Zum zweiten Todestag: Lieber Papa.

Lieber Papa,

nun bist du seit zwei Jahren tot. Zwei Jahre, das ist ja eigentlich keine lange Zeit, also im Vergleich zum Beispiel zu 80 Jahren oder 50. Ich kann mich auch noch sehr gut an das Leben vor deinem Tod erinnern, das ja viel länger als zwei Jahre gedauert hat. Trotzdem… die Zeit, in der wir Dinge gemacht haben, an deren Planung du noch beteiligt warst oder die du sogar begonnen hattest, ist mehr oder weniger vorbei. Mit fast allen Angelegenheiten, mit denen ich mich zurzeit beschäftige und beschäftigen muss, hattest du nicht mehr zu tun.

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„Sonntags gehört der Papa der Familie.“ – „Ja, ich weiß: Hoch die Hände, Wochenende!“

Manchmal überlege ich, wie es dir wohl ginge, wenn du noch bei uns wärest und miterleben dürftest/müsstest, wie die Frau, mit der du über fünfzig Jahre verheiratet warst und die du so gut kennst, sich verändert, ja verwandelt. Nicht zu ihrem Vorteil. Krebs ist ein Arschloch, das hast du ja am eigenen Leib erfahren, aber Demenz ist auch kein Ponyhof. Wahrlich nicht. Wie du zu diesen Entwicklungen stehen würdest und ob du vielleicht geahnt hast, dass diese Problematik auf Mama und uns zukommen würde, können wir nicht wissen. Wenn, dann hast du diese Gedanken jedenfalls nicht mit uns geteilt.

Vielleicht, so denke ich auch manchmal, wäre Mamas demenzielle Erkrankung nicht so schnell und so schubhaft vorangeschritten, wenn du nicht diesen blöden Krebs bekommen hättest. Das soll jetzt nicht wie ein Vorwurf klingen, aber ich überlege oft, ob die vielen großen und kleinen Veränderungen, zu denen sie aufgrund deiner Krankheit und deines Todes gezwungen war oder gezwungen zu sein glaubte, die Entwicklung ihrer eigenen Erkrankung wohl beschleunigt haben könnten.

Wenn du weiter für sie hättest da sein können und ihr die ohnehin ungeliebten praktischen Dinge des Lebens weitgehend abgenommen hätten, wären Mamas Schwierigkeiten, den Alltag zu bewältigen, wahrscheinlich noch lange nicht so auffällig geworden, dass irgendjemand sie zum Neurologen geschickt hätte. Unpraktisch veranlagt, tüdelig und komplett ohne Orientierungssinn war sie ja immer. Mit dir an ihrer Seite war das aber nicht mehr als eine Fußnote ihrer Persönlichkeit; du gabst ihr den Rückhalt und die Freiheit, das zu sein, was sie eigentlich ausmacht: Einfühlungsvermögen, Kommunikationstalent und die Fähigkeit, andere Menschen zu ermutigen, mit sich selbst ins Reine zu kommen.

Auf diese Eigenschaften kann Mama mittlerweile nur sehr eingeschränkt und manchmal auch gar nicht mehr zurückgreifen. Fast immer ist sie viel zu angespannt und zu sehr mit ihren aktuellen Befindlichkeiten befasst, um sich auch nur nach dem Befinden ihres Gegenübers zu erkundigen. Außerdem sind tiefgehende und weiterführende Gespräche für sie (und mit ihr) recht anstrengend und dürfen nicht zu lange dauern, sonst erlahmt ihre Konzentrationsfähigkeit. Darüber hinaus kann es passieren, dass sie am nächsten Tag schon einen Großteil dessen, was man mit ihr besprochen hat, nicht mehr oder nur recht verschwommen erinnert. All das aber, was sie nur verschwommen erinnert, beschäftigt offenbar ihr Unterbewusstsein so sehr, dass sie immer wieder darüber reden möchte. Das führt dann zumindest in meinem Fall dazu, dass ich irgendwann denke: Hätte ich doch gar nicht erst mit dem Thema angefangen!

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„Wieso soll ich denn Laufen lernen? Reicht es nicht, dass ich sprechen kann und ein Taxi bestellen?“

Mal angenommen, du wärest nicht tot… Hätte Mama überhaupt von sich aus vorgeschlagen, in ein Seniorenheim zu ziehen? Vermutlich nicht. Ihr säßet nach wie vor in dem Reihenhaus, das langsam um euch herum zu bröckeln anfängt und merktet, wie das Leben langsam immer beschwerlicher wird. Dass du Mama vorschlagen oder gar drängen würdest, in ein Heim zu ziehen, schließe ich mal ganz klar aus. Das wäre nicht deine Art.

Meine Art ist es auch nicht – und trotzdem hoffe ich gerade jeden Tag sehr intensiv, dass das schöne Heim, das Mama sich selbst ausgesucht hat, endlich anruft und einen passenden Platz für sie anbietet. Erstmal nur zum Probewohnen, aber wir hoffen eigentlich alle, dass ihr das dann so gut gefällt, dass sie gleich ganz dort bleibt. In ihrer Wohnung, die du ja auch nicht mehr mitbezogen hast, ist sie einfach von morgens bis abends überfordert. Sie kann auch nicht mehr gut allein sein bzw. sie braucht eigentlich immer jemanden in ihrer Nähe, den sie bei Bedarf ansprechen und auch in ihrem Sinne einsetzen kann.

Mit Einsetzen meine ich möglicherweise Herumkommandieren. Keine Ahnung, ob sie das mit dir auch versuchen würde. Von mir fordert sie ständig irgendwas, Antworten, Aktionen, Zusicherungen und Erledigungen. Irgendwas ist immer – wenn sie nichts Neues zu bieten hat, wärmt sie alte Geschichten auf, weil sie sich leider nicht mehr daran erinnert, dass wir diese eigentlich abschließend geklärt hatten.

Oft ruft sie mich mehrmals am Tag an und setzt mich mit einem Thema unter Druck, das ihr gerade wieder auf der Seele liegt. Mich stresst das vor allem, weil wir eine identische Unterhaltung meistens schon letzte Woche geführt haben. Und vorletzte Woche auch. Bis ich ihr das klar gemacht habe und auch die Ergebnisse dieser Gespräche, sind schon mindestens zehn Minuten vorbei, ich schweißgebadet und mit einem Puls von 180.

So habe ich es am Donnerstag auch nicht mehr geschafft, sie zu fragen, ob sie eigentlich weiß, dass das dein Todestag ist. Vielleicht war ich auch nur zu feige bzw. hatte Angst vor ihrer Antwort – jedenfalls musste ich, da sie mich ja wie meistens im Büro angerufen hat, das Gespräch beenden, weil Arbeit reinkam. Und hatte dann keinen Nerv mehr, sie noch einmal zurückzurufen. Abends hörte ich das dann, dass J. sie aber angerufen und an die Bedeutung des Tages erinnert hatte – als treuer Bruder wollte er sich später dann wohl auch vergewissern, dass ich dich nicht vergessen habe. Fand ich sehr aufmerksam von ihm, aber wir haben dann mehr über die Bundestagswahl (die du zwar verpasst, aber bei der du nichts verpasst hast) gesprochen. Immerhin planen wir nun, mal wieder zu dritt mit Mama essen zu gehen. Vielleicht sogar an deinem Geburtstag nächste Woche. Das möchte sie natürlich gerne, auch wenn das keine Garantie dafür ist, dass sie dann auch tatsächlich Freude an diesem Unternehmen hat.

Was mich nun wieder an das letzte große Familienessen, das wir gemacht haben, als du schon im Hospiz warst, erinnert. Auf das wir uns so gefreut hatten und bei dem dann alles schiefging. Bei dem du irgendwie realisiert hast, dass du das eigentlich alles nicht mehr kannst und nicht mehr brauchst, weil du längst auf einem Weg heraus aus diesem Leben mit Verabredungen und Restaurantbesuchen bist. Ich habe etwas länger gebraucht, um das zu kapieren, aber es traf mich dann auch mit unvermittelter Wucht. Es fiel mir schwer, nicht mehr kontrollieren und optimieren zu wollen… und noch schwerer war es, zu akzeptieren, dass andere Menschen die Dinge des Lebens in ihrem eigenen Tempo kapieren und umsetzen. Oder eben auch nicht. Und dass ich darauf wenig oder gar keinen Einfluss habe.

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Weihnachten hätte so schön sein können. Wenn man mich nicht gezwungen, dieses ekelhafte kratzige Schottenkleid zu tragen.

Dieses Wissen kommt mir jetzt im Umgang mit Mama und ihrer Situation natürlich sehr zugute. Trotzdem ist das Ganze eine Gratwanderung. Einerseits will sie die Verantwortung für die lästigen Dinge des Lebens gerne auf andere abwälzen und mit den anfallenden Fragen am liebsten nicht behelligt werden. Trotzdem ist sie überempfindlich, wenn sie den Eindruck gewinnt, dass jemand, der gerade – möglicherweise widerwillig – Dinge für sie regelt, weil es sich eben so ergibt, dabei auch mal eine Entscheidung für sie trifft, die sie vielleicht anders getroffen hätte. Oder sie glaubt auch nur, in eine Entscheidung nicht einbezogen worden zu sein, weil sie vergessen hat, dass man lange und ausführlich über die Optionen gesprochen hat.

Ich weiß nicht, wie du mit dieser Situation umgehen würdest. Geduld war ja nun nicht gerade deine große Stärke und Sachverhalte mehr als dreimal erklären auch nicht. Trotzdem würdest du, da bin ich sicher, auch versuchen, Mama nicht in ihrer Selbstbestimmung zu beschränken und ihr stattdessen so viel Entscheidungsfreiheit wie möglich zuzugestehen. Ich versuche das auch, mal mehr, mal weniger erfolgreich. Dabei hoffe ich, auch in deinem Sinne zu handeln. Und dich gut genug gekannt zu haben, um mir vorstellen zu können, wie du jetzt fühlen und handeln würdest. Nicht weil ich glaube, das dir oder Mama schuldig zu sein. Aber weil es mir eben auch hilft, meinen eigenen Standpunkt zu finden und diesen dann zu vertreten.

Zwei Jahre ohne dich. Das ist schon eine lange Zeit, aber eben nicht viel im Vergleich zu den fünzig Jahren vorher, in denen du fast immer für mich da warst. Fünfzig Jahre, in denen ich genug gelernt und ausprobiert habe, um jetzt eine reelle Chance zu haben, in einer schwierigen Situation das Richtige zu tun. Hoffentlich. Halt mir die Daumen.

Ich denke an dich und schicke Grüße!
Bettina

1 Kommentar

  1. Puh. Tröstlich, dass das auch andere kennen und Teilen. Hilft mindestens mir gerade mindestens etwas. Auch wenn ihn unserem „Fall“ der Alkohol erst (wahrscheinlich) den Krebs meiner Mutter auslöste und dann die Demenz, mit der sich und andere ihr Mann (und daher auch mich) seit diverser Zeit herum plagt. Plagt er sich? Es plagt mich. Ich hole mir Hilfe. Habe ich mir fest vorgenommen. Hoffentlich schaffe ich es. Danke für’s Veröffentlichen. Iva

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