meine Mutter dann vielleicht auch gleich dort behalten würde, wollte er es unbedingt wahrnehmen, so dass ich zunächst und auf Abruf ins Büro gehen konnte.

Die freundlichen Ärzte im Krankenhaus unseres Vertrauens untersuchten den gebrochenen Arm meiner Mutter und kamen zu der Ansicht, dass er nicht operiert werden müsse. Zumindest nicht gleich. Man könne ihn zunächst gut stabilisieren und hoffen, dass er von alleine korrekt zusammenwachsen und heilen werde. Das war zwar im Prinzip eine gute Nachricht, bedeutete aber auch, dass das Krankenhaus unseres Vertrauens keine Veranlassung hatte, meine Mutter stationär aufzunehmen. Nicht mal über das Wochenende.

Mein Bruder ist ein guter Mensch. Ein guter Mensch, der extrem erschöpft und ziemlich panisch klang, als er mir diese Meldung telefonisch durchgab. Es war früher Freitagnachmittag, ich hatte gerade verfrüht Feierabend gemacht und war auf dem Weg in die Wohnung meiner Mutter. „Sie haben gesagt, das Beste sei es, Mama in einer Kurzzeitpflege unterzubringen“, berichtete er. „Aber wie man das macht, haben sie nicht gesagt. In dem Seniorenheim im Ort habe ich schon angerufen, da ist nichts frei. Kannst du dich da schon mal drum kümmern?“

Wie die meisten Twitterer telefoniere ich nicht gerne. Ich kann es aber im Notfall. Und was könnte sich eher als Notfall qualifizieren als die Aussicht, meine verbeulte, konfuse und hysterische Mutter, die überall Schmerzen hatte, über das Wochenende ohne professionelle Hilfe zu Hause zu betreuen? Ich ließ mir von einem Internetportal eine Liste aller Seniorenheime mit theoretischer Kurzzeitpflegemöglichkeit zusammenstellen und rief eins nach dem anderen an.

Die Ausbeute war ernüchternd. Ich telefonierte mit zwanzig Einrichtungen, die angeblich freie Kapazitäten haben sollten. Bei zehn davon erreichte ich am Freitagnachmittag niemanden mehr, der mit Bettenbelegung zu tun hatte oder sonstwie entscheidungsbefugt war, und wurde auf Montagvormittag vertröstet. Bei sieben Einrichtungen erreichte ich einen Entscheidungsträger mit Mobiltelefon im Auto oder im Supermarkt und bekam, mehr oder weniger empathisch, eine zügige Absage. Immerhin drei Ansprechpartner machten sich ernsthaft Gedanken darüber, ob und wie sie uns helfen könnten, zwei davon riefen mich sogar nach kurzer Bedenkzeit oder Rücksprache ihn ihren Häusern zurück. Beide konnten uns schließlich einen Platz in einem Doppelzimmer anbieten, beide leider erst ab Sonntag.

Inzwischen waren meine Mutter und mein Bruder auch angekommen. Meine Mutter war total kaputt, hungrig wie ein Wolf und aufgeregt wie ein Kindergartenausflug. Mein Bruder sah aus wie ein Zombie und murmelte etwas von „gerne mal nach Hause und Zähneputzen“. Ich verstand das als vorsichtige Umschreibung für „lasst mich in Ruhe, mindestens 48 Stunden lang“. Verständlicherweise, er war jetzt seit fast 24 Stunden mit meiner Mutter zusammen.

Die Lage war ernst. Ein Kurzzeitpflegeplatz ab Sonntag würde zwei weitere Nächte mit meiner Mutter in ihrer Wohnung bedeuten. Ich hatte ernsthafte Zweifel, dass wir diese unfallfrei überstehen könnten. Mittlerweile war es so spät, dass ich gar nicht erst versuchte, ambulante Pflegedienste oder die Diakonie anzurufen. Statt dessen probierte ich es bei einer Nachbarin meiner Mutter, die ich zwar nicht gut kannte, von der ich aber wusste, dass sie Altenpflegerin ist und verschiedene Jobs macht und sehr viele Leute kennt. Ich fragte sie, ob sie jemanden wisse, den wir kurzfristig als Nachtwache engagieren könnten. Sie überlegte kurz (wahrscheinlich musste sie erstmal vollständig aufwachen) und bat mich, ihr eine Stunde Zeit zu geben. Sie werde tun, was sie könne.

Eine Stunde. Konnten wir uns leisten, diese zu verlieren, falls bei den Überlegungen der Nachbarin nichts herauskommen sollte? Doch, beschloss ich. Sie war eine reale Person, die wir kannten, tatkräftig und empathisch. Alles in allem unsere beste Chance, da war ich sicher. Wir würden auf ihre Rückmeldung warten.

Eine Atempause bekamen wir trotzdem nicht. Als ob wir nicht schon genug zu tun und zu bedenken hätten, klingelte es unentwegt an der Tür und mehrere reizende, aber völlig nutzlose Freundinnen meiner Mutter, die uns vorher schon am Telefon Zeit und Nerven geraubt hatten, kamen vorbei, brachten Blumen oder die vom Mittagessen übriggebliebenen Kartoffeln. Und natürlich gute Ratschläge, mit denen im weiteren Verlauf nichts anzufangen war. Da meine Mutter nach wie vor am Verhungern war, riefen wir eine weitere, etwas praktischer veranlagte Freundin an und baten sie, uns aus einem Restaurant eine kleine Mahlzeit für sie vorbeizubringen.

Mein Bruder saß am Esstisch und sah aus, als würde er jeden Moment einschlafen, wenn er nicht meine Mutter im Auge behalten müsste, die immer mal wieder versuchte aufzustehen, weil sie ein bisschen aufräumen wollte. Oder ins Badezimmer musste. Oder eine Haarspange suchen.

Die Nachbarin rief wieder an, obwohl erst eine halbe Stunde um war, und sagte: „Ich muss das jetzt fragen: Wenn ich jetzt einen Heimplatz für heute Abend hätte, würde deine Mutter da auch wirklich hingehen wollen?“

Ich wiederholte die Frage laut für meine Mutter, die gerade erschöpft vor mir in einem Sessel saß, und zum Glück antwortete sie nicht irgendwas von Abgeschobenwerden oder Erstnochaufräumenmüssen, sondern sagte laut und deutlich: „Ja.“ Aus dem Hintergrund meinte ich meinen Bruder zu hören, der sagte: „Wenn sie nicht will, nehme ich den Platz!“, aber vielleicht habe ich mir das auch nur eingebildet.

Die Nachbarin sagte, sie würde sich gleich wieder melden, und es klingelte an der Tür, wo die Freundin mit dem Essen für meine Mutter stand. Etwas später klingelte es wieder und da stand sie nun, die beste Nachbarin von allen, und hatte einen Heimplatz für meine Mutter. Ab sofort. In einem Seniorenheim in einer Kleinstadt noch zwanzig Kilometer weiter draußen vor der Stadt, aber wir könnten sofort kommen! Alle Formalitäten hätten Zeit bis Montag.

Halleluja! Ich küsste abwechselnd meine Mutter, die Nachbarin und die Freundin mit dem Essen. Meinen Bruder nicht, denn der hatte ja immer noch keine Gelegenheit gehabt, sich die Zähne zu putzen. Außerdem wollte er jetzt, wo sich eine Lösung abzeichnete, dringend nach Hause. Ich stimmte zu, meine Mutter auch alleine und per Taxi in ihr neues Quartier bringen zu können, so dass er sich endlich absentieren konnte.

Später fuhr uns dann die Freundin, die uns das Essen für meine Mutter gebracht hatte, raus in die Pampa. Meine Mutter war so kaputt, dass sie im Auto fest einschlief. Wir hätten sie bei unserer Ankunft fast nicht wieder wachgekriegt und hatten unsere liebe Mühe, bis wir sie dann in ihr neues Bett in einem Doppelzimmer mit einer anderen Dame, die dauerhaft in der Einrichtung lebte, verfrachtet hatten. Als ich nach fünf Minuten mit der verantwortlichen Pflegerin wieder dorthin kam, schlief sie so fest, dass ich mich gar nicht mehr verabschieden konnte. Ich war heilfroh, dass ich nun doch wieder nach Hause in mein eigenes Bett und zu meinen hungrigen Katzen, die sicher schon wieder ganze eingefallen aussahen, konnte.

Das war der Freitag vor einer Woche. Heute ist der erste Advent. Meine Mutter befindet sich noch immer in dem Doppelzimmer in der Pampa. Sie hat sich, dem Himmel sei Dank, etwas beruhigt. Vielleicht ist es ganz gut, dass sie so weit weg von zu Hause ist: So besteht keine Chance, dass sie zwischendurch mal eben in ihre Wohnung geht, um sich eine Nagelschere zu holen, und auch ihre reizenden, aber nutzlosen Freundinnen brechen nicht zu jeder Tages- und Nachtzeit über sie herein sondern melden ihre Besuche vorher an. Der Arm wurde am Donnerstag geröntgt, hat sich nicht verschlechtert und wir hoffen noch immer, dass sie ohne Operation davonkommen wird. Der Bluterguss rund um die gebrochene Nase rutscht im Gesicht langsam nach unten und hat jeden Tag eine andere Farbe. Wir sind uns darüber einig, dass sie in dem Heim bleiben muss, bis sie alleine ins Bett und wieder raus kommt (und zwar ohne Probleme) und bis sie wieder alleine auf die Toilette gehen kann. Alles andere lässt sich dann ja hoffentlich mit ambulanten Pflegediensten und guten Freunden abdecken.

weihnachtsolga

Heute ist der erste Advent. Eigentlich wollten mein Freund und ich jetzt in Berlin sein und mit Freunden Plätzchen backen. Stattdessen liegt mein Freund mit einer üblen Erkältung bei sich zu Hause im Bett und ich bin heut eigentlich auch nur aufgestanden, um diesen Blogpost zu schreiben. Zwar bin ich nicht erkältet, aber so kaputt wie schon lange nicht mehr. Ich war gestern bei meiner Mutter, heute fährt mein Bruder mit Frau und Tochter zu ihr. Ich werde den ersten Advent also mit meinen beiden sehr hungrigen Katzen und den Gilmore Girls feiern. Und Stollenkonfekt. Vielleicht im Bett. Da sehe ich auch nicht, wie dreckig Küche und Badezimmer sind. Meine Mutter wird wieder gesund. Die Freunde in Berlin besuchen wir dann eben im Januar. Wenn dann keiner mehr Lust auf Plätzchen hat, backen wir eben Pizza.

Draußen scheint die Sonne, aber das ist sicher wieder nur so ein Lockangebot und wenn ich mich jetzt anziehe und rausgehe, fängt es an zu hageln oder so.

Ich wünsche Ihnen einen schönen ersten Advent. Tun Sie sich (und vielleicht auch anderen) was Gutes, wenn man Sie lässt. Lassen Sie sich nicht hetzen. Selbstgebackene Plätzchen sind toll, aber man kann auch Stollenkonfekt, Dominosteine und Lebkuchen kaufen. In sehr anständiger Qualität.

 

 

 

 

 

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