‟Kommen Sie rein”, sagt die Bestatterin freundlich und winkt uns durch die offene Tür. ‟Dies ist der Weg für die Lebenden. Später zeige ich Ihnen noch den anderen Weg, den, den die Verstorbenen hier im Haus machen.”
Wir treten ein, neugierig und auch ein bisschen nervös zumeist. Die Bestatterin, eine kleine Frau, die gleichzeitig Energie und Gelassenheit ausstrahlt, sieht eigentlich ganz normal aus. Aber dieses Haus ist ja nicht nur ein Bestattungsinstitut, sondern viel mehr: Das Lotsenhaus Hamburg (das zum Hospiz Hamburg Leuchtfeuer gehört) besteht aus den drei Komponenten Bestattung, Bildung und Trauerbegleitung mit dem Ziel, Menschen in der Situation des Abschieds und der Trauer zu unterstützen.
‟Hier auf dem Tisch habe ich Getränke und Kekse für Sie vorbereitet”, erklärt uns die Bestatterin, Frau F., nachdem wir unsere Garderobe verstaut haben und uns aufmerksam um sie scharen. ‟Wenn Sie so einen ähnlichen Tag hatten wie ich, können Sie das jetzt vielleicht brauchen. Und außerdem kenne ich das aus Ihrem Hospiz, dem Helenenstift, ja so. Wenn ich nämlich privat Menschen habe, die in ein Hospiz gehen, dann bringe ich sie nicht im Hamburg Leuchtfeuer unter, sondern im Helenenstift. Da kann ich nämlich auch mal Angehörige sein, also die Seite wechseln. In dem Haus, für das ich arbeite, zwischen Kollegen, ist das nicht so einfach.”
Klingt einleuchtend, finde ich. Wer den ganzen Tag auf professionelle Weise mit Tod und Trauer zu tun hat, ist natürlich nicht davor gefeit, in seinem Privatleben auf dieselben Themen zu stoßen. Und dann privat sein zu dürfen und den professionellen Umgang anderen Menschen, denen man vertraut, zu überlassen, ist mit Sicherheit hilfreich und notwendig, um wahrhaftig und sich selbst treu bleiben zu können.
Während ich mich in dem großen Raum umsehe und mir einen Platz suche, bewegen mich schon hundert verschiedene Gedankengänge. Wahnsinn. Dass ich eigentlich, offenbar genauso wie unsere Gastgeberin, schon einen langen Tag hinter mir habe und müde bin, ist wie weggeblasen. Zu interessant ist es hier.
Es ist Donnerstag und der Tag unseres monatlich stattfindenden Austauschabends, der normalerweise in ‟unserem Hospiz”, dem Helenenstift, stattfindet, uns heute aber als Exkursion in die Räume des Lotsenhauses führt. Viele meiner ehrenamtlichen Kollegen haben die Einladung angenommen und sind genauso gespannt wie ich, was dieser Abend wohl bringen wird.
‟Wir sind ein ganz normales Bestattungshaus”, sagt Frau F., aber schon sehr bald wird deutlich, dass es nicht ganz so ist: Hier wird die Planung und Durchführung einer Bestattung weniger als bezahlte Dienstleistung gesehen, so wie man es üblicherweise von Bestattungsinstituten kennt. Statt dessen geht es um die Begleitung von Menschen, und zwar sowohl der Verstorbenen wie auch ihrer Zugehörigen. Es geht um Abschied, den notwendigen und bestmöglichen, und die Chance, durch eine individuell und persönlich gestaltete Totenfürsorge in einen gesunden Trauerprozess einzusteigen. Natürlich kosten auch im Lotsenhaus Bestattungen erschreckend viel Geld und natürlich werden auch Dienstleistungen wie die Abmeldung bei der Krankenversicherung oder das Beschaffen von Formularen übernommen. Aber im Vordergrund steht immer die Frage: Was brauchen die Menschen? Was hätte der oder die Verstorbene gewollt und was ist gut und wichtig für die Zugehörigen?
Wir werden in den Keller geführt und dürfen uns Särge und Urnen anschauen. Viele Fragen werden gestellt. Nicht alle Antworten von Frau F. sind appetitanregend – sie sagt auch immer, wir sollen sagen, wenn es uns zu heftig wird! – aber ich vermute, die Realität ist wie fast immer leichter auszuhalten als meine Ausgeburten unserer kollektiven Fantasie. Die Luft in dem relativ kleinen Keller wird bald schlecht und ich verdrücke mich in den Nebenraum, wo ich dem Frage- und Antwortspiel nur noch bruchstückweise folgen kann. Ist schon okay, sage ich mir, ich weiß eigentlich auch schon genug und bin mir so oder so sicher, dass ich eine Erdbestattung will und auf keinen Fall ins Krematorium. Ich hatte schon immer Angst vor Feuer und mich zu verbrennen, wenn ich mich eines Tages nicht mehr wehren kann, wäre nicht in Ordnung.
Das habe ich zwar schon vielen Menschen gesagt, aber eines Tages werde ich es auch noch offiziell und schriftlich fixieren. Bestattungsvorsorge nennt sich das – dann muss niemand sich später fragen, was ich nun eigentlich wirklich gesagt und gewollt habe.
Ich denke an meinen derzeitigen Hospizgast, den Mann ohne Angehörige und Freunde. Ob er für seine Bestattung vorgesorgt hat, vielleicht auch schon bezahlt? Oder hat er sich da nicht rangetraut und das zuständige Ortsamt muss später mühsam nach ‟Bestattungspflichtigen” suchen, bevor dann, wenn sich wirklich niemand findet, der sich für die ‟herrenlose Leiche” zuständig fühlt, eine ‟Bestattung von Amts wegen” angeordnet wird? Interessiert mich diese Frage genug, um sie dem Gast gegenüber zu stellen? Vermutlich nicht, er würde es sicher übergriffig finden. Und ich auch.
Wir sind nun wieder zurück aus dem Keller und Frau F. Zeigt uns die Nebenräume, eine durch große Flügeltüren verbundene Zimmerflucht von Versorgungs-, Abschieds- und Besprechungsraum. Alles eher kleine Räume, gemütlich und mit intimem Charakter. Der Kühlraum, der hinter einer weiteren zweiflügeligen Tür wartet, bleibt uns aber erspart.
‟Angehörige können hier Abschied nehmen, wie es für sie richtig ist. Niemand muss beim Waschen und Ankleiden eines Verstorbenen helfen oder auch nur zuschauen”, erklärt Frau F., ‟aber sie können, wenn es für sie wichtig ist. Manchmal entwickelt sich dieser Wunsch auch erst etwas später, auch das ist in Ordnung.”
Es ist gemütlich hier, aber auch nüchtern. Und sehr normal. Der Tod wird als Teil des Lebens erfahrbar und es gibt wohl nichts, was man nicht empfinden, denken oder fragen darf. Die Bestatter des Lotsenhauses begleiten, beantworten und unterstützen. Sie haben Ideen und Lösungsansätze. Sie lassen Zeit und Raum. Sie halten aus. Sie stoßen auch selbst mal an Grenzen, aber das erzählt Frau F. Vielleicht auch eher uns und nicht ihrer Kundschaft. Vermute ich wenigstens.
Als unsere Führung dann beendet ist und alle Fragen beantwortet sind, werden wir in den Abend entlassen. Frau F. Wird von ihrer Kollegin und einem Feierabendbier erwartet, was ich ihr von Herzen gönne. Mir geht vieles im Kopf herum, große Themen, natürlich. Aber ich merke, dass ich entspannt und ohne Angst über diese Themen nachdenken und später zu Hause auch noch im Internet herumlesen kann. Das ist neu für mich und ich freue mich darüber.16