Meine Mutter hat an sehr viele Dinge, die ihr früher sehr wichtig waren, keine Erinnerung mehr. Auch nicht, wenn man ihr Hinweise gibt und ihr Brücken baut. Manche Inhalte sind einfach aus ihrem Hirn gelöscht – oder, um es genauer zu sagen: Teile ihres Hirns scheinen gelöscht zu sein. Das ist für Freunde und Familie, die ja auf viele Jahre gemeinsamer Geschichte mit ihr zurückblicken, oft sehr eigenartig und betrüblich. Andererseits ist es so für uns sehr viel einfacher, als es noch vor einigen Jahren war, als meine Mutter sich ihrer (Lebens-)Themen noch sehr bewusst war, auch wenn sie sich von den meisten Details komplett überfordert fühlte. Heute hat sie vieles einfach vergessen, ohne spürbar darunter zu leiden.
Es gibt aber auch Dinge, die sie nicht völlig vergessen hat, deren Bedeutung zwar diffuser aber nicht unbedingt geringer geworden ist. Zu diesen Dingen gehört Weihnachten. Zu groß war und ist wohl die Wichtigkeit dieses Festes in ihrem Leben und auch zu tief in ihrem ganzen System verankert, als dass der Ausfall der Hirnleistung hier eine vollständige Löschung aus ihrem Leben zur Folge hätte. Das mag mit der Kriegs- und Nachkriegskindheit zu tun haben, mit schweren Jahren als Halbwaise, älteste von drei Schwestern, und mit einer Mutter, die die Härten des Lebens tapfer auf sich nahm und ihren Töchtern gegenüber niemals beschönigte: Es gab in diesen Jahren nicht allzu viel, worauf sie sich freuen durften. Zu groß waren die Angst, die Armut und der Druck, trotz der widrigen Umstände so schnell wie möglich wieder in ein abgesichertes bürgerliches Leben zu gelangen.
Weihnachten war eine Insel des Lichts, der Wärme, des Essens in ausreichender Menge und der Gemeinsamkeit. Es wurde gesungen, gebacken, gebastelt, krippengespielt, geschenkt und erzählt. Man verbrachte Zeit miteinander und versuchte, zumindest für kurze Zeit, die guten Seiten des Lebens zu sehen, die Hoffnung zu nähren und ein Miteinander außerhalb des anstrengenden Alltags zu leben.
Meine Mutter freut sich noch heute auf Weihnachten, sobald jemand dieses Wort in ihrer Gegenwart in den Mund nimmt. Das ist meistens an ihrem Geburtstag im August erstmalig der Fall. Ab da fragt sie eigentlich in jeder Unterhaltung nach Weihnachten und was da so geplant ist an Feierlichkeiten.
Auch in diesem Jahr war es so, selbstverständlich. Es gab keine richtige Geburtstagsfeier, natürlich nicht, aber immerhin durfte meine Mutter an diesem Tag vier Besucher in ihrem Zimmer im Heim empfangen, nacheinander versteht sich: Zunächst kamen ihre beiden jüngeren Schwestern für eine halbe Stunde und dann mein Bruder und ich. Bis auf meine Mutter alle mit Mundschutz und natürlich auch mit Abstand und offenen Fenstern. Es war umständlich und hektisch und unbefriedigend für die Besucher, aber meine Mutter freute sich. Sie verstand, dass wegen Corona keine richtige Feier möglich war und dass wir lieber nicht zum Kuchenessen ins Café an der Ecke mit ihr wollten, und sie akzeptierte diese Entscheidung. Sie äußerte aber die Hoffnung, dass Weihnachten wieder alles gut sei und wir richtig miteinander würden feiern können.
Mein Bruder und ich waren beide pessimistisch oder realistisch genug, um schon im August, als die Lage in Hamburg wirklich entspannt war, davon auszugehen, dass diese Entspannung im Dezember vorüber sein würde. Wir versprachen unserer Mutter also nichts außer: Wir wollen gerne mit dir Weihnachten feiern, aber es ist noch zu früh, um konkret etwas zu planen. Wir müssen mal abwarten, was im Dezember möglich und erlaubt ist.
Na ja. Der Herbst kam und mit ihm die erst langsame und dann viel zu schnelle Verschlechterung der allgemeinen Lage. Auch weniger pessimistischen/realistischen Menschen wurde nach und nach klar, dass Weihnachten im Jahr 2020 im Schatten von Corona stehen würde… und dass dieser Schatten groß und dunkel zu werden versprach.
Immerhin: Das Heim, in dem meine Mutter lebt, hatte ein gutes Hygienekonzept entworfen und setzte alles daran, dieses auch umzusetzen. Gar nicht so einfach bei 200 Bewohnern, von denen ein erheblicher Anteil demenziell erkrankt und gleichzeitig mobil ist. Mit Zugehörigen und Besuchern, die zum Teil schnell überfordert waren von den ganzen neuen Anforderungen. Nicht zu vergessen die Scharen von Mitarbeitern, die ja schon im Frühjahr, als wochenlang ein prinzipielles Besuchsverbot für alle Senioreneinrichtungen galt, die ihnen anvertrauten Menschen mit großem Einsatz versorgt, bespaßt und getröstet hatten. Für sie galt jetzt noch sehr viel mehr als für uns Normalos: Schützt euch auch in eurem Privatleben, steckt euch nicht an, werdet nicht krank und schleppt auf gar keinen Fall das Virus in die Einrichtung. Was über einen längeren Zeitraum echt viel verlangt ist, finde ich.
Wunderbarerweise hat das Heim es monatelang geschafft, coronafrei zu bleiben. Ein kleines Wunder, keine Frage. Viele andere Senioreneinrichtungen in Hamburg und anderswo, die nichts schlechter gemacht haben, schafften dies nicht. Im Oktober hatte sich einmal eine Mitarbeiterin infiziert, aber sie wurde schnell aus dem Verkehr gezogen und hat niemanden angesteckt. Eine Woche durften keine Besucher ins Haus, aber dann war alles wieder okay.
Anfang Dezember wurden uns Besuchern endlich die schon lange angekündigten Schnelltests angeboten. Halleluja. Im Innenhof wurde ein kleines Zelt errichtet und alle Besucher, die wollten, konnten sich vor ihren Besuchen testen lassen. Konnten, nicht mussten. Die Tests waren freiwillig. Und sie wurden von sehr vielen Besuchern nicht genutzt, warum auch immer. Mir wollte nicht in den Kopf, aus welchem Grund man dieses Angebot nicht nutzen wollen könnte, aber so war es.
Trotzdem, mein Bruder und ich waren sehr erleichtert und planten unsere Besuche nun so, dass wir unsere Mutter nur mit einem frischen negativen Schnelltest besuchten. Nicht, weil wir in unserem sonstigen Leben nicht so vorsichtig wie möglich wären, ganz sicher nicht. Wir hatten beide unsere Kontakte so weit wie möglich reduziert, hielten Abstand, lüfteten und gingen ohne Maske nicht mehr vor die Tür.
Für Weihnachten hatten wir nun auch einen recht unspektakulären Plan gemacht: Ich würde meine Mutter am Heiligabend besuchen, und zwar vor der Weihnachtsfeier im Wohnbereich, zu der dieses Jahr natürlich keine Zugehörigen eingeladen waren. Und vorher noch schnell einen Test machen. Mein Bruder, der mit Tochter und Gattin schon seit einer Woche in freiwilliger Selbstisolation war, würde sich auch am Heiligabend testen lassen, dann aber erst am 2. Feiertag meine Mutter zu einem kurzen Besuch zu sich nach Hause holen. Alles war besprochen und geplant. Kleine Mitbringsel standen bereit und ich hatte zwei große Tüten mit Süßigkeiten und Kaffeekassenzuschuss für das Heim gepackt, eine für den Wohnbereich meiner Mutter und eine für die Kollegen von Verwaltung und Empfang, die sich mit der Koordination unserer Besuche seit Monaten heftig ins Zeug legten.
Meine Mutter fragte immer wieder nach, wann denn nun endlich Weihnachten sei, und freute sich sichtlich.
Wir freuten uns auch und waren voller Hoffnung, denn für den Sonntag nach Weihnachten, den 27. Dezember, war der Beginn der großen Impfaktion gegen das Coronavirus angekündigt. Wir hofften inständig, dass das Heim meiner Mutter zu den ersten gehören würde, die von einem mobilen Impftrupp besucht werden würden.
Ich hatte sogar bei meinem letzten Besuch mit meiner Mutter über die Impfung gesprochen und war froh, dass sie ohne langes Überlegen oder Nachfragen oder Nichtverstehen sofort gesagt hatte: Natürlich möchte ich geimpft werden, das ist doch klar. So konnte ich die Einverständniserklärung, die mir wenige Tage vor Weihnachten in aller Eile zugeschickt wurde, frohen Herzens unterschreiben.
Wir hatten einen Plan und der Plan war gut. Bis uns am 23. Dezember, nachmittags um kurz vor drei, die Nachricht erreichte, dass eine Mitarbeiterin des Heims positiv getestet worden war. Das hieß, dass in den nächsten Tagen keine Besucher ins Haus durften und wir uns all unsere weihnachtlichen Pläne in die Haare schmieren konnten. Verdammt.
Gleichzeitig ging uns Post vom Heim zu, in der darauf hingewiesen wurde, dass die Tests für Besucher ab sofort verpflichtend seien. Endlich. Und fast rechtzeitig. Wobei… werden sie jetzt für die Mitarbeiter auch verpflichtend? Ich fände das sinnvoll, sehr sinnvoll.
Über die Feiertage gab es nur telefonischen Kontakt und auch davon nicht sehr viel, weil meine Mutter selbst keine Anrufe mehr zustande bekommt und auch oft nicht rangeht, wenn in ihrem Zimmer das Telefon klingelt. Die Mitarbeiter sind immer hilfsbereit, wenn man im Wohnbereich anruft, finden meine Mutter irgendwo und lassen sie dann auch kurz auf ihrem Diensttelefon telefonieren, aber so sind halt nur kurze Gespräche möglich. Immerhin trug sie unsere unfreiwilligen Absagen mit Fassung. Offenbar legten sich die Mitarbeiter sehr ins Zeug, ihren Bewohnern ein schönes Weihnachtsfest zu bereiten, und wir sind immer wieder froh, dass wir trotz der mühsamen und unschönen Wartezeit auf den Platz in genau diesem Heim gewartet haben. Die Schokolade für die Mitarbeiter wird ja wohl so lange halten, bis wir wieder ins Haus dürfen, davon gehe ich ganz fest aus.
Am Montag nach Weihnachten rief ich dann erneut im Heim an, natürlich in der Hoffnung, dass nun wieder alles gut sei und wir neue Besuchstermine würden machen können. Stattdessen erfuhr ich, dass inzwischen auch ein Bewohner positiv getestet worden sei. Zum Glück nicht im Wohnbereich meiner Mutter, aber natürlich steht auf Anordnung des Gesundheitsamtes das ganze Haus unter Quarantäne, und zwar bis zum 10. Januar. Ob in dieser Zeit zumindest die Impfungen stattfinden können, konnte mir noch niemand sagen, das erfahre ich dann wohl nächste Woche. Ebenso hoffentlich, dass alle weiteren Tests bei den Bewohnern und den Mitarbeitern negativ blieben.
Ihnen kann ich es ja sagen: Der Tag, an dem meine Mutter gegen Corona geimpft wird oder – noch besser – man uns glaubhaft versichert, dass sich der Impfschutz aufgebaut hat und sie nun gegen das Virus geschützt ist, das wird ein Feiertag. Schöner und größer und heller als Weihnachten und Ostern zusammen. Da holen wir dann all die ausgefallenen Feiern nach und singen zusammen: Glohohohohohohooooo Hohohohohoooo HohohohoGloria! In Excelsis Deo!
Ich drücke ganz doll die Daumen!!
Vielen lieben Dank.
Liebe Bettina,
Drücke alle Daumen, dass es klappt. Deine Mutter schlägt sich so tapfer.
Hoffen wir alle ,das 2021 ein besseres jahr wird.
Wünsche dir und den Fellnasen für 2021 Gesundheit und Glück.
2020 hat so furchtbar geendet wie es war. Am 31.12 ist meine Mama verstorben ( schwerer schlaganfall )und ich hatte keine Möglichkeit Abschied zu nehmen, wegen Corona. Bis ich endlich nach Deutschland gekommen wäre…..
Oh je, das ist ja furchtbar traurig. Mein herzliches Beileid. Ich wünsche dir und deinen Lieben viel Kraft in dieser Situation… und Hoffnung auf bessere Zeiten, die irgendwann ja kommen werden.
Alles Gute, fühl dich umarmt! <3
Liebe Bettina, ich hoffe inzwischen und bis in einer Woche ergibt sich nichts „positiv“ Neues, ich wünsche es Euch ganz, ganz fest! <3
Und wie gut, daß Euere Mutter das alles so tapfer hinnehmen kann.
Herzliche Grüße, Martina